9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Europa

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.03.2024 - Europa

Die Suwalki-Lücke. (Bild: NordNordWest,, CC BY-SA 3.0)


Der belarussische Autokrat Alexander Lukaschenko hat Videomaterial streuen lassen, das ihn (zusammen mit seinem adipösen Spitz) bei einer Militärübung zeigt, berichtet Friedrich Schmidt für die FAZ. Es geht bei der Übung um die "Suwalki-Lücke", jene enge Stelle zwischen Belarus, Litauen, Polen und Königsberg, die - so Schmidt - "die schwächste Stelle der Nato" sei. "Lukaschenko fragt, wie weit es von der belarussischen Grenze nach Königsberg ist. Sein Verteidigungsminister Viktor Chrenin antwortet, Luftlinie seien es 42 Kilometer, entlang der Grenze rund 90 Kilometer. 'Praktisch nichts', antwortet Lukaschenko, 'vergebens betragen sie sich so.' Wohl mit Blick auf die Zielsetzung der eigenen Militärübung sagt Lukaschenko dann zu dem verantwortlichen Kommandeur, Alexandr Naumenko: 'Aber gerade musst du den baltischen Republiken gegenüberstehen. Und du schnappst einen Teil Polens?' Einen 'kleinen Teil', stimmt Naumenko zu. Lukaschenko präzisiert: 'Den nordöstlichen.'"

Künftig sollen Migranten, die eingebürgert werden wollen, bei einem Einbürgerungstest auch Fragen zu Israel und zum Holocaust gestellt werden. Dinah Riese findet das in der taz eher peinlich: "Solche Fragen sind geeignet, grundsätzliches Misstrauen gegenüber Menschen zu schüren, die eingebürgert werden wollen - und seien wir ehrlich: vor allem jenen gegenüber, die aus muslimisch geprägten Ländern kommen. Zur Sicherheit jüdischer Menschen in Deutschland aber trägt dieser Fragenkatalog nichts bei. Deutschland hat ein massives Antisemitismusproblem. Doch dieses zieht sich durch die gesamte Bevölkerung, ob arm oder reich, mit Hauptschulabschluss oder Doktortitel, mit oder ohne Migrationsbiografie."

Dass die AfD wie eine Agentur Wladimir Putins wirkt, war ja schon länger bekannt. Im Spiegel bringt nun eine Reportergruppe eine Recherche zum Internetmagazin Voice of Europe, das nicht nur Putin-freundliche Nachrichten im Netz streute, wie die tschechische Regierung herausgefunden hat: "Die tschechischen Behörden erheben aber noch härtere Vorwürfe gegen das Medienunternehmen und sein Netzwerk. So soll Voice of Europe auch als Vehikel zur verdeckten Finanzierung von Europawahl-Kandidaten gedient haben, die Moskau genehm sind. Nach Spiegel-Informationen soll das Geld entweder bei persönlichen Treffen in Prag bar übergeben oder per Kryptowährung transferiert worden sein. Von insgesamt mehreren Hunderttausend Euro ist die Rede." In den Berichten ist von Politkern aus verschiedenen EU-Ländern die Rede, die AfD wird ausdrücklich genannt, aber nicht einzelne Politiker.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.03.2024 - Europa

Wüssten die Westeuropäer, was die Russen über sie sagen, würden sie sich mehr Sorgen machen und aufrüsten, mahnt die litauische Schriftstellerin Kristina Sabaliauskaitė in der FAZ: "Europa hört nicht und liest nicht, was Russland und die Russen über sich und den Westen zu sagen haben. Wenn dann doch einmal eine Übersetzung vorliegt, hält Europa das für eine Übertreibung, einen Bluff, weil es zu verrückt scheint, um es für wahr zu halten. Etwa im Fall der Erklärung des russischen Propagandisten Wladimir Solowjow im russischen Staatsfernsehen, in der er gesagt hat, dass Deutschland irgendwann unter russischer Flagge stehen werde, dass die Russen wieder nach Berlin kommen, dieses Mal aber nicht gehen würden. Das ist kein Scherz - es ist eine Botschaft des Kremls an sein eigenes Volk und darüber hinaus ein aufrichtiger Wunsch vieler Russen, denen fast ein Jahrhundert lang in Schulen, durch Kino, Musik und Theater beigebracht wurde, Deutschland mit Faschisten und Feinden gleichzusetzen. Wenn die deutsche Öffentlichkeit nur die Sprachbarriere überwinden und in den düsteren Ecken der russischen sozialen Medien und Foren stöbern könnte, um die Stimmung der Gesellschaft gegenüber Deutschland zu spüren, wäre sie auf die eigene Sicherheit ernsthafter bedacht."

Die Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr warnt in der FR davor, Vorstöße in der Debatte um das Vorgehen im Ukraine-Krieg "moralisch abzukanzeln", wie das in der Vergangenheit geschehen ist. Die deutsche Öffentlichkeit müsse von ihrer Empörungshaltung abrücken und sich realistisch mit möglichen Kriegsszenarien auseinandersetzen. Sie fordert eine "Doppelstrategie", die militärischen Einsatz und politische Verhandlungen verbindet. "Beides gehört unbedingt zusammen: eine härtere Gangart gegenüber Russland einzuschlagen, auch eine Entsendung von Bodentruppen nicht auszuschließen - und zugleich die internationalen Verhandlungen mit Russland unter Regie des globalen Südens voranzutreiben. Nur wenn beide Strategien von Anfang an konsequent verschränkt werden, können sich ihre Schwächen ausgleichen. Trotz direkter Konfrontation ließe sich auch der Kontakt mit Russland ausbauen - und auf diese Weise Eskalationsdynamiken einhegen. Und zugleich ließe sich aus einer Position der militärischen Stärke der Boden für Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine ebnen - ohne Kiew in Fremdherrschaft zu zwingen."

