9punkt - Die Debattenrundschau
Endlich mal Gedanken machen
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Internet
Für Webseitenbetreiber ist die Datenschutzgrundverordnung (kurz DSGVO) ein bürokratischer Horor mit juristischen Risiken. Aber Tanja Tricarico findet die gemeinsame Maßnahme von 28 EU-Ländern gegen Datenmissbrauch in der taz höchst lobenswert: "Wer Daten haben will, muss fragen und um Erlaubnis bitten. Wer das nicht tut, wird bestraft und muss zahlen, im besten Fall sogar empfindlich hohe Geldbeträge. Nahezu jeder, der auch nur ansatzweise in Berührung mit Datenflüssen kommt, nervt noch vor Fristablauf seine Nutzer*innen mit der Brüsseler Verordnung und fordert ihre Zustimmung."
Eine besonders beliebte Branche profitiert auch schon, schreibt Tricarico in ihrem Bericht: "Die neue Gesetzeslage hat bereits neue Geschäftsmodelle entstehen lassen. So haben sich Anwaltskanzleien auf die Einhaltung der DSGVO spezialisiert, andere 'vermieten' sogar Datenschutz-Experten. Mindestens einen hauptamtlich Zuständigen fordert nämlich die DSGVO für Firmen, die Daten verarbeiten."
Der Grünen-Politiker Jan-Philipp Albrecht, der maßgeblich an der DGSVO beteiligt war, wendet sich auf seiner Website gegen einen kritischen Artikel Sascha Lobos und verteidigt das komplizierte Gesetzeswerