9punkt - Die Debattenrundschau

Gleichsam kollektive Entwöhnung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.04.2024. Die FAZ fragt: Warum gibt die ARD für Sport mehr Geld aus als für Politik und Gesellschaft? Philipp Oswalt fordert Claudia Roth jetzt auf, alle Teile am Berliner Stadtschloss, die von Rechtsextremen gespendet wurden, schwärzen zu lassen und die Spendenbeträge an antirassistische Initiativen weiterzureichen, meldet der Tagesspiegel. In der FR will Yanis Varoufakis Frieden schaffen, indem er der Ukraine den Eintritt in die Nato verwehrt. Der Spiegel erzählt, wie Microsoft ein Problem bei Linux entdeckte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.04.2024 finden Sie hier

Europa

Im Mai wird Emmanuel Macron zum großen Staatsbesuch in Berlin erwartet. FAZ-Korrespondentin Michaela Wiegel versucht Macrons Gesinnungswandel gegenüber Russland auf die Spur zukommen. Von seiner Friedensrhetorik hat er abgelassen. Eine russische Niederlage bezeichnet er nun als Voraussetzung für eine neue europäische Friedensordnung. "Innenpolitisches Kalkül kann ausgeschlossen werden. Mit Kriegsrhetorik lassen sich keine Sympathien gewinnen. Macrons verbale Aufrüstung hat alle Oppositionsparteien verschreckt. Die geplante Militärhilfe in Höhe von drei Milliarden Euro für die Ukraine in diesem Jahr stößt angesichts der Sparzwänge des überschuldeten Landes auf Kritik. Den Preis einer zunehmenden Entfremdung vom eigenen Souverän nimmt der Präsident in Kauf. Es wäre für ihn politisch wesentlich vorteilhafter gewesen, sich als Friedensengel zu gerieren, wie Marine Le Pen es macht."

Die Debatte um nukleare Abschreckung in Europa muss neu geführt werden, finden der Historiker Michael Jonas und der Politologe Severin Pleyer in der FAZ, und benennen zugleich die Schwierigkeiten: "Für die Debatte über die strategische Orientierung des Landes scheint das Fortwirken eines vermeintlich 'friedenswissenschaftlich' sozialisierten politisch-kulturellen Milieus ebenso symptomatisch wie gravierend zu sein." Darüberhinaus "zog die Abwesenheit des Krieges zumindest auf dem europäischen Kontinent eine gleichsam kollektive Entwöhnung nach sich - nicht nur vom Krieg als Erlebtem und Erfahrenem, sondern als überhaupt Vorstellbarem. Krieg ist dabei insbesondere der deutschen Gesellschaft, vielmehr aber noch ihren Eliten in einem Maße fremd geworden, dass man selbst das Instrumentarium eingebüßt zu haben scheint, um diesen überhaupt systematisch verstehen und damit gegebenenfalls auch beschränken und einhegen zu können."

Die CHP konnte bei den türkischen Kommunalwahlen auch deshalb so viele Stimmen gewinnen, weil sich durch Erdogans zunehmend islamistischen und nationalistischen Kurs rechts der Mitte eine Lücke geöffnet hatte, erklärt Deniz Yücel in der Welt: "Jahrelang konnte Erdogan seinen Wählern weismachen, dass Wahlen Entscheidungen zwischen Gläubigen und Ungläubigen seien. Diese Propaganda hat die CHP durchbrochen. Sie verteidigt den säkularen Lebensstil ihrer Stammwählerschaft gegen Einmischungen des Erdogan-Regimes. Aber zumindest bei einem Teil der frommen Wähler konnte sie das Misstrauen abbauen, die CHP wolle sich in ihren Lebensstil einmischen." Zudem konnte Imamoglu nicht nur fromme und nationalistische Stimmen gewinnen, "sondern, so widersprüchlich dies klingt, auch kurdische."

"Kann es sein, dass die Grünen die Wehrhaftesten sind?", fragte Claudius Seidl gestern der FAZ und sorgte damit schon für allerhand Wirbel auf Twitter. Eigentlich sind es ja die Rechten, die "soldatische Tugenden" für sich beanspruchen und nicht müde werden, einen Mangel an Männlichkeit, Stärke und Durchhaltevermögen zu beschreien. Aber, sagt Seidl, das ist nur heiße Luft: "Tapfer sind diese Rechten nur, wenn es gegen Flüchtlinge geht, gegen Deutsche mit Migrationsgeschichte, gegen eine muslimische Invasion, die es nur in ihrer Einbildung gibt. ... Es gibt ein Wort für diese Art von Tapferkeit. Man nennt sie Feigheit." Vielmehr Potenzial sieht Seidl da, wo man es erstmal nicht erwarten würde - bei den Grünen: "Dort hat man längst gelernt, dass Wohlstand, Komfort, Bequemlichkeit nicht zu den unveräußerlichen Menschenrechten gehören."

Gelesen hat man das, was Yanis Varoufakis im zweiseitigen FR-Interview von sich gibt, oft genug - allerdings nicht derart brachial. Der griechische Ökonom ist natürlich für Verhandlungen mit Russland, will der Ukraine unter anderem den Nato-Beitritt verwehren, spricht von "ethnischer Säuberung" und "Deportation" durch Israel und hat natürlich auch eine Lösung für den Nahostkrieg parat: "Wie wäre es mit der Beendigung der Apartheid?"
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Internet

Schön, dass es noch solche Meldungen gibt: Das Land Schleswig-Holstein steigt auf LibreOffice um und versucht sich zusehends von Microsoft-Systemen zu lösen, berichtet Martin Holland bei heise.de: "Für den Wechsel auf Open-Source-Software spricht laut der Landesregierung nicht nur das Ziel der digitalen Souveränität. Außerdem erwartet man sich eine verbesserte IT-Sicherheit, geringere Kosten, mehr Datenschutz und ein besseres Zusammenspiel unterschiedlicher Systeme. Das Land möchte sich an der Weiterentwicklung der Software beteiligen und Ergebnisse unter freien Lizenzen veröffentlichen. Der Wechsel zur LibreOffice als Office-Software in der Kommunikation zwischen Ministerien und Behörden soll jetzt kurzfristig erfolgen."

Allerdings sind auch Linux-Systeme angreifbar, berichten Patrick Beuth und Torsten Kleinz im Spiegel. Der Microsoft-Entwickler Andres Freund aus San Francisco machte die Entdeckung, dass eine Schadsoftware ein Programm zur Komprimierung von Daten angegriffen hat, das für viele Anwendungen weltweit entscheidend ist: "Die Software ist in den meisten Linux-Versionen enthalten. Auch wenn das offene Betriebssystem bei Privatnutzern kaum verbreitet ist, stellt es das Rückgrat des Internets dar. Viele Rechenzentren laufen auf Basis von Linux, genauso Android-Smartphones oder Kleingeräte wie Fritz!Box-Router. Hätte Freund den Schadcode nicht zufällig kurz nach Veröffentlichung entdeckt, wäre die Hintertür in immer mehr Systeme eingezogen."
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Stichwörter: Open Source, Linux

Kulturpolitik

Der Architekt Philipp Oswalt fordert gemeinsam mit Jürgen Zimmerer und anderen Kulturwissenschaftlern von Claudia Roth die Einsetzung einer unabhängigen Fachkommission zur Überprüfung der Spendenpraxis beim Humboldt Forum, meldet der Tagesspiegel: "Für die Überprüfung der anonymen Spender, die auch dem Bund und der Stiftung Humboldt Forum nicht namentlich bekannt sind, seien ergänzend unabhängige Expert:innen zu beauftragen, die Vertraulichkeit wahren und einen Bericht ohne namentliche Nennung der Spender für die 25 anonym gespendeten Millionen Förder-Euro zu verfassen. Weiter heißt es in dem Forderungskatalog, alle Spendenbeträge aus nicht korrekten Quellen sollten gemeinnützigen antirassistischen Initiativen zugutekommen. Ebenso sollten 'die durch solche Spenden ganz oder teilweise finanzierten Bauteile' geschwärzt oder anderweitig kenntlich gemacht werden. Zudem solle die Stiftung Humboldt Forum die Zusammenarbeit mit dem Förderverein Berliner Schloss beenden, die die Spenden für den Fassadenschmuck zusammengetragen hatte." Zimmerer veröffentlicht den ganzen Text dieses Manifests auf einem Blog der Uni Hamburg.
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Medien

Das vom Perlentaucher aufgegriffene Scharmützel der Berliner Zeitung mit dem ukrainischen Botschafter Oleksij Makejev und zugleich mit dem Tagesspiegel, findet nun auch in der FAZ ein kleines Echo, wo Michael Hanfeld kommentiert: "Geht's noch? Ein Blatt, dessen Verleger (Ex-Stasi-IM) den einstigen Bild-Chef Julian Reichelt an Springer verpfiffen und den Informantenschutz zersetzt hat, das ein Interview mit Roger Waters um entscheidende judenfeindliche Einlassungen kürzt, hält diese Kritik für einen 'Eingriff in die Pressefreiheit'?" In der taz schreibt Steffen Grimberg.

