9punkt - Die Debattenrundschau

Menschen, die sagen, was die Mehrheit verschweigt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.09.2023. Anna Politkowskaja hatte schon vor zwanzig Jahren über den Putinismus aufgeklärt. Ihre Tochter Vera versucht in der taz zu verstehen, warum die westliche Politik nicht auf sie hörte. Wenn die hannoveranische SPD Gerhard Schröder feiert, dann feiert sie auch seine Russland-Politik, so die FAZ. Das iranische Volk wird den Mullahs die Straße nicht mehr überlassen, hofft Amir Hassan Cheheltan ebenfalls in der FAZ. Der Tagesspiegel erklärt, wie sich das Regime dennoch stabilisiert. taz und FAS versuchen zu verstehen, wie es war, in der DDR jüdisch zu sein. Im Perlentaucher fragt Lacy Kornitzer, wie wir die AfD möglich machen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.09.2023 finden Sie hier

Europa

Die ukrainische Gegenoffensive mag langsamer verlaufen als erwünscht, aber Verhandlungen jetzt haben keinen Sinn, schreibt der NZZ-Korrespondent Andreas Rüesch in einer messerscharfen Analyse für den samstäglichen Leitartikel der Zeitung. Es würde mehr oder weniger nur der jetzige Stand der Front fest gefroren, flankiert mit ein bisschen Gefangenenaustausch: "Ein solches Verhandlungsergebnis brächte das vorläufige Ende des Blutvergießens an der Front, aber keinen echten Frieden. Der Diktator Putin hätte damit seinen Landraub vertraglich abgesichert und wäre in seiner Macht gestärkt. Der in Moskau wütende Großmachtwahn, der immer mehr auch genozidale Fantasien umfasst, wäre ungebrochen. Es gäbe keinerlei Garantie gegen einen neuen Feldzug Putins, denn der Kremlherr hat sämtliche Verträge über die europäische Sicherheitsordnung gebrochen. Seine Zusagen sind wertlos. Der Westen wäre daher gezwungen, die Verteidigungsausgaben auch künftig drastisch zu steigern."


Buch in der Debatte

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Anna Politkowskaja hatte mit ihren Berichten über den Tschetschenien-Krieg und mit ihrer kompromisslosen Benennung des Schuldigen die Welt schon lange vor ihrer Ermordung 2006 über das Wesen des Putinismus informiert. Ihre Tochter Vera hat ein Buch über sie geschrieben. Im Interview mit der taz-Korrespondentin Barbara Oertel antwortet sie auf die Frage, warum westliche Politiker so lange an Putin festhielten: "Es ist wohl weniger Naivität, als eher der unterbliebene Versuch, das Wesen des Regimes verstehen zu wollen." Ihre Bücher seien prophetisch gewesen: "Als sie geschrieben wurden, haben viele Menschen diese Veröffentlichungen als eine sehr starke Übertreibung dessen empfunden, was sich um sie herum abspielte. Dennoch hat die Zeit dieses Bild zurecht gerückt. Es hat sich gezeigt, dass meine Mutter Recht hatte. Ja, auch diese Botschaft ist von ihr geblieben: Dass man Menschen sehr genau zuhören sollte, die sagen, was die Mehrheit verschweigt oder nicht einmal wahrnimmt."

Der Autor und Regisseur Lacy Kornitzer fragt in einem Perlentaucher-Essay, wie wir die AfD möglich machen: "Der Mangel an Courage, dem eklatanten Bruch des Prinzips der Gegenseitigkeit nichts entgegenzusetzen, ist bestürzend. Zu sehen, dass totaler Skrupellosigkeit, totalem Verzicht auf politischen Anstand wieder Respekt gezollt wird. Wie sonst hätte die AfD es bis hierhin geschafft. Gefragt, wie es zum großen Zuspruch komme, zückt Herr Ramelow, Ministerpräsident, Mitglied der Partei Die Linke, die gängige (selbst)mitleidige Aussage, der Mensch hier - Ost - fühle sich nicht respektiert. Und er dreht so den Sachverhalt um: der AfD-Wähler erfahre keinen Respekt dafür, dass er rechtsextrem denkt, fühlt und wählt. Diesem Statement folgt kein weiteres - und mit diesem bedrückenden Zeugnis des Stumpfsinns leistet Herr Ramelow Direktwerbung für die AfD. Kein Wort von den zahlreichen No go areas im Osten Deutschlands, lauter begehbare Zikkurate, in denen schon seit langem Neonazi-Schlägerbanden herrschen beim leisen Einvernehmen der Einwohner, sie helfen uns ja."