Die Argumente des SPD-Abgeordneten Rolf Mützenich für das "Einfrieren" (unsere Resümees) des Ukraine-Kriegs werden nicht besser, konstatiert Matthias Naß auf Zeit Online. In einem Interview in der SZ führte Mützenich seine Überlegungen aus, die laut Naß auf zwei großen Fehleinschätzungen beruhen: Zum ersten hoffe Mützenich zu Unrecht auf China als Vermittler: "Beide, China und Russland, wollen die vom Westen geprägte internationale Ordnung überwinden. Zusammen stemmen sie sich der dominierenden Supermacht USA entgegen. Es liegt nicht im Interesse Xi Jinpings, Putin zu schwächen, indem er ihn zum Nachgeben in der Ukraine bewegt." Auch Korea als Vorbild für ein gelungenes "Einfrieren" anzuführen, sei Unsinn: "Zwar schweigen, bis auf vereinzelte Zwischenfälle, seit nunmehr sieben Jahrzehnten die Waffen. Doch politisch gelöst ist nichts. Seitdem sich Nordkorea Nuklearwaffen zugelegt hat, steigen die Spannungen wieder."

Bereits am 20. März hat eine Historikergruppe um Jan C. Behrends, Heinrich August Winkler und Martina Winkler einen Brief an den SPD-Parteivorstand verfasst, in dem sie eine Aufarbeitung der SPD-Russlandpolitik der letzten Jahrzehnte fordern, Rolf Mützenichs Äußerungen über das "Einfrieren" des Ukrainekriegs verurteilen und von Olaf Scholz eine klare Position gegenüber Russland fordern: "Wenn Kanzler und Parteispitze rote Linien nicht etwa für Russland, sondern ausschließlich für die deutsche Politik ziehen, schwächen sie die deutsche Sicherheitspolitik nachhaltig und spielen Russland in die Hände."

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In seinem aktuellen Buch "Die russische Tragödie - wie meine Heimat zum Feind der Freiheit wurde" zeichnet der russische Journalist Vladimir Esipov Russlands Weg in die Diktatur nach. Die Brutalität in Russland wird immer demonstrativer, sagt er im Spiegel Online-Gespräch zu den grausamen Bildern, die von den misshandelten Terrorverdächtigen kursieren, aber auch zur Forderung, die Todesstrafe in Russland wieder einzuführen: "Die Todesstrafe ist längst da: Bei Antiterroreinsätzen dürfen Sicherheitskräfte Verdächtige 'liquidieren', wenn sie glauben, dass diese Terroranschläge planen." Eine Wahlniederlage Putins hätte übrigens nichts geändert, meint er: "Am Ende geht es um ein politisches System ohne freie Medien, ohne freie Justiz, ohne freies Parlament. Um einen Staatsapparat, der Macht und Eigentum schon seit den Neunzigern in einer Hand bündelt. Es gibt in Russland keine Beamten, die Bestechung aus Überzeugung ablehnen. Es werden auch nicht wie in Deutschland aufwendig Steuern umverteilt. Selbst wenn Putin morgen zurückträte, müsste sein Nachfolger sich genauso benehmen, damit das Land regierbar bleibt."

Im Zeit-Gespräch hat der Nahost- und Terrorismusexperte Guido Steinberg wenig Zweifel daran, dass der afghanische IS-Ableger ISPK für das Attentat in Moskau verantwortlich ist. Weshalb gerade Russland, dass die Hamas hofiert, im Fadenkreuz dschihadistischer Terroristen steht, erklärt er damit, dass es zwischen Hamas und IS tiefe ideologische Differenzen" gibt. "Russland hingegen hat der IS schon vor über einem Jahrzehnt als Feind ausgemacht. Ein Grund dafür ist die massive militärische Unterstützung Russlands für das syrische Regime, ein anderer die Kriege in Tschetschenien seit den 1990er-Jahren. Deshalb gab es in der Vergangenheit schon Anschlagsplanungen des IS in Russland. Im Falle des ISPK kommt ein weiteres Motiv hinzu: Der ISPK ist ein Bündnis aus pakistanischen, afghanischen und zentralasiatischen Kämpfern, und gerade für die zentralasiatischen Kämpfer ist Russland ein wichtiges Feindbild, weil Russland die Regime in Zentralasien stützt. Dazu kommt, dass es in Russland viele Zentralasiaten gibt, allein rund eine Million tadschikischer Arbeiter zum Beispiel, und das macht das Land für den ISPK zu einem verhältnismäßig einfach zu erreichenden Ziel. Dschihadisten denken nicht ausschließlich ideologisch, sondern auch pragmatisch: Sie schlagen zu, wo sie können."

"Warum greifen die Terroristen jetzt an?", fragt Jörg Lau ebenfalls in der Zeit: "An Gründen und Motiven mangelt es ihnen selten. In der neuen Weltordnung, die sich gerade herausbildet, häufen sich jedoch vor allem die Gelegenheiten. Es gibt noch keinen guten Namen für diese globale Ordnung oder Unordnung, manchmal ist von einer multipolaren Welt die Rede - ohne feste Blöcke, ohne westliche Vorherrschaft, ohne amerikanischen Weltpolizisten. Das ist nicht per se schlecht. Eine gerechtere globale Machtverteilung wäre zu begrüßen. Doch wo Macht neu verteilt wird, da steigt auch die Risikobereitschaft der radikalsten Akteure. So war es bei der Hamas, als sie Israel überfiel; bei den Huthis, als sie Schiffe im Roten Meer attackierten - und nun offensichtlich beim ISPK, der Putins Fokussierung auf den vermeintlichen Feind Ukraine ausgenutzt hat. Die Einhegung der Gewalt ist die Aufgabe der kommenden Jahre. Sie wird umso schwieriger, weil der gefährlichste Akteur von allen, Wladimir Putin, selbst zum Terroristen geworden ist - zum Staatsterroristen."

