9punkt - Die Debattenrundschau

Schweigen war der Preis

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.08.2023. In Russland gilt der Feminismus inzwischen als extremistische Ideologie, berichtet die FAZ. Wer Fabian Wolffs Israelkritik kritisiert, hat wohl ein schlechtes Gewissen wegen seines Nazi-Opas, meint die Philosophin Susan Neiman in der FR. In der SZ findet der Politologe Joseph de Weck, ein Gutes hätten Aufstieg der AfD und Stagnierung der deutschen Wirtschaft ja: Jetzt seien wir endlich "normal" in der EU. Die taz blickt betrübt auf den westlichen Selbsthass. Die SZ untersucht den Einfluss von Influencern auf den Buchmarkt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.08.2023 finden Sie hier

Europa

"Willkommen in Europa", ruft der Politologe Joseph de Weck Deutschland in der SZ zu, nicht nur angesichts des Aufstiegs der AfD, sondern auch mit Blick auf die stagnierende deutsche Wirtschaft. "Drohen Werkschließungen, dürfte die AfD umso mehr Auftrieb erfahren: Ist man nicht länger stolz auf die Wirtschaft, besinnt man sich auf den politischen Nationalismus", prohezeit er. Aber Weck kann dem auch etwas Positives abgewinnen, mittelfristig eröffne die "Normalisierung" Deutschlands auch Chancen: "Dass Berlin in der Verteidigungspolitik aufholt, ist für Europa ein Gewinn. Wenn die Bundesrepublik anfängt, außenpolitische Glaubenssätze über Bord zu werfen und an ihren wirtschaftspolitischen Dogmen zu zweifeln, kann das auch Spielräume eröffnen: Gleichen sich in der EU nicht nur die politisch-wirtschaftlichen Realitäten an, sondern auch die Diskurse, wächst das gegenseitige Verständnis - erwächst daraus auch mehr gemeinsame Politik in Europa."

Kritik am Westen ist einfach zu haben. Sie kommt oft genug sogar aus der Mitte der westlichen Gesellschaften, meint Robert Misik in der taz. "Heute ist die Idee des Westens längst durch die antiwestlichen Bewegungen im Westen selbst herausgefordert, also durch Orbán, Höcke, Kickl und Trump. Die geopolitische Dominanz des Westens ist sowieso schon untergraben, die ökonomische hat ein Ablaufdatum, und die liberale Demokratie wird von innen in Trümmer gelegt. Es gibt einen regelrechten westlichen Selbsthass. Dieser redet die Errungenschaft von Rechtsstaat und Moderne klein, erklärt die erkämpften Liberalitäten zur Petitesse und betet den Common Sense nach, dass der Westen an allem schuld sei. Das ist die Gewissheit schlichter Gemüter, und zwar völlig unerheblich, was dieser ominöse Westen konkret macht. Schuldig macht er sich, wenn Genozide nicht mit militärischer Gewalt gestoppt werden (wie in Ruanda), und ebenso, wenn völkerrechtswidrig interveniert wird, wie in Libyen oder Afghanistan. Dass der Westen Putin so gekränkt hat, dass er gar nicht anders konnte, als die Ukrainer zu massakrieren, ist die irrsinnigste Konsequenz."

Im Interview mit Spon fürchtet der der Russlandexperte Alexander Gabujew einen langen zermürbenden Abnutzungskrieg in der Ukraine. Russland habe sich eingegraben und können viel mehr Soldaten opfern als die Ukraine. "Die Frage ist, ob man einen Waffenstillstand erreicht, nach dem Moskau die Lust verliert, wieder anzugreifen. Vielleicht, weil das Risiko dann zu groß erscheint. Gelänge das, gäbe es eine Art eingefrorenen Konflikt, unbefriedigend, aber ohne gegenseitigen Beschuss." Das könne jedoch nur gelingen, wenn die Unterstützung des Westens für die Ukraine nicht nachlässt: "Russlands Ressourcen sind kleiner als die eines vereinten Westens. Das Problem ist der politische Wille."

In der Welt warnt der Historiker Ulrich Schlie vor einem drohenden "totalen Krieg" und fordert deshalb nicht nur, die "diplomatische Anstrengungen zu steigern", sondern auch "bald nach Kriegsende alle Anstrengungen auf eine Wiederbelebung der Kontakte nach Russland" zu richten. Denn: "Je länger der Krieg andauert, desto größer die Gefahr, Putin könne Hitlers Fehler wiederholen und die Brücken zur Zivilisation so weit abbrechen, dass für ihn selbst eine Rückkehr an den Verhandlungstisch nicht mehr möglich sein wird." Wie genau die Diplomatie gegenüber Russland auszusehen hat, sagt er nicht. Dafür hat er umso genauere Vorstellungen, wie die Sicherheitsgarantien für die Ukraine nach Kriegsende aussehen sollen: "Treuhandgebiete, entmilitarisierte Zonen, Truppenstationierung, Mitgliedschaft in Nato und - in weiterer Ferne - auch EU. (...) Es ist schwer vorstellbar, dass sich die Ukraine mit einer Neutralitätslösung wie Österreich 1955 abfinden könnte."

In Russland werden immer häufiger Feministinnen drangsaliert, berichtet Anna Narinskaja in der FAZ. Dazu gehören auch die Filmemacherin Schenja Berkowitsch und die Autorin Swetlana Petrijtschuk, die wegen eines noch vor zwei Jahren mit einem staatlichen Theaterpreises ausgezeichneten Stücks über russische IS-Bräute in Haft sitzen. Für das Gericht arbeitende "Destruktologen" störten sich insbesondere an "einer 'feministischen Optik' im Stück, die als solche zerstörerisch und kriminell sei". Das hat inzwischen System, meint Narinskaja: "In der Duma wurde bereits ein Gesetzentwurf eingebracht, der Feminismus als extremistische Ideologie bezeichnet. Die genauen Konturen des Phänomens, das man bekämpfen will, werden darin nicht definiert. Der Autor des Entwurfs, der Abgeordnete Oleg Matwejtschew, verkündet schlicht, Feministinnen 'befassen sich mit der Zerstörung traditioneller Werte, ihr Tun widerspricht dem Ukas des Präsidenten über die Stärkung traditioneller Werte. Sie setzen sich für Scheidung, Kinderlosigkeit, Abtreibung ein, handeln gegen die Demographiepolitik der Russischen Föderation.' Die Formulierung passt zur Äußerung des russischen Gesundheitsministers Michail Muraschko, der jüngst erklärte, ein Modell, wonach eine Frau zunächst eine Ausbildung und Karriere machen und erst danach Kinder bekommen solle, sei verwerflich."

Seit Kriegsbeginn haben die Russen neue Rekordwerte beim Kauf von Antidepressiva aufgestellt, berichtet die in Russland geborene Schriftstellerin Irina Rastorgujewa in ihrer monatlichen Presseschau russischer Medien für die NZZ. Derweil sinkt die Geburtenrate in Russland auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren: "Tatjana Golikowa, Vizeministerpräsidentin und Beraterin des Präsidenten für sozioökonomische Fragen, stellt fest, dass russische Frauen aufgrund des Mangels an Familie, Wohnraum und Einkommen keine Kinder bekommen wollen. Umgehend beschließt die Regierung, alles zu tun, um Frauen beim Kinderkriegen zu unterstützen. Speziell für sie wird der Verkauf von Medikamenten zum Schwangerschaftsabbruch eingeschränkt. Das Gesundheitsministerium will Abtreibungen in allen privaten Kliniken verbieten, wie es in Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien schon der Fall ist. Gesundheitsminister Michail Muraschko erklärt, dass die Ausbildung der Frauen vor dem Kinderkriegen 'eine absolut bösartige Praxis' sei. Und der Abgeordnete Milonow schlägt vor, die Zwangsbefruchtung für Frauen über 24 Jahre einzuführen. Um die potenziellen Väter der Nation sorgt sich die Regierung ebenfalls: Das Wehrpflichtalter wird von 27 auf 30 Jahre angehoben."

Noch heute wird Franco in konservativen katholischen Milieus Spaniens als Bewahrer der Kirche vor republikanischer Verfolgung verehrt, schreibt Michael Uhl in der NZZ. Und noch immer sei der Einfluss des spanischen Nationalkatholizismus vor allem im Bildungsbereich spürbar: "Die alten Eliten zeigen sich resistent gegenüber heutigen Versuchen einer Aufarbeitung der Franco-Zeit und einer Rehabilitierung ihrer Opfer durch die sozialistische Regierung. Schweigen war der Preis, den Spanien nach Francos Tod am 20. November 1975 für den friedlichen Übergang von einer Militärdiktatur zu einer parlamentarischen Monarchie bezahlte. Laut einer Untersuchung des Erziehungswissenschafters Enrique Javier Díez von der Universität León wissen junge Spanier oft mehr über Hitler als über ihren eigenen Diktator."
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Gesellschaft

"Es ist doch absolut identitäres Denken, wenn man glaubt, nur die Juden und Jüdinnen dürften die Regierung in Israel kritisieren", winkt im FR-Gespräch mit Michael Hesse die jüdische amerikanische Philosophin Susan Neiman sämtliche Kritik an Fabian Wolff ab, in völliger Verdrängung der Tatsache, dass es Wolff war, und sonst niemand, der diese Behauptung aufgestellt und sich so gegen jede Kritik an seinen Ansichten gewehrt hatte. Wolffs Israelkritik enhalte im übrigen keine "Dämonisierungen", sondern "vernünftige Argumente gegen die israelische Besatzung", meint sie. In Wahrheit gehe es auch gar nicht darum, dass Fabian Wolff ein Kostüm-Jude sei, sondern um das, was er gesagt hat. "Ich weiß, die Deutschen haben eine unglaubliche Angst, nur einen kritischen Satz zu Israel zu sagen. Aber da spricht nicht die Vernunft, sondern ihr schlechtes Gewissen wegen des Nazi-Opas. Seien wir ehrlich: Die Blut-und-Boden-Ideologie ist immer noch da."
Archiv: Gesellschaft

Kulturmarkt

Plattformen wie Youtube, Tiktok, Instagram, aber auch Amazon, Buecher.de, Lovelybooks oder Goodreads produzieren heute Bestseller, urteilen mitunter aber auch darüber, ob ein Buch überhaupt veröffentlicht werden darf, berichtet Christiane Lutz in der SZ. Denn hier bestimmen die Communities durch (die Anzahl der) Bewertungen, was gelesen werden muss. Piper-Verlegerin Felicitas von Lovenberg begrüßt das: "'Grundsätzlich gilt: The more the merrier. Wenn ein Buch häufig vorkommt, auch wenn die Rezensionen gemischt sind, kann das wirkungsvoller sein als ein Buch, das dreimal sehr gut besprochen wird. Quantität spielt eine Rolle.' Das beziehe sich allerdings nur auf bestimmte Titel. Die Relevanz von Bewertungen im Netz sei rund um den Erscheinungstermin eines Buches besonders hoch. Später spiele es dann kaum noch eine Rolle, ob ein Buch 100, 300 oder 3000 gute Bewertungen hat."

Ebenfalls in der SZ berichtet Erika Thomalla von einem Streit zwischen den Influencern und Vloggern von Booktube und Booktok. Die ältere Generation der Booktuber wirft den Influencern von Booktube "Bulimie-Lesen", also das Verschlingen möglichst vieler Bücher, um kurzfristige Trends zu erzeugen, vor. Aber vor allem die Booktoker haben Einfluss, erfahren wir: "Ein Einfluss, den der Buchmarkt deutlich spürt. Unter Menschen zwischen 16 und 29 Jahren geht die Zahl derer, die überhaupt Bücher kaufen, zwar ähnlich stark zurück wie im Rest des Publikums. Das zeigen Daten, die der Börsenverein des deutschen Buchhandels gerade veröffentlicht hat. Die jungen Leute, die lesen, kaufen aber mehr Bücher als noch vor wenigen Jahren und geben mehr Geld dafür aus: 'Die Ausgaben der 16- bis 29-Jährigen stiegen zwischen 2017 und 2022 um rund 8 Prozent', berichtet der Börsenverein, dabei sei 'mehr als jeder vierte für Bücher ausgegebene Euro von Social Media inspiriert'." Auch das Börsenblatt meldet, dass der von Claudia Roth ins Leben gerufene Kulturpass für Achtzehnjährige vor allem für Bücher investiert wird.

Aber wie gesagt: Auch Mangas sind Bücher!
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