9punkt - Die Debattenrundschau

Seit dreitausend Jahren und neun Monaten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.09.2023. "Erstaunlich, wie schnell Macht sich verflüssigen kann", sagt der Historiker Christopher Clark, der in FR und Welt Parallelen zwischen dem Revolutionsjahr 1848 und der Gegenwart skizziert. Die Flucht der Armenier aus Bergkarabach ist nichts anderes als eine "ethnische Säuberung", schreibt die armenische Schriftstellerin Anna Davtyan in der FAS. Im Tagesspiegel warnt der Politologe Daniel Ziblatt die demokratischen Parteien davor, die Sprache der Rechtsextremen zu imitieren. Und in der Berliner Zeitung findet die Historikerin Hedwig Richter es unanständiger Fleisch zu essen, als das Brandenburger Tor zu beschmieren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.09.2023 finden Sie hier

Geschichte

Buch in der Debatte

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In seinem neuen Buch "Frühling der Revolution" beschäftigt sich der Historiker Christopher Clark mit dem Revolutionsjahr 1848. "Erstaunlich, wie schnell die Macht sich verflüssigen kann", sagt er im FR-Gespräch mit Michael Hesse, in dem er Parallelen zur Gegenwart sieht: "Der Verlust an Respekt ist ein schwer quantifizierbarer Prozess. Dass Parlamentsmitglieder viel weniger Respekt entgegengebracht wird als früher, ist für jeden heute lebenden Menschen spürbar. (…) Jetzt muss man feststellen, dass diese großen Parteiformationen auch in einem Prozess der Verflüssigung begriffen sind, dass die Wählerschaften weniger stabil sind, sogar die Milieus scheinen auseinanderzudriften, zu kollabieren. Dazu kommt, dass es kein richtig nationales Fernsehpublikum mehr gibt, kein nationales Rundfunkpublikum, durch die neuen sozialen Medien haben sich auch die Lesepraktiken der Menschen, also die Art, wie sie sich informieren, verflüssigt und vervielfacht. Wir sind in einer Situation, die nicht ohne Ähnlichkeit und Analogien mit der Situation von 1848 ist. Nur dass es für die Menschen damals selbstverständlich war, während für uns die Entwicklungen neu sind. Geopolitisch bringt uns die Wiederkehr der Multipolarität in eine Welt, die ihrer viel ähnlicher ist als derjenigen der Zeit nach 1945."

"Ein pluralistisches System braucht konservative Menschen, um stabil zu sein", ergänzt Clark im Welt-Gespräch mit Marc Reichwein: "Deswegen ist der aktuelle Amoklauf der Konservativen aus meiner Sicht viel schädlicher als der Amoklauf bei den Linken. Die Linken können sich das leisten, sozusagen. Aber wenn Konservative, die von ihrem Selbstverständnis aus gesehen staatstragend sind, nicht mehr so handeln, wenn sie Wahlen und andere staatliche Institutionen nicht mehr anerkennen und wenn sie sich auf Verschwörungserzählungen und andere Experimente einlassen, wie es in den Vereinigen Staaten besonders fortgeschritten ist, dann kann man nur jeden Konservativen inständig anflehen, bitte wieder konservativ zu werden."


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Einen unaufgeregten Beitrag zur Ost-West-Debatte lieferte die Historikerin Gunilla Budde bereits im vergangenen Jahr mit ihrem Buch "So fern, so nah", in dem sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden deutschen Staaten skizzierte. Waren die Staatsformen noch so unterschiedlich, gesellschaftlich gab es durchaus Parallelen, sagt sie im FR-Gespräch: "Die Familie, die ungeachtet aller Pluralisierungstendenzen auf beiden Seiten weiterhin traditionellen Strukturen folgte, ist dafür ein schlagendes Beispiel. Und es gilt, langlebige Mythen zu entzaubern. Ostdeutsche Frauen haben sicherlich aus der frühen Einbindung in die Arbeitswelt ein größeres Selbstbewusstsein schöpfen können. Aber ihre vermeintlich durchgesetzte Emanzipation stieß auch auf Grenzen. Zum einen blieben ostdeutsche Frauen lange auf wenig qualifizierten und weniger gut dotierten Positionen auf dem Arbeitsmarkt. Und spätestens hinter der Haustür hörte dann die Emanzipation auch meistens auf. Familienarbeit blieb Frauenarbeit - hüben wie drüben. Und die ostdeutsche 'Muttipolitik' der 1970er Jahre zementierte noch die weibliche Zuständigkeit für die Familie."

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Für ihr gerade erschienenes Buch "Nicht einen Schritt weiter nach Osten" hat die Historikerin Mary Elise Sarotte zahlreiche Quellen gesichtet, um Putins Behauptungen über die Nato-Osterweiterung als Propaganda zu entlarven. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag erlaubt es der Nato, sich nach Osten auszudehnen, auch wenn Russland das anders sieht, sagt sie im t-online-Gespräch: "Russland beruft sich auf mündliche Aussagen, nennen wir es meinethalben ein mündliches Gentlemen's Agreement. Auf der anderen Seite haben wir Zwei-plus-Vier, ein schriftliches Vertragswerk. (…) Es ging hart auf hart, jeder wusste, dass nur das zählt, was schwarz auf weiß im Vertrag steht. Und laut Vertrag hatte die Nato eben jedes Recht, sich nach Osten zu erweitern. (…) Moskau hat den Vertrag unterzeichnet, Moskau hat dafür Milliarden kassiert."