Die schamlose Zurschaustellung der übel zugerichteten Terror-Verdächtigen in Moskau zeigt vor allem, was der russische Staat von Menschenwürde hält, meint Roland Bucheli in der NZZ. In den Medien kursieren neben den schlimmen Aufnahmen aus dem Gerichtssaal nun auch "weit schrecklichere Bilder, die auf staatliche Quellen zurückgehen müssen und über Telegram-Kanäle verbreitet wurden. Darauf sieht man unter anderem, wie einem Häftling sein abgeschnittenes Ohr in den Mund gestopft wird. (...) Unverfrorener könnte ein Staat der Weltöffentlichkeit nicht demonstrieren, dass ihm der Mensch, und sei er ein angeklagter Terrorist, nichts bedeutet. So wie das Individuum an der Kriegsfront bloß Kanonenfutter ist, so ist der Mensch an der Heimatfront und im Krieg der Bilder nur Material. Die Ikonografie des Schreckens kennt eine Fülle von Bildern von lebenden oder ermordeten Gefangenen, die sich ins kollektive Bildgedächtnis eingebrannt haben. Stets erzählen sie die gleiche Geschichte einer demütigenden Entmenschlichung."

Ohnehin haben Menschen aus Zentralasien in Russland unter rassistischer Hetze durch Politik und die Russisch-Othodoxe Kirche zu leiden, aber nach dem Anschlag durch vier mutmaßliche Attentäter tadschikischer Herkunft nehmen die Schikanen noch zu zu, berichtet Barbara Oertel in der taz: "Nicht nur Polizei und Sicherheitsdienste machen vermehrt Jagd auf Migrant*innen aus Zentralasien. Auch die Bevölkerung lässt ihre Wut an ihnen aus. In den sozialen Netzwerken kursieren Forderungen, Menschen aus Zentralasien in Massen zu deportieren oder sogar umzubringen. Doch bei Worten bleibt es nicht. So wurden Tadschik*innen angegriffen, von Vermietern aus ihren Wohnungen geworfen oder Taxifahrten wieder storniert, wenn sich herausstellte, dass der Fahrer Tadschike ist."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.03.2024 - Europa

Zwei Wochen vor dem "Palästina-Kongress" scheint die Stimmung in Berlin nervöser zu werden. Der Senat möchte die Veranstaltung am liebsten verbieten, bei Veranstaltern gab es Hausdurchsuchungen (aber angeblich nicht wegen des Kongresses), berichtet Erica Zingher in der taz. Die Liste der geplanten Redner ist finster. Da ist "zum Beispiel der Autor und Historiker Salman Abu Sitta. ... Wäre er jünger und würde er noch im 'Konzentrationslager Gaza' leben, hätte er auch einer von denen sein können, die den Zaun am 7. Oktober durchbrochen haben, schrieb er im Januar. Die systematische sexuelle Gewalt durch die Terroristen der palästinensischen Hamas sowie das Köpfen von Babys am 7. Oktober bezeichnete er als Falschinformation und üble Nachrede." Im Tagesspiegel berichtet Sebastian Leber.

"Nach dem Terror kommt noch einmal Terror", konstatiert Gustav Seibt im SZ-Feuilleton mit Blick auf die brutalen Bilder, die aus Russland von den misshandelten Verdächtigen nach dem Anschlag bei Moskau in Umlauf geraten sind: "Maximale Kälte und Mitleidlosigkeit signalisiert diese Form für solche Inhalte. ... Es sind Bilder buchstäblicher Gesetzlosigkeit, sie zeigen einen Zustand der Anomie. Wo geschlachtet wurde, wird weiter geschlachtet werden. Die Ästhetik dieser Bilder ist längst geläufig aus den vergangenen zwei Jahren des russischen Kriegs in der Ukraine. Er wurde von Anfang an begleitet von einer Flut privater oder privat daherkommender Gewalt- und Foltervideos, teils abgefangen aus dem Mobilfunkverkehr, teils absichtsvoll verbreitet in großen Telegram-Gruppen, faktisch also öffentlich. Dort sind sie zu allermeist bis heute verblieben, niemand machte sich die Mühe, sie zu löschen."

Könnte das Attentat in Moskau auch von Putin inszeniert worden sein? Es wäre nicht das erste Mal, dass Putin so verfährt, notiert Richard Herzinger in seinem Blog und erinnert an die höchstwahrscheinlich fabrizierten Attentate im Jahr 1999: "Während das Regime in Blitzesschnelle Tschetschenen als Täter beschuldigte, gingen viele in- und ausländische Experten und Aktivisten - allen voran der abtrünnige Geheimdienstagent Alexander Litwinenko und die Journalistin Anna Politkowskaja, die beide später von Putins Schergen ermordet wurden - davon aus, dass die Anschläge das Werk des Geheimdienstes FSB waren. Eine Einschätzung, die seitdem durch zahlreiche weitere Recherchen erhärtet wurde."

Für die FR hat Michael Hesse Reaktionen von Experten zum Anschlag in Moskau zusammengetragen, darunter Timothy Snyder, der keinen Zweifel daran hat, dass der Anschlag auf den "Islamischen Staat" zurückgeht: "'Russland bombardiert Syrien seit 2015. Russland und der Islamische Staat konkurrieren um Gebiete und Ressourcen in Afrika." Der Islamische Staat habe die russische Botschaft in Kabul angegriffen, betonte Snyder in seinem Newsletter Thinking about. 'Dies ist der relevante Kontext für den Anschlag vor Moskau. Der Schrecken im Krokus-Rathaus hat offensichtlich nichts mit Schwulen oder Ukrainern oder anderen von Putins Lieblingsfeinden zu tun', betont Snyder, der sich nicht erst seit Ausbruch des Krieges 2022 eindeutig für die Ukraine positioniert hat und vor dem Faschismus in Russland gewarnt hat. 'Man fragt sich zu Recht, wie ein Terroranschlag in Russland, einem Polizeistaat, gelingen konnte. Regime wie das russische widmen ihre Energie der Definition und Bekämpfung falscher Bedrohungen. Wenn eine echte Bedrohung auftaucht, müssen die vorgetäuschten Bedrohungen hervorgehoben werden. Vorhersehbarerweise (und wie vorhergesagt) versuchte Putin, die Ukraine für den Anschlag verantwortlich zu machen.'"