Der Irak-Krieg 2003 hatte in Europa und besonders Deutschland die größten Demonstrationen seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst - eine ähnliche Reaktion ließ Putins Krieg gegen die Ukraine vermissen. Jacques Derrida und Jürgen Habermas riefen 2003 zur Bildung einer europäischen Öffentlichkeit auf, ein in mehrfacher Hinsicht blinder Aufruf, denn er setzte auf Zeitungen und schloss Osteuropa aus. Dennoch knüpft eine Artikelserie in Eurozine (mehr hier und hier) und teilweise der taz an diese Initiative an, wir haben in unserer Magazinrundschau mehrfach daraus zitiert. In der taz schreiben heute Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie und machen auf einen anderen Aspekt aufmerksam, der einen heute an Europa zweifeln lässt: "Der deutsch-französische Vorstoß von Habermas und Derrida hat Erwartungen verstärkt, die auch wir in Richtung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik hegten. Prädestiniert dazu war die deutsch-französische Achse, die einmal als Verteidigungsgemeinschaft gedacht war, bevor sie in eine wirtschaftlich fundierte und kulturell untermauerte Erbfreundschaft einmündete. Doch das Tandem ist erlahmt. Das liegt wesentlich an der allen deutschen KanzlerInnen seit Gerhard Schröder anzulastenden Ignoranz gegenüber französischen Plänen eines letztlich auf eine gemeinsame Armee und Diplomatie zulaufenden 'Europa, das uns schützt' (Macron)."

Zwei Figuren der deutschen Zeitgeschichte, Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder, haben runde Jahrestage und sollen sich sogar versöhnt haben - Putinisten sind sie schließlich beide. Lafontaine wird achtzig. Er hat sich zwar aus der Politik zurückgezogen, berät aber "seine vierte Ehefrau Sahra Wagenknecht bei der möglichen Gründung einer neuen Protestpartei", schreibt Michael Schlieben in einer eher belanglosen Würdigung für Zeit online. Bei Schröder muss die Feier für sechzig Jahre SPD-Mitgliedschaft in Hannover absolviert werden, eine Angelegenheit, vor der die Partei eine gewisse Ängstlichkeit zeigt, berichtet Reinhard Bingener in der FAZ. Die Laudatio soll der frühere OB dieses schwarzen Lochs der deutschen Politik, Herbert Schmalstieg, halten. Presse ist nicht zugelassen. "Die geplante Ehrung ist auch in Zusammenhang mit der Bewertung der deutschen Russland-Politik zu betrachten. Schmalstieg gehörte zusammen mit anderen Personen aus Schröders Umfeld in Hannover zu den Unterzeichnern eines Appells von Willy Brandts Sohn Peter Brandt, der unter Berufung auf die Entspannungspolitik seines Vaters die SPD-geführte Bundesregierung dazu aufrief, 'sich gegen den Strom zu stellen' und im Gespräch mit Putin auf einen Waffenstillstand zu dringen."
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Politik

Das iranische Regime hat die Proteste nach der Ermordung Jina Mahsa Aminis niedergeschlagen. Aber das wird sich rächen, meint Amir Hassan Cheheltan in der FAZ: "Menschen, die man aus dem öffentlichen Raum vertrieben hat, lassen sich nicht zu den Wahlurnen rufen. Dreimal wurde während der letzten sechs Jahre deutlich, dass sie ein neues politisches Ziel verfolgen: Sie wünschen weder herkömmlichen Wahlkampf, noch streben sie konventionelle Teilhabe an der Macht an. Sie wollen die Straße erobern, durch lebensorientiertes Engagement. Die Straße symbolisiert alle öffentlichen Räume, gegen deren Einengung man sich widersetzt, indem man sie erobert." In der taz schreibt Gilda Sahebi zum Jahrestag.

Während die Frauen im Iran für Freiheit kämpfen, engagieren sich Islamist:Innen und wohlmeinende Menschen in Frankreich für das Kopftuch. Charlie Hebdo kommentiert die historische Koinzidenz so:


Unter anderem durch Geiselnahmen sichern sich der Iran unterdessen das Schweigen westlicher Staaten. Christian Böhme und Thomas Seibert erläutern im Tagesspiegel, wie es die Mullahs schaffen, ihr Regime zu stabilisieren: "Nach dem Scheitern eines neuen Atomabkommens sind vor allem Moskau und Peking zu wichtigen wirtschaftlichen Partnern und militärischen Verbündeten geworden. Ihre Kassen füllen die Mullahs beispielsweise mit dem Verkauf von Öl nach China und Indien. In einigen afrikanischen Staaten werden iranische Regierungsvertreter mit offenen Armen empfangen. Ein Gefangenenaustausch mit den USA könnte dem Regime schon in den kommenden Tagen den Zugriff auf sechs Milliarden Dollar an Auslandsvermögen ermöglichen, die bisher gesperrt waren. Auch die mögliche Aussöhnung mit dem Erzfeind Saudi-Arabien verschafft Teheran mehr geopolitischen Handlungsspielraum."
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Kulturpolitik

Der ehemalige Verfasungsrichter Hans-Jürgen Papier will die "Beratende Kommission zur Restitution von NS-Raubkunst" in eine "entscheidende Kommission" verwandeln. Sein Vorwurf an die Museen ist, dass sie nach Kräften boykottieren, bisher seien überhaupt nur 23 Werke restitutiert worden (unser Resümee). Aber Patrick Bahners will sich von der kleinen Zahl nicht blenden lassen und attackiert Papier in einem etwas aufgeregt klingenden Leitartikel auf Seite 1 der FAZ: "Unter freihändiger Verwendung von Bekundungen des Abscheus verbreitet der Vorsitzende der Kommission die Botschaft, dass er und seine Kollegen mit einer restitutionsfeindlichen Stimmung zu kämpfen hätten. Alle sachlichen Schwierigkeiten des Unternehmens verschwinden in der einfachen Erklärung, dass es an gutem Willen fehle. Die Museen ganz allgemein werden mit diesem schlimmen Verdacht belegt, weswegen ihnen die Provenienzforschung entzogen werden soll." Im Feuilleton der FAZ informiert Hubertus Butin über den Stand in der Restiitutionsdebatte.
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Geschichte

Im Jüdischen Museum Berlin wird gerade eine Ausstellung über Juden in der DDR gezeigt. taz-Autor Jan Feddersen unterhält sich mit dem Naturwissenschaftler Daniel Rapoport darüber, wie es war in der DDR jüdisch zu sein - seine Familie war wie häufig bei Juden in der DDR besonders staatsfromm, erzählt er. Der Holocaust sei in der DDR aber durchaus Thema gewesen, "nur eben in staatsgenehmer Weise. Aber gelenkte Öffentlichkeiten haben das prinzipielle Problem, dass sie keinen Dissens aushalten, keine echten Debatten erlauben und eben auch kein Korrektiv für den Staat sein können. Sie machen die Meinungen und Befindlichkeiten nicht spürbar - und damit nicht verhandelbar."

Wie das war mit dem Jüdischsein in der DDR, beschreibt auch Raquel Erdtmann in einer FAS-Kritk zur Ausstellung in Berlin: "In der DDR war niemandem bewusst, dass überdurchschnittlich viele prominente Vertreter in Politik, Kunst und Kultur, in Literatur und Wissenschaft, in der Popmusik jüdische Wurzeln hatten. In der Broschüre 'Antifaschisten in führender Position in der DDR' von 1965 waren von 98 Personen 24 Juden. Die ersehnte Egalität. Ähnlich gedachte man in der DDR der jüdischen Opfer kollektiv mit allen anderen, quasi 'klassenlos', als 'Opfer des Faschismus', auch wenn sich zahlreiche Romane und DEFA-Spielfilme der Judenverfolgung widmeten - die Täter natürlich: 'Faschisten'. Die gab es in diesem Staat ja nun nicht mehr, durfte es nicht geben - nur im Westen trieben die bekanntlich noch ihr Unwesen."

Salvador Allendes Chile ist für die westliche Linke eine Idee geblieben, nämlich, die Idee, dass eine "sozialistische Umwälzung ohne Gewalt und ohne Terror" möglich sei. Die Brutalität, mit der August Pinochet dagegen putschte und sich dann noch mit dem Neoliberalismus verbündete, hat die Idee erhalten wie unter einer Käseglocke. Aber sie hält nicht stand, meint Welt-Autor Thomas Schmid: "Als Pinochet 1973 mit der Unterstützung der USA putschte, zerstörte er keineswegs ein florierendes, zukunftsträchtiges Projekt. Das Land lag vielmehr wirtschaftlich, aber auch politisch am Boden. Es war erschöpft. Streiks ohne Ende, eine Inflation von 700 Prozent. Weder Preiskontrollen noch die Verstaatlichung aller Banken und der Rohstoffindustrie konnten den Niedergang aufhalten. Alles Gegensteuern der Regierung Allende machte alles nur noch düsterer und aussichtloser. Pinochet beendete ein gescheitertes Projekt. Die Gewaltsamkeit dieses Endes hat Allende und sein Projekt mit einer Gloriole umgeben, die zwar verständlich, aber dennoch unverdient ist. Allendes Regierung stand im September 1973 vor dem Offenbarungseid."
Archiv: Geschichte