Wurde "Bella Ciao" überhaupt von den PartisanInnen der Resistenza gesungen? Historiker bezweifeln das, schreibt Francesca Polistina in der taz: "'Bella ciao', das Partisanenlied schlechthin, jenes Partisanenlied, das jetzt überall in der Welt gesungen wird, war in der italienischen Resistenza sehr wenig verbreitet - wenn überhaupt. Erst später, in den sechziger Jahren, wurde seine Tradition 'erfunden', und das Lied wurde zu dem, was es noch heute ist: zum Symbol des Widerstandes. Dennoch setzte sich ausgerechnet 'Bella ciao' als beliebtestes Resistenza-Lied durch. Zwar wäre ein anderes wie zum Beispiel 'Fischia il vento' passender gewesen, um den Kampf der Partisanen zu zelebrieren. Aber in einem von den Christdemokraten regierten Land, wie es Italien bis zu den Neunzigerjahren war, hatte ein kommunistisches Lied - in dem von einem 'roten Frühling' die Rede war und das von einer russischen Melodie getragen wurde - keine Chancen."
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Gesellschaft

Für fast so viel Wirbel wie das Beschmieren des Brandenburger Tores durch Aktivisten der Letzten Generation hatte ein Tweet der Historikerin Hedwig Richter gesorgt, der die Aktion verteidigte. Im Gespräch mit Susanne Lenz (Berliner Zeitung) plädiert sie nicht nur dafür, die Farbe am Brandenburger Tor zu lassen, sondern glaubt auch, dass die Klimakrise die Demokratie zerstören wird: "Die Menschen in unseren Gesellschaften leben alle momentan ein extrem unbürgerliches, undemokratisches Leben: Es ist zutiefst unanständig, Fleisch zu essen oder viel zu fliegen oder ein dickes Auto zu fahren, weil wir damit unsere Welt und unsere Demokratie, aber auch die Welt der Menschen in anderen Regionen zerstören. Warum nehmen wir das so gleichgültig hin? Wir randalieren doch auch nicht im Haus des Nachbarn oder schlagen auf Fremde ein oder verspeisen die Früchte aus dem Garten der Nachbarin und hinterlassen eine Wüste. Das ist unbürgerlich, undemokratisch, unanständig."
Archiv: Gesellschaft

Europa

Die Brandmauer gegen die AfD wird schwächer, glaubt der Politologe Daniel Ziblatt, dessen gemeinsam mit Steven Levitsky verfasstes Buch "Tyranny of the Minority" kommende Woche in englischer Sprache erscheint. Die demokratischen Parteien sollten koalieren, auch mit der Linkspartei, rät er im Tagesspiegel-Gespräch und warnt, "die Themen und die Sprache der Rechtsextremen zu imitieren. Das geht nach hinten los. Das zeigt die Geschichte der 1920er- und 1930er-Jahre in Europa und den USA. Dadurch legitimiert man die Rechtsextremen, und am Ende entscheiden sich die Wählerinnen und Wähler für das Original. In der Endphase der Weimarer Republik war es die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die das probierte und damit nur die NSDAP stärkte." Stattdessen müssen demokratische Parteien eigene Themen stark machen, etwa in der Migrationsdebatte: "Zu den sensiblen Themen im Bereich Migration gehören Sozialleistungen, öffentliche Sicherheit, vermeintlich verhinderte Aufstiegschancen oder die angebliche Zurücksetzung gegenüber Migranten. Seit die CDU ihre Zurückhaltung in der Rhetorik beim Reden darüber aufgeben hat und eine härtere Sprache wählt, hat die AfD kontinuierlich gewonnen."

"Wer in Deutschland heute suggeriert, dass in einer Situation, in der neun von zehn aufgenommenen Flüchtlingen 2022 aus der Ukraine kamen, mehr Abschiebungen die Kommunen spürbar entlasten würden, weckt Erwartungen, die unerfüllbar sind", schreibt der Migrationsexperte Gerald Knaus, der in der SZ für zügige Migrationsabkommen plädiert - allerdings nur mit sicheren Drittstaaten: "Gelingen solche Abkommen nicht, droht hingegen eine gefährliche Idee an Unterstützung zu gewinnen: dass es auch in der EU nötig ist, gültige Konventionen, Gesetze und Gerichtsurteile an EU-Außengrenzen zu ignorieren. Dass die Menschenwürde von Migranten und Asylsuchenden nicht mehr unantastbar ist. Strategische Abschiebungen ab Stichtagen sind der Schlüssel für humane Grenzen."