In der NZZ kommt Sergei Gerasimow noch einmal auf das Interview zurück, das Tucker Carlson mit Putin führte - und das bei allen Lügen doch einige Wahrheiten über Putin offenbarte. Putin hält alle anderen für dumm, sieht sich in der Tradition der russischen Zaren und glaubt tatsächlich an "ukrainische Nazis". Genauso interessant ist zudem, was Putin nicht erwähnte: "Während des zweistündigen Gesprächs geht Putin mit keinem Wort auf die menschlichen Kosten des Krieges ein. Weder russische noch ukrainische Opfer interessieren ihn - obwohl Russen und Ukrainer aus seiner Sicht je eine einzige Nation sind. Diese absolute Verachtung für das menschliche Leben mag als Zeichen einer außergewöhnlichen Rücksichtslosigkeit erscheinen, die für Putin charakteristisch ist, aber in Wirklichkeit hatten andere russische Zaren ebenso wenig Skrupel. Es genügt, hier Peter den Großen und Iwan den Schrecklichen zu erwähnen. Lenin und Stalin waren ebenso unbarmherzig. Alle diese Machtmenschen errichteten ein Regime des Massenterrors und ließen Millionen von Menschen über die Klinge springen."

Eine Meldung nebenbei: Michael Roth,der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages und einzige bekannte Russland-Kritiker innerhalb der SPD kündigt seinen Abschied aus der Politik an - hier seine persönliche Erklärung. Roth war im Dezember "unter dem Jubel der Delegierten" im Dezember aus dem Vorstand der SPD abgewählt worden, mehr hier.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.03.2024 - Europa

Putin wird den Terroranschlag in Moskau mit 137 Toten, zu dem sich der IS bekannt hat, "zweifellos für seine Zwecke nutzen", ist sich Viktor Jerofejew in der FAZ sicher. Und er hat ja auch bereits angedeutet, dass er die Ukraine verantwortlich machen will. "Vor den Wahlen verkündete er erstaunlich unverhohlen seinen Wunsch, die Ukraine mit Russland zu vereinen, also zum Ursprung der Entstehung Russlands zurückzukehren. Russland bekam seinen Namen ja im 17. Jahrhundert (bis dahin die 'Rus'), nachdem sich die Ukraine von Polen losgelöst und unter seinen Schutz begeben hatte - was es rasch bereute, doch da war es schon zu spät. Ob also Deutschland den Taurus liefert oder nicht, ob Europa neue Sanktionen erlässt oder nicht, an Putins Kriegszielen wird dies nichts ändern, er wird stur seinen Kurs weiterverfolgen. Ein anderes, abstruses Kriegsende verheißt der Vorschlag von Dmitri Medwedew beim neulich abgehaltenen kremlfreundlichen Internationalen Jugendfestival in Sotschi, ein Vorschlag, den er mit einer Karte der Ukraine nach dem Krieg illustrierte: Sie zeigte ein kleines Stück Land um Kiew herum, alles Übrige nimmt sich Russland, die westlichen Gebiete gehen zurück an Polen und Rumänien."

Aufklärung über den Terroranschlag in Moskau kann man von Putin nicht erwarten, ist auch Inna Hartwich in der taz überzeugt. Dass es Warnungen aus den USA gab, wird er ebenso verschleiern wollen wie das Versagen seiner Sicherheitsapparate: "Die Amerikaner wollten lediglich für Unsicherheit und Verwirrung sorgen, behauptete er. Nun ist die Unsicherheit wieder verstärkt da in Moskau. Doch das, was Putin schließlich von sich gab, wirkt so entrückt von der 'Einheit Volk', dass sein Auftritt nur noch mehr verunsichert, als dass er den Menschen die Antworten gibt, nach denen sie verlangen: Wie konnten die Attentäter in die Halle kommen? Warum ist der so aufgeblähte Sicherheitsapparat sofort zur Stelle, wenn ein paar Bürger Blumen für einen toten Oppositionspolitiker ablegen wollen, aber offenbar abwesend, wenn bewaffnete Terroristen um sich schießen?"

Die bisher festgenommenen mutmaßlichen Attentäter kamen offenbar aus Tadschikistan. Für viele muslimische Kaukasier sei es besser, "unter der Flagge des Propheten zu sterben als unter der von Putin", weshalb der IS aus dieser Region einen großen Zustrom erhält, erklärt der Politikwissenschaftler Olivier Roy im FR-Interview mit Michael Hesse. Die Reaktion Russlands wird allerdings wohl in bekannten Mustern verlaufen: "Zuerst werden sie mit Hilfe der 'weißen' russischen Bevölkerung Druck auf die Muslime aus dem Kaukasus und Zentralasien in Moskau ausüben. Eine Razzia im Kaukasus wird die Spannungen in der Region erhöhen. Und ein Angriff in Afghanistan würde zu neuen regionalen Spannungen führen. Diese beiden letzten Optionen sind also problematisch. Wahrscheinlich werden sie daher weiterhin der Ukraine und den USA die Schuld geben."

Dass russische Onlinemagazin Meduza zeigt die ersten Bilder aus der Konzerthalle "Crocus City Hall" nach dem Anschlag. 