Die Geldsummen, die die Öffentlich-Rechtlichen für die Sportberichterstattung ausgeben, scheinen nicht immer ganz leicht festzumachen zu sein. Helmut Hartung versucht es in der FAZ anlässlich der Vergabe neuer Sportrechte, um die sich die Sender bewerben. Den bisherigen Zustand beziffert Hartung so: "2022 ließ sich die ARD den Sport im Ersten 431,7 Millionen Euro kosten, die Berichterstattung über Politik und Gesellschaft 399,4 Millionen. Pro Sendeminute wurden für dieses Programm 2.943 Euro aufgewendet, für den Sport 10.014 Euro - mehr als das Dreifache. Für keine Inhalte hat die ARD 2022 mehr investiert als für Sport."

Weitere Artikel: Unter dem Titel "Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk" kritisieren mehr als hundert Journalisten, Künstler und Wissenschaftler "eine Eingrenzung des Debattenraums und eine zunehmende Grenzverschiebung zwischen Meinungsmache und Berichterstattung" bei den Öffentlich-Rechtlichen, berichtet unter anderm Kurt Sagatz, der die Forderungen im Tagesspiegel für eine "Revolution" hält. Zu den Unterzeichnern gehören Intellektuelle wie Ulrike Guérot und Jürgen Fliege.
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Gesellschaft

Seit dem 7. Oktober zeigt sich die Fratze des Antisemitismus wieder in ihrer ganzen Obszönität: von rechts, von links, von religiöser Seite. Im Perlentaucher sucht Richard Herzinger nach den Antrieben dieses hässlichen Sentiments. Einerseits ist es die nie ganz festzulegende Identität des Judentums, die seine Feinde irritiert, so Herzinger. "Andererseits jedoch sind die Antisemiten überzeugt, dass diese Heterogenität des Judentums nur eine perfide Täuschung sei, dass es sich bei ihm in Wahrheit um eine im Geheimen verschworene uniforme Gemeinschaft handele, die diese ihr eigene Geschlossenheit anderen Völkern missgönne und sie daher gezielt zerstören wolle. So projiziert der Antisemitismus die eigene Homogenitätssehnsucht auf das ungreifbare Prinzip 'Jude'. Das so erzeugte Zerrbild von 'dem Juden' als straff organisiertem Weltverschwörer ruft er dann als Rechtfertigung für die Verwirklichung seiner eigenen Gleichschaltungsgelüste auf."
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Stichwörter: Antisemitismus, 7. Oktober

Politik

Während in Taiwan die zehnjährige Wiederkehr der Sonnenblumen-Bewegung, die gegen einen Deal zwischen der nationalistischen Kuomintang-Regierung mit der Volksrepublik China protestierte, gefeiert wird, verabschiedete "Pekings Handlangerparlament" in Hongkong ein zweites "Sicherheitsgesetz", das den "Straftatbestand" Demokratie noch strikter fassen soll, schreibt Alexander Görlach in der Welt: "Für China ist die Existenz einer funktionierenden und prosperierenden Demokratie vor der Haustür eine Gefahr, denn die Taiwaner könnten die von der Kommunistischen Partei geplagten Chinesen eines Tages dazu inspirieren, auch in China in Freiheit leben zu wollen. Deshalb plant Xi auch, die demokratische Insel von seiner Armee überfallen zu lassen und der Volksrepublik einzuverleiben. Seine Luftwaffe überfliegt die Insel bereits fast täglich, seine Marine provoziert die taiwanesischen Seestreitkräfte in der Straße von Taiwan, die die Volksrepublik China von der Republik China trennt. Wie in Hongkong auch will Xi mit Terror und Einschüchterung die Menschen auf der Insel in die Knie zwingen. Die freie Welt darf nicht zulassen, dass Xi Taiwan einnimmt, denn Diktatoren wie er suchen sich in ihren Machtwahn immer neue Ziele."
Archiv: Politik