Intervention

Grundlegende Verunsicherung

Von Richard Herzinger
04.04.2024. Seit dem 7. Oktober zeigt sich die Fratze des Antisemitismus wieder in ihrer ganzen Obszönität: von rechts, von links, von religiöser Seite. Und auch in der Mitte der Gesellschaft. Was macht gerade die Juden immer wieder zum bevorzugten Objekt derartiger hasserfüllter Projektionen?  Was Gralshüter der Homogenität am Judentum irritiert, ist, dass sich der Kern seiner Identität nicht abschließend definieren lässt. Aber eines ist klar: Antisemitismus ist nicht nur ein Angriff auf Juden, sondern auf das Prinzip der offenen Gesellschaft.
Vor dem Hintergrund des Gaza-Kriegs häufen sich weltweit die Ausbrüche von Antisemitismus - sowohl in seiner rechts- und linksextremen als auch in seiner islamistischen Variante. Aber auch in der politischen und gesellschaftlichen Mitte haben sich uralte Affekte und Ressentiments gegen das Judentum erhalten, die sich heute meist unter dem Deckmantel der "Israelkritik" artikulieren.

Dabei sind die antisemitischen Stereotype seit Jahrhunderten im Kern unverändert geblieben. Das zeigt, wie tief sich die latente oder offene Judenfeindschaft in die Bewusstseinsstruktur der modernen Gesellschaften eingegraben hat. Sie wird aus einer grundlegenden Verunsicherung gespeist, die das Leben im voranschreitenden Prozess der Moderne wie ein Schatten begleitet. Das sich steigernde Tempo technologischer und gesellschaftlicher Veränderungen, die Auflösung traditioneller Sozialstrukturen und andere Faktoren, die das Dasein zunehmend komplex und unübersichtlich machen, rufen als Gegenreaktion ein Bedürfnis nach vereinfachenden Welterklärungsmustern hervor.

Zu diesen gehört meist auch die projektive Benennung von Schuldigen, die für alles Ungemach der zeitgenössischen Existenz verantwortlich gemacht werden. Doch was macht gerade die Juden immer wieder zum bevorzugten Objekt derartiger hasserfüllter Projektionen? Ein Grund dafür ist die Vieldeutigkeit der jüdischen Identität, die sich eindeutigen Kategorien kollektiver Einordnung entzieht. Daran entzündet sich ein Crescendo der Verdächtigungen -   der Philosoph Theodor W. Adorno nannte den Antisemitismus "das Gerücht über die Juden" -, von wo aus es nur noch ein kleiner Schritt zu antisemitischen Verschwörungsfantasien ist.

Was die Gralshüter der Homogenität am Judentum irritiert, ist, dass sich der Kern seiner Identität nicht abschließend definieren lässt. Ist es "eine Religionsgemeinschaft", wie eine ebenso gängige wie klischeehafte Wendung lautet? Das ist es zweifellos auch, doch geht die jüdische Identität nicht vollständig in der Religion auf. Tatsächlich gibt es auch unter den Juden zahlreiche Atheisten und Agnostiker, und sie hören damit doch nicht auf, Juden zu sein.

Ist das Judentum dann etwa eine Nation? Offenbar nicht; man kann als Jude sehr wohl ein hundertprozentig patriotischer Amerikaner, Franzose oder Australier sein und ist damit doch nicht weniger ein Jude, als es etwa ein Israeli ist. Bilden die Juden vielleicht "ein Volk", eine ethnische oder kulturelle Gemeinschaft? Nicht im herkömmlichen Sinne, denn in Israel strömen Juden aus aller Welt zusammen, deren kulturelle Traditionen zum Teil grundverschieden und deren lebensweltliche Konflikte untereinander folglich so heftig sind, wie sie in einer offenen, multiethnischen Gesellschaft nur sein können.

Und worauf gründet sich dann der Staat Israel? Auf Religion? Auf Abstammung? Auf Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte? Auf die säkularen Werte der Aufklärung und die demokratischen Traditionen der bürgerlichen Revolution? Auf sozialistische Ideale, wie sie der frühe Zionismus hochgehalten hat? Auf das westliche Prinzip der Willensnation? Alle diese Elemente spielen eine Rolle, doch keines definiert das Selbstverständnis Israels vollständig. Darüber, welche dieser Elemente mehr und welche weniger bestimmend sein sollen, wird im jüdischen Staat fortlaufend erbittert gestritten.

Diese offene Identitätsfrage ist es, die das Judentum in den Augen der Verfechter vereinheitlichenden Denkens suspekt macht. Und dass Israel, das seine Staatlichkeit auf der Basis solcher Uneindeutigkeit behauptet, damit auch die homogenen Identitätsmuster anderer Nationen in Frage stellt. Die Angst vor Auflösung und "Zersetzung", die durch das Judentum, diesen Prototyp einer heterogenen Entität, ausgelöst wird, war von jeher der Nährboden für das antisemitische Stereotyp.

Dabei ist der Antisemitismus ein doppelter Versuch, sich von dieser unterschwellig bohrenden Beunruhigung zu entlasten. Einerseits betrachtet der Antisemit die jüdische Vieldeutigkeit mit Argwohn und Hass. Ist es nicht der ewig eigenwillige Jude, fragt sich der Antisemit, der die Bildung einer homogenen Volksgemeinschaft oder eines entsprechend anderen geschlossenen Kollektivs verhindert; ist er es nicht, der durch seinen Anspruch, in der nationalen Gemeinschaft gleiche Rechte zu genießen, ohne vollständig in ihr aufzugehen, das verwirrende individualistische und kosmopolitische Prinzip in das geschlossene Kollektiv trägt?

Andererseits jedoch sind die Antisemiten überzeugt, dass diese Heterogenität des Judentums nur eine perfide Täuschung sei, dass es sich bei ihm in Wahrheit um eine im Geheimen verschworene uniforme Gemeinschaft handele, die diese ihr eigene Geschlossenheit anderen Völkern missgönne und sie daher gezielt zerstören wolle. So projiziert der Antisemitismus die eigene Homogenitätssehnsucht auf das ungreifbare Prinzip "Jude". Das so erzeugte Zerrbild von "dem Juden" als straff organisiertem Weltverschwörer ruft er dann als Rechtfertigung für die Verwirklichung seiner eigenen Gleichschaltungsgelüste auf.

Antisemitismus ist somit nicht nur ein Angriff auf Juden, sondern auf das Prinzip der offenen Gesellschaft schlechthin, die Individualität, lebensweltlichen Pluralismus und Diversität garantiert und den Einzelnen nicht auf eine einheitliche, alles umfassende kollektive Identität verpflichtet. Diesen Angriff abzuwehren, der sich derzeit von verschiedenen ideologischen Richtung aus massiv verstärkt, ist eine Überlebensnotwendigkeit für die freiheitlichen Demokratien.   

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.