Seit dem Gazakrieg ist die Stimmung auch in London aggressiver geworden. Im vorwiegend muslimisch geprägten Bezirk Tower Hamlets sind Christen immer weniger willkommen, lernt Johannes Leithäuser (FAZ) von Andreas Blum, dem Pfarrer der deutsch-katholische Kirche St. Bonifatius, die nur einen Straßenzug weit weg liegt von der East London Mosque, "einer der größten Moscheen Europas": "Alle christlichen Gemeinden im Bezirk könnten über Belästigungen berichten, sagt Blum. Die Gemeindeschwestern, die in einer brasilianischen Kirchgemeinde in der Nähe beheimatet sind, seien in ihrem Ornat bespuckt worden. Im Royal London Hospital, dem größten Krankenhaus der Gegend, gebe es einen interreligiösen Gebetsraum, in dem Unbekannte neulich Altar und Tabernakel geschändet und Gebetsbücher zerrissen hätten. Ihn ärgert die Diskrepanz zwischen diesen Wirklichkeiten und den kulturtoleranten Sonntagsreden, die von offiziellen Stellen des Bezirks gepredigt werden. Es gebe ein 'interreligiöses Forum', das aber keine Wirkung entfalte, und allerlei Schaufenster-Veranstaltungen."

Die französische Regierung plant den französischen Bürgern von Neukaledonien im Pazifik das uneingeschränkte Wahlrecht zu gewähren, um sie enger an Frankreich zu binden, schreibt Barbara Barkhausen in der FR. Frankreich befürchtet nämlich, dass sich China in dieser Region breitmachen könnte. "Auch Neukaledonien unterhält eine starke Beziehung zum Reich der Mitte. China ist wichtiger Handelspartner und Hauptabnehmer der Nickelproduktion im Land. Vor dem zweiten Referendum wurde in Neukaledonien deswegen bereits heftig darüber diskutiert, ob die Inselgruppe zur 'chinesischen Kolonie' verkommen könnte, sollte sie die Unabhängigkeit von Frankreich erlangen. 'Die Leute sagen: 'Wenn wir nicht mehr Franzosen sind, werden wir Chinesen sein', sagte Catherine Ris, eine Wirtschaftsprofessorin an der Universität von Neukaledonien (...). Es gehe die Angst um, dass China sich überall auf der Welt ausbreite."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.03.2024 - Europa

Angesichts der russischen Bedrohung und des Chaos in der amerikanischen Politik findet Christopher Lauer (ehemals Piratenpartei) in der FAZ die Idee eigener Atomwaffen für die EU nicht abwegig. Aber man muss sich auch klarmachen, was das heißen würde, meint er: "Es fängt damit an, dass, wenn die EU es ernst meint, die komplette Technik einer EU-Atomstreitmacht unabhängig entwickelt werden müsste: Jeder Mikrochip, jedes Steuerungssystem, jede Zeile Code müssten in der EU hergestellt werden; es müsste absolut sicher sein, dass der Einfluss eines ausländischen Akteurs ausgeschlossen wäre. Darüber hinaus müsste gesichert sein, dass Erkenntnisse dieses Programms nicht nach außen gelangen; denn man will ja, obwohl man sich selbst Atomwaffen anschafft, den Rest der Welt möglichst atomwaffenfrei halten."

In der SZ erinnert Kurt Kister jene, die wie Rolf Mützenich den Konflikt "einfrieren" oder wie Ingo Schulze mal wieder mit Russland verhandeln wollen, daran, dass Verhandlungen mit Putin schon einmal nach hinten losgegangen sind: "Einem Aggressor entgegenzukommen, kann nur dann richtig sein, wenn er sich dadurch nicht gleichzeitig belohnt fühlt. Ein Beispiel: Das Minsker Abkommen aus dem Jahr 2015 war das Ergebnis von Verhandlungen, die nach der russischen Annexion der Krim und der von Moskau vorangetriebenen gewalttätigen Separation ostukrainischer Gebiete stattfanden. Es ist offensichtlich, dass diese Verhandlungen nicht nur die Gewalt nicht beendeten, sondern dem Regime Putin so sehr entgegenkamen, dass es für den Angriff auf die Ukraine insgesamt bestärkt wurde. Das Minsker Abkommen ist bedauerlicherweise ein Beleg dafür, dass Verhandlungen mindestens mittelfristig auch zu mehr Gewalt führen können."

"Putin 2024 ist nicht mehr der von 2014, der sich seinen Expansionsdrang in Minsk abverhandeln ließ", schreibt indes Michael Thumann in seiner Zeit Online Kolumne: "Er fühlt sich auf der Höhe seiner Macht. Oder in seinen Worten: 'Warum sollte ich verhandeln, wenn den anderen die Patronen ausgehen?' Sein Krieg, den die Russen gerade in einem Plebiszit abgesegnet haben, ist ein perfektes Herrschaftsmittel. Solange der Krieg brennt, fragt kaum einer in Russland, warum Putin so viele Russen in den Tod oder in die Straflager schickt. Der Krieg gegen Europa und den Westen ist die triumphale Vollendung seiner Herrschaft. Er sieht jetzt den Moment gekommen, den Westen nach über einem halben Jahrtausend der globalen Dominanz zu stürzen. Und jetzt soll er sein historisches Projekt von Ralf und Rolf von der SPD einfrieren lassen?Jetzt, wo er gerade loslegt? Die können ihn mal."

Der geplante linksradikale "Palästina-Kongress" in Berlin nimmt Gestalt an, berichtet Sebastian Leber im Tagesspiegel. Der annoncierte Stargast, die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese, kommt allerdings nicht. Die Veranstaltung sei ausverkauft, der Ort ist noch geheim, berichtet Sebastian Leber im Tagesspiegel: "Eingeplant hatten die Veranstalter auch einen Auftritt der Aktivistin Nerdeen Kiswani, die in den sozialen Medien die Forderung verbreitet, Israel müsse 'zerschlagen' werden. Solange der jüdische Staat existiere, könne es keine gerechte Welt geben. Kiswanis Name fehlt jedoch auf der offiziellen Rednerliste der Webseite. Bei einem internen Vorbereitungstreffen hatten die Veranstalter verkündet, die Namen einiger Redner geheim halten zu wollen, da andernfalls die Verhängung von Einreiseverboten drohe."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.03.2024 - Europa

Gestern war Hillel Neuer von der NGO UN Watch im Europäischen Parlament. Dort wollte er über seine Erkenntnisse zur UNRWA sprechen, jener UN-Agentur, die sich exklusiv um palästinensische "Flüchtlinge" kümmert und die Hiller und die israelische Regierung der Kollaboration mit der Hamas beschuldigen. Eingeladen hatte ihn der schwedische Abgeordnete David Lega. Michael Thaidigsmann berichtet für die Jüdische Allgemeine: "Vorgesehen war eigentlich eine öffentliche Anhörung. Doch dann fand die Sitzung auf Antrag von Sozialdemokraten, Grünen und Linken 'in camera', also unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Kameras mussten ausgeschaltet werden, das geplante Webstreaming entfiel - sehr zum Missfallen Legas und Neuers. Die beiden hatten sich erhofft, 'den europäischen Steuerzahler' darüber informieren zu können, wie EU-Gelder möglicherweise für Dinge ausgegeben werden, die nicht förderwürdig und -fähig sind. Die Europäische Union ist - das ist unumstritten - einer der wichtigsten Geldgeber der UNRWA weltweit. 82 Millionen Euro soll die Organisation in diesem Jahr erhalten. Im Europaparlament gibt es offenbar eine Mehrheit dafür, dass das auch so bleibt." Hier Neuers UNRWA-Bericht.

Der Islamwissenschaftler Jan Altaner unterstützt im Leitartikel der taz die Position der meisten europäischen Politiker: Zwar könnten einige Anschuldigungen der Israelis und Neuers durchaus zutreffen. "Doch unabhängig davon unterstreicht Israels Weigerung, stichhaltige Beweise zu liefern, dass die Vorwürfe vor allem medienwirksam auf eine grundsätzliche Kritik an UNRWA abzielen. Dies legen auch Aussagen von UNRWA-Mitarbeitern nahe, nach denen sie durch Folter zu falschen Geständnissen über die Zugehörigkeit zur Hamas gezwungen worden seien."
Stichwörter: Unrwa, Hamas

9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.03.2024 - Europa

Buch in der Debatte

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Die taz bringt noch eine Literaturbeilage. Hier spricht Sofi Oksanen mit Jens Uthoff über ihr neues Buch "Putins Krieg gegen die Frauen". "Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen dem Antifeminismus in Russland und dem Ukrainekrieg: Die Ukraine repräsentiert alles, was der Kreml ablehnt - zum Beispiel, dass Frauen mehr Macht haben. Die Ukraine schickt auch Soldatinnen an die Front, hat rund 5.000 weibliche Offiziere, Präsident Selenski ehrt viele von ihnen mit der Ehrenmedaille 'Held der Ukraine'. Es ist definitiv auch ein Krieg um die Gleichberechtigung der Geschlechter."

"Weder die russische Seite noch die ukrainische Seite will ein Einfrieren des Konflikts", sagt der Politologe Gerhard Mangott im Tagesspiegel-Gespräch: "Russland deswegen nicht, weil es jetzt leicht Oberhand hat. Die Ukraine nicht, weil sie darauf hofft, mit westlichen Waffen wieder in die Offensive gehen zu können. Beide Seiten wollen einen militärischen Erfolg auf dem Schlachtfeld erreichen und denken gar nicht daran, den Krieg einzufrieren. Das könnte erst dann möglich werden, wenn beide Kriegsparteien militärisch erschöpft sind und sich eben keine Vorteile mehr auf dem Schlachtfeld erhoffen. Dann könnte passieren, dass man sich zusammensetzt und über eine Waffenruhe verhandelt." Aber: "Davon sind wir derzeit noch sehr weit entfernt, vermutlich Jahre, wie manche Experten in den USA voraussagen. Es gibt allerdings ein Szenario, bei dem sich das ändern könnte - nämlich, wenn Donald Trump Präsident der USA wird und dann tatsächlich jegliche Unterstützung der Ukraine einstellt. Das würde das Land in eine so große militärische Schieflage bringen, sodass Kiew geradezu darum betteln müsste, Verhandlungen über eine Waffenruhe aufzunehmen."

Das Wort "Einfrieren" bedient für FAZ-Autor Simon Strauß, vor allem eines: deutsche Mentalität. "Insbesondere hinter dem großen Wort Frieden kann man sich in Deutschland ziemlich gut klein machen, kann sich verstecken, um nicht unumwunden das sagen zu müssen, was man in Wahrheit fürchtet: Die Ukraine könnte verlieren - und wir als Nächste mit ihr, wenn wir jetzt nicht einen Schritt auf den Stärkeren zugehen."

Ebenfalls im Tagesspiegel findet Olaf Scholz die Debatte um ein "Einfrieren des Konflikts" nur "peinlich", wie er im Gespräch betont: "Diese Debatte in Deutschland ist an Lächerlichkeit nicht zu überbieten. Unser Land ist in Europa der größte Unterstützer der Ukraine mit militärischen Waffen - und trotzdem findet diese Debatte statt? Das ist peinlich. Lieber sollte man doch sagen: Ganz schön beeindruckend! Deutschland hat für dieses Jahr im Haushalt mehr als sieben Milliarden Euro für Waffenlieferungen an die Ukraine vorgesehen, Frankreich mobilisiert drei, Großbritannien 2,5 Milliarden. Seit 2022 hat unser Land bereits 28 Milliarden Euro an Waffen geliefert oder fest zugesagt. Das kann sich sehen lassen."

"Europas Schicksal wird in der Ukraine entschieden", sekundiert Joseph Joffe, der dem Westen in der NZZ eine Mitschuld an einer möglichen Niederlage der Ukraine gibt: "Im Westen wächst die Kriegsmüdigkeit. Lauter werden die Stimmen, die Waffenstillstand und Verhandlung fordern. Sanktionen behelligen Putin kaum; seine Kriegswirtschaft wächst wie unter den totalitären Mächten des 20. Jahrhunderts. Der Papst rät Kiew, die weiße Fahne zu hissen. Ob das recht ist, möge Franziskus mit dem lieben Gott ausmachen. Auf Erden aber droht der Ukraine die Hölle, wenn ihr die Munition ausgeht, während Putin ungestört Dämme, Wohnhäuser und Hospitäler zerstört, wo sich anders als in Gaza keine Kombattanten verstecken. Eine Waffenruhe würde den Alleinherrscher begünstigen, könnte er seine Armee doch so für die nächste Offensive stärken. Das müssten auch Leute kapieren, die Krieg bloß aus dem Kino kennen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.03.2024 - Europa

Die SPD, die neuerdings den Ukraine-Krieg "einfrieren" möchte, bewegt sich zurück zur Debatte zu Beginn des Kriegs, beobachtet Jürgen Kaube in der FAZ: "Zunächst wollte man, wir erinnern uns, vor allem Helme liefern. Und Nord Stream 2 beibehalten." Und dann wird Kaube ernst: "Mützenich, der Chamberlain unserer Tage, gehört zur Gruppe der Schwesigs, Stegners und Scholzens, die sich auskömmliche Beziehungen zu Russland vorstellen können. In Frankreich würde man sie 'Munichois' nennen, nach dem faulen Kompromiss, der einst in München mit Hitlers Ambition gefunden wurde, die Tschechoslowakei zu annektieren. Wir kennen den Ausgang dieser Art von Friedfertigkeit."

In der NZZ erinnern Julia Kazdobina, Jakob Hedenskog und Andreas Umland daran, dass der Ukrainekrieg nicht am 24. Februar 2022 begann, sondern mit der Besetzung der Krim am 20. Februar 2014. "Zu diesem Zeitpunkt war der prorussische Präsident der Ukraine, Wiktor Janukowitsch, noch an der Macht, und der Ausgang des Euromaidan-Aufstands in Kiew stand noch in den Sternen. Dennoch verließ ein Konvoi gepanzerter Fahrzeuge unter Missachtung der Bestimmungen des 'Abkommens zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine über den Status und die Bedingungen des Aufenthalts der Schwarzmeerflotte der Russischen Föderation auf ukrainischem Hoheitsgebiet' illegal den Stützpunkt der 810. Marinebrigade der russischen Schwarzmeerflotte in der Kosakenbucht von Sewastopol. Auf der Medaille des russischen Verteidigungsministeriums für die 'Rücknahme der Krim' wird dementsprechend der 20. Februar 2014 als Beginn der russischen Annexionsoperation genannt."
Stichwörter: SPD, Ukraine-Krieg, Krim-Annexion

9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.03.2024 - Europa

Es gibt tatsächlich so etwas eine eine "Ständige Vertreterin des ukrainischen Präsidenten in der Autonomen Republik Krim". Sie heißt Tamila Taschewa, und äußert sich heute im Interview mit Anastasia Magasowa von der taz - ihren genauen Status auf der Krim erklärt die taz leider nicht. Dass die Krim besetzt wurde, ist jetzt genau zehn Jahre her. Taschewa spricht über die feste Intention der ukrainischen Regierung, die Krim zurückzuerobern und macht sich auch schon Gedanken über die "Deokkupation": "Kommunikation ist sehr wichtig. Den Menschen auf der Krim muss erklärt werden, dass die Rückkehr der Ukraine für sie keinen völligen Zusammenbruch bedeutet. Die 'kognitive Reintegration' ist einer der schwierigsten Aspekte der Deokkupation der Krim. Man könnte sie auch als kognitive Minenräumung bezeichnen. Denn Russland legt mit seiner Bildungs-, Kultur- und Informationspropaganda Minen in die Köpfe der Menschen. Diese Minen müssen wir räumen. Wir verstehen, dass nach der Befreiung der Krim eine Übergangszeit notwendig sein wird, damit das ukrainische Recht dort voll zur Geltung kommen kann."

In einem zweiten Text über die Krim erinnert sich Daniel Gerlach an die Krim vor der Besetzung. Hier erzählt er auch von Stalins Völkermord an den Krimtataren im Jahr 1944: "Stalins Häscher hatten binnen dreier Tage 190.000 Krimtataren in Viehwaggons gesteckt und fortgeschafft, als sie merkten, dass sie ein Dörfchen weit im Nordosten auf der abgelegenen arabatischen Nehrung übersehen hatten. Alle Züge waren fort und Moskau war bereits 'Vollzug' gemeldet. Was tun? Sie trieben die Dorfbewohner auf eine Barke, schleppten diese aufs Asowsche Meer hinaus und versenkten den Kahn."

Vielleicht ist es kein Zufall, dass die "Wahl" am 18. März stattfand, dem zehnten Jahrestag der Besetzung der Krim, merkt auch Karl Schlögel im Gespräch mit Ann-Dorit Boy vom Spiegel an. In der interessantesten Partie des Interviews beschreibt er, was er unter "Putinismus" versteht: "Es ist ein System entstanden, in dem es keine Unterscheidung von wahr und falsch mehr geben soll. Orthodoxe Kirche und die Errichtung von Stalindenkmälern, Parteitags-Choreografien und Entertainment, die Verachtung des dekadenten Westens und der Besitz eines Apartments in Manhattan. Das geht alles zusammen. Auf Massenrepressalien im Stil der stalinschen Säuberungen ist Putin nicht angewiesen, solange er Einzelne mit chirurgischen Operationen ausschalten und vernichten kann."

Alexej Nawalny hatte noch vor seinem Tod in den Putinschen Verliesen dazu aufgerufen, bei der gestrigen "Wiederwahl" Putins um Punkt 12 Uhr zu erscheinen, um gegen Putin zu demonstrieren. Viele waren mutig und kamen. Inna Hartwich hat für die taz mit einigen vor dem Wahllokal 2567 gesprochen: "Andrei und seine Frau haben trotz Einschüchterung bewusst die Entscheidung getroffen, zu kommen. 'Es ist ein Flashmob, wohl der letzte Strohhalm, an dem wir uns heute noch festhalten können. Ab morgen wird es schlimmer, die Repressionen werden zunehmen. Und wer weiß, was diesem Irren im Kreml noch alles einfallen wird', sagt der Moskauer leise. Alexandra, schon weiter vorgerückt, sagt: 'Ich bin gekommen, um mich nicht allein zu fühlen. Es gibt in unserem Land kaum mehr Orte, an denen sich Kritiker*innen des Systems finden dürfen. Das hier ist eine seltene legale Möglichkeit.'" Und Julija Nawalnaja, die Witwe des Oppositionellen, nahm in Berlin an der Aktion teil, mit Tausenden anderen Menschen, berichtet unter anderem die SZ in ihrem Aufmacher.

Michael Thumann kommentiert in Zeit online: "Es ist aber fraglich, ob der Protest darüber hinaus Spuren hinterlässt. Das Staatsfernsehen hat die Schlangen gefilmt und kann sie an die Staatssicherheit weiterleiten. Die Propagandisten können die Bilder aber auch als Beleg dafür nehmen, dass die Wahlbeteiligung von weit über 70 Prozent nicht erfunden ist."

Die Schriftstellerin Nora Bossong plädiert in einem Kommentar für Deutschlandfunk Kultur für eine europäische Armee: "Wichtig ist, dass Deutschland und Frankreich keinen Alleingang starten, sondern kleinere Länder mitnehmen, die sich sonst leicht übergangen fühlen. Ein Alleingang ist allerdings schon deshalb unwahrscheinlich, weil es mit der Kommunikation zwischen Paris und Berlin gerade in militärischen Fragen momentan nicht zum Besten steht. Ein Grund mehr für eine stärkere transnationale Sicherheitsarchitektur."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.03.2024 - Europa

In einem ergreifenden Text für die NZZ stellt uns die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk die Ukraine als ein Land vor Augen, das in einer dunklen Tradition des Verschwindens steht: "Wir verschwinden und verschwinden, und am Ende sind wir doch noch ein bisschen da, heute vielleicht sogar mehr als je zuvor. ... Überhaupt könnte man in meinem Land, hätte man das Ziel, in jeder noch so kleinen Ecke ein Museum des Verschwindens einrichten. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich komme aus der Leere, die darauf folgt. Und meine zweite Erkenntnis lautet so: Hinter dem Verschwinden verbirgt sich meist ein Verbrechen. Die Täter täuschen, und sie tarnen sich. Das Verschwindenlassen gehört zu ihren gut erprobten Methoden, mit der Absicht, ungestraft davonzukommen. Um weiter verschwinden zu lassen."

Putin wird wohl demnächst in Polen einmarschieren. Sicherster Indikator dafür ist eine Äußerung Sahra Wagenknechts im taz-Interview: "Dass Russland demnächst Polen überfällt, halte ich für abwegig." Die tazler erheben den Einwand: "Sie haben auch den Überfall auf die Ukraine für abwegig gehalten." Aber darauf antwortet Wagenknecht: "Das stimmt nicht. Ich habe damals bei Anne Will gesagt, dass die Russen eine mögliche Nato-Mitgliedschaft im schlimmsten Fall militärisch verhindern werden. Ich habe nur nicht gedacht, dass das direkt bevorsteht."

Berthold Kohler hat in der FAZ zwar ein gewisses Verständnis für Olaf Scholz' Zögern in der Frage der Taurus-Lieferung, aber klar ist auch: "Nach zwei Jahren Krieg muss allerdings nicht mehr Putin die Niederlage fürchten, sondern die Ukraine. Der Taurus allein entscheidet darüber nicht. Dessen Einsatz könnte den Verteidigern aber helfen, ein neuerliches Vordringen der russischen Angreifer zu verhindern. Überrollten diese das erschöpfte Land, dann stünde Putins Invasionsarmee an der Grenze zu vier NATO-Staaten. Dann würden sich auch Berlin ganz andere Fragen stellen als bisher. Es ist im höchsten Interesse Deutschlands, dass Putin noch in der Ukraine gestoppt wird."

Bei Twitter wird inzwischen über eine Recherche in t-online.de gestritten, die den "wahren Grund, warum Scholz keine Taurus liefert" zu enthüllen verspricht und Scholz' Zögern damit abstützt: Der "wahre Grund" sei, dass Deutschland die Taurus-Reakten selber braucht. Die Recherche hat wegen der hier ausgeplauderten militärischen Geheimnisse zum Teil empörte Reaktionen ausgelöst, die t-online.de hier resümiert.

Außerdem: In der taz porträtieren Andreas Speit und Jean-Philipp Baeck den rechtsextremen Strippenzieher Gernot Mörig, der maßgeblich beim Potsdamer "Remigrations"-Treffen mitwirkte und auch schon andere derartige Treffen koordiniert hat.