"Wenn Putin ein militärisch rationaler Mensch wäre, hätte er längst eingesehen, dass er den Krieg nicht mehr gewinnen kann", meint der Militärökonom Marcus Keupp im ZeitOnline-Interview, in dem er trotz schleppender ukrainischer Gegenoffensive davon ausgeht, dass bald die Niederlage der russischen Streitkräfte feststeht: "Russland hat dreimal so viel militärisches Gerät verloren wie die Ukraine und die russische Armee ist nicht in der Lage, diese Verluste adäquat auszugleichen. Deshalb wird immer älteres Material an die Front geschickt. Bei der schweren Artillerie, die eine bedeutende Rolle im Krieg spielt, haben die Russen sehr große Nachschubprobleme. Sie müssen bereits alte Geschütze ausschlachten, um notwendige Ersatzteile an die Front zu schicken. Aktuell versuchen die russischen Streitkräfte zudem Gastarbeiter aus Zentralasien als Kämpfer anzuwerben. So gut scheint es um die eigene Reserve an Soldaten also auch nicht zu stehen."

Für die "Bilder- und Zeiten"-Seiten der FAZ hat Svitlana Chernetska mit der ukrainischen Drohnenpilotin Lesja Hanzha über den Arbeitsalltag im Krieg, Sexismus in der Armee und die Frage, wie man Frauen für die Armee gewinnen kann, gesprochen: "Die Armee muss lernen, wie sie Frauen für sich begeistern kann. Wir haben nicht so viele Menschen, die bereit und in der Lage sind, zu kämpfen. Und Frauen machen eben fünfzig Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Deshalb muss sich die Armee von der bisherigen Männerzentriertheit verabschieden und lernen, Frauen anzuziehen, indem sie deren Stärken nutzt, statt ihre Schwächen zu betonen. Fast alle Einheiten, die ich kenne, leiden unter Personalmangel. Wenn wir darüber sprechen, ob und wie Frauen in die Armee eintreten werden, sprechen wir eigentlich über den Sieg der Ukraine in diesem Krieg."

Die Flucht der Armenier aus Bergkarabach ist nichts anderes als eine "ethnische Säuberung", schreibt die armenische Schriftstellerin Anna Davtyan in der FAS: "Aserbaidschanische Soldaten drangen in die Dörfer ein, vergewaltigten und ermordeten Menschen, die nicht fliehen konnten. Nach dem Gemetzel wurde der Latschin-Korridor geöffnet. Die Menschen setzten sich in Bewegung, mit Privatautos, in Bussen, zu Fuß kommen sie jetzt nach Armenien. 'Evakuierung' ist nicht das Wort, das hier angebracht ist, richtiger müsste es 'gewaltsame Vertreibung' heißen. Die Menschen sind furchtbarer Gewalt und Erniedrigung ausgesetzt. Wenn ein Bürger von Arzach sich dem Grenzkontrollpunkt Hakari nähert, dann richtet ein aserbaidschanischer Soldat seine Waffe auf ihn - absichtlich oder zum Hohn - und sagt: 'Du gehst doch freiwillig, nicht wahr?' 'Ja', sagt der Bürger von Arzach, der seit dreitausend Jahren und neun Monaten in seinem Land lebt. Und die Medien wiederholen: Die Armenier verlassen Arzach, damit sie keinen ethnischen Säuberungen ausgesetzt werden. Dabei ist diese Umsiedlung bereits eine ethnische Säuberung; Menschen von ihrem Land zu trennen ist eine ethnische Säuberung, das 'Ja' aus dem Munde eines Armeniers, der vertrieben wird, ist ein erzwungenes 'Ja'."
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Kulturpolitik

Den Kampf gegen die alte Ordnung in der Türkei hat die AKP auf nahezu allen Gebieten gewonnen: In Politik, Justiz, Wirtschaft und Medien. Aber weil der Versuch, eine regierungsnahe Kulturszene aufzubauen, scheiterte, setzt Erdogan auf Repression, berichtet Rainer Hermann auf den "Bilder und Zeiten"-Seiten der FAZ. Aber die Künstler lassen sich nicht unterkriegen: "Es gibt nicht ein einziges staatliches Museum für Gegenwartskunst. Die findet überwiegend in privaten Galerien statt. Die dort ausgestellten Objekte reflektieren die Wirklichkeit der Türkei, sie reiben sich an ihr und werden so zu einem Akt des Widerstands. 'Im Vordergrund stehen Genderfragen und queere Kunst', sagt Ferhat Yeter von der Galerie Anna Laudel. Es gibt in der Türkei weit mehr queere Kunst als queere Künstler. Weil aber die Regierung Queeres unterdrücke und bekämpfe, forderten überproportional viele Kunstschaffende sie gerade auf diesem Feld heraus, sagt Ferhat Yeter. Etwa wenn der 1991 geborene türkisch-amerikanische Künstler Sarp Kerem Yavuz traditionelle Motive der türkischen Keramik auf nackte männliche Körper projiziert. Ein anderes Thema sind Verarmung und der Hunger, den die Türken so bisher nicht gekannt haben."
Archiv: Kulturpolitik