9punkt - Die Debattenrundschau

Ungeheuer langweilen sich nicht

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.11.2022. Claudia Roth hat ihre Rolle als Kulturpolitikerin noch nicht gefunden, konstatiert die FAZ in einer kritischen Bilanz ihres ersten Jahrs als Kulturministerin. Schon ihre Vorgängerin Monika Grütters hat in der Coronakrise die Kulturmiiliarde zumindest teilweise an die Falschen vergeben, hat Dlf Kultur herausgefunden. Ahmad Mansour kann es in der NZZ mit Blick auf Katar nicht fassen, wie naiv Europa mit dem politischen Islam umgeht. In der SZ wirft die Politologin Azadeh Zamirirad der iranischen Diaspora vor, sich mit internen Kämpfen lahm zu legen. Trump kandidiert neu, und die Republikaner trauen sich nicht ins Labyrinth, konstatiert David Frum in Atlantic.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.11.2022 finden Sie hier

Kulturpolitik

Claudia Roth hat ihre Rolle als Kulturpolitikerin noch nicht gefunden, schreibt Andreas Kilb in der FAZ, der Roths erstes Amtsjahr recht kritisch resümiert. Bei der Documenta sei sie vor allem mit Zurückrudern beschäftigt gewesen. Das Humboldt-Forum wolle sie in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz eingliedern, aber damit beschädige sie dessen Intendanten Hartmut Dorgerloh, der als einziger in dem Haus kreativ mit der postkolonialen Herausforderung umgeht, so Kilb. Und die Reform der Stiftung trete auf der Stelle, statt dessen wolle Roth nur deren Namen ändern, der doch genau beschreibt, was die Stiftung ist: "Sie bremst ein Projekt aus, bei dem es um größere Autonomie und bessere Vernetzung der Museen, um Personal- und Budgethoheit, schlankere Hierarchien und angemessene Finanzierung geht. Für dieses Vorhaben war das erste Amtsjahr von Claudia Roth ein verlorenes Jahr. Die nächste Sitzung des Stiftungsrats Anfang Dezember bietet die vorerst letzte Chance, den Reformprozess wieder in Gang zu bringen. Lässt man sie verstreichen, liefert man die größte deutsche Kulturinstitution ihren inneren Beharrungskräften aus."

Als die Corona-Pandemie noch Panik auslöste, im Jahr 2020, schlug die Stunde der Lobbyisten. Ein Rechercheteam von Dlf Kultur hat sich die Corona-Förderungen näher angesehen, die in den Kunstmarkt flossen. Die Bundesregierung, noch vertreten von Monika Grütters, verhandelte mit Kristian Jarmuschek vom Bundesverband Deutscher Galerien und Kunsthändler (BVDG) und anderen Repräsentanten des kommerziellen Kulturbetriebs. Wider Erwarten liefen die Geschäfte der Galerien dann doch glänzend. Aber die Förderung bekamen die Galerien trotzdem: "Maximal 70.000 Euro Fördergeld konnten einzelne Betriebe so bekommen. Der tatsächliche Bedarf? Wird nicht überprüft. Somit bekommen selbst deutsche Spitzengalerien mit Millionenumsätzen staatliches Fördergeld, darunter große Namen wie Sprüth Magers oder König Galerie. Oder die Galerie Eigen + Art von Gerd Harry Lybke, den die Kunstwelt nur als 'Judy' kennt. Sie verzeichnete im Jahr vor der Pandemie bei einem geschätzten Umsatz von 21 Millionen Euro einen Gewinn von 2,6 Millionen Euro. Ein Jahr später, am Ende des Coronajahres 2020, liegt der Umsatz Schätzungen zufolge bei 26, der bilanzierte Gewinn bei 3,65 Millionen Euro. Dennoch erhielt Eigen + Art staatliche Fördergelder von über 80.000 Euro."

Ursula Scheer greift die Recherche des Senders in der FAZ auf und ergänzt: "Hiesige Galerien konnten als Einzelhandelsunternehmen aufsperren, als andere, auch Museen, noch dicht hatten. Eilends bauten sie Onlinepräsenzen aus und erlebten, dass die Kundschaft dort gerne zugriff."
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Medien

Immer wieder werden Reporter bei ihrer Arbeit behindert.

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Europa

Am Sonntag geschah in Istanbul auf der Istiklal-Straße ein Attentat, das sechs Menschenleben kostete. Eilends sperrte die türkische Regierung das Internet und präsentierte eine angebliche Attentäterin, die zwar keine Kurdin ist, aber für die PKK die Bombe gelegt haben soll. Bülent Mumay findet diese Version in seiner FAZ-Kolumne höchst verdächtig und stellt Kontext her - die von Tayyip Erdogans im Juni angestrebte Wiederwahl: "Erstmals steht die Opposition tatsächlich bereit, Erdogan zu schlagen. Die entscheidenden Stimmen dabei hält die Kurdenpartei HDP. Wenn ihr Stimmenpotenzial von rund zehn Prozent an den Kandidaten der Opposition geht, dürfte sich die seit zwanzig Jahren bestehende Situation im Land ändern. Dieser Tatsache sind sich Erdogan und seine Leute bewusst. Sie kriminalisieren die HDP, gegen die ein Verbotsverfahren läuft, und die kurdischen Wähler in dem Versuch, sie von der Wahlurne fernzuhalten."
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Stichwörter: Türkei, Pkk, Mumay, Bülent

Politik

Im Interview mit der NZZ warnt der unter Polizeischutz lebende Extremismusforscher Ahmad Mansour, dessen Buch "Operation Allah" gerade erschienen ist, vor dem politischen Islam. Und er erklärt, warum er die WM in Katar boykottiert: "Ich will bei diesem schmutzigen Geschäft nicht mitmachen. Ich habe es satt, dass die Europäer so naiv mit dem Thema des politischen Islams umgehen. Sie unterstützen ein Regime, das einen hässlichen, antisemitischen, islamistischen Nahen Osten will. Das ist gegen all meine moralischen Vorstellungen, egal, wie groß die Liebe zum Fußball ist. ... Wir hatten in den letzten Jahren kriegsähnliche Situationen zwischen arabischen Ländern und Katar. Nicht ohne Grund gab es die Blockade von Saudiarabien, Ägypten, Bahrain und den Vereinigten Arabischen Emiraten: Katar hatte für diese Länder mit der Unterstützung des politischen Islams eine Grenze überschritten. Aber das will man in Europa nicht wahrhaben. Man versteht nicht, wie zerstörerisch die Kraft der Katarer im Nahen Osten und teilweise in Europa geworden ist."

In der SZ wirft die Politikwissenschaftlerin Azadeh Zamirirad von der Stiftung Wissenschaft und Politik der iranischen Diaspora vor, sich mit internen Kämpfen lahm zu legen, weil einige sich in Sanktionswünschen überbieten. Das sei fruchtlos, vielmehr tue konkrete Hilfe not, die gerade die Diaspora liefern könne: "Für jede einzelne Person, der die Todesstrafe unmittelbar bevorsteht, braucht es gezielte Aufmerksamkeitskampagnen und direkten Einsatz europäischer Staaten. Die iranische Diaspora ist ein integraler Bestandteil dieser Bemühungen. ... Sie könnte auch in anderen Bereichen noch mehr tun, wenn US-Sanktionen nicht im Weg stehen würden. Partielle Sanktionsaussetzungen im Bankenwesen würden es Millionen Iranerinnen und Iranern im Ausland ermöglichen, ihre Angehörigen finanziell zu unterstützen. So könnten informelle Streikfonds gebildet werden, damit iranische Bürger auch über Monate hinweg ihre Arbeit niederlegen und damit die gesellschaftliche Gegenwehr verstärken können. Das Potenzial der Diaspora ist und bleibt gewaltig. Statt sich selbst zu zersetzen, sollte sie endlich ihre Kräfte bündeln."

Donald Trump mag in den Midterm-Wahlen geschwächt worden sein, aber auch die gemäßigten Republikaner haben sich ihm nicht wirklich widersetzt, und seine gerade annoncierte neue Kandidatur muss nicht aussichtslos sein, warnt David Frum in Atlantic. Er kommt auf den Theseus-Mythos zurück: Theseus geht ins Labyrinth, kämpft gegen das Ungeheuer und gewinnt. "Theoretisch hätte der Held warten können, bis das Ungeheuer sich langweilt und sich freiwillig aus dem Ungeheuergeschäft zurückzieht. Aber das ist nur eine Ausrede, um das Ungeheuer gewinnen zu lassen. Ungeheuer langweilen sich nicht, sie ziehen sich nicht zurück. Diejenigen, die nicht gegen das Ungeheuer kämpfen und es besiegen wollen, werden von ihm gedemütigt und vernichtet. Dieses Schicksal droht nun einer republikanischen Elite, deren einzige Idee es ist, sich zu verstecken, sich zu drücken und zu herumzumurmeln."
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Religion

Die Islamisierung in Indonesien schreitet voran. Zwar gebe es in dem Land auch einen moderaten Islam, erzählt Till Fähnders, der Südostasien-Korrespondent der FAZ, aber dazu zählt er etwa auch religiöse Schulen, auf die gerade die Eliten ihres Landes ihre Töchter schicken. Eine hat Fähnders besucht: "Der Lehrer sagt, die Anforderungen seien höher als an den staatlichen Schulen, allein weil die Kinder anstatt in elf Fächern hier in 18 Fächern unterrichtet werden. Die Schüler bekommen einen Lehrplan vom Religionsministerium, unter dem sie Koranstudien, religiöse Ethik, islamische Gesetze und Geschichte sowie Arabisch lernen. Der zweite Lehrplan vom Bildungsministerium umfasse Englisch, Naturwissenschaften, Geschichte, Gesellschaft, Staatsbürgerkunde und Javanisch."

Adrian Beck analysiert bei hpd.de einen wesentlichen Erfolgsfaktor gerade für die extremeren Republikaner in den USA: die kaum kontrollierte Macht der evangelikalen Kirchen. "In den Vereinigten Staaten sind Kirchen von Bundessteuern befreit, müssen sich im Gegenzug aber an ein politisches Neutralitätsgebot halten. Das nach dem federführenden Senator benannte Johnson-Amendment wird jedoch von bestimmten evangelikalen Kirchen zunehmend provokant ignoriert, während die IRS, das US-amerikanische Finanzamt, sich aus der Verantwortung stiehlt. In einer gemeinsamen Recherche haben ProPublica und der TexasTribune zwanzig Kirchen gefunden, die das Johnson-Amendment in den vergangenen zwei Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit verletzt haben - das sind mehr, als die IRS im gesamten vergangenen Jahrzehnt wegen Beeinflussung politischer Kampagnen untersucht hat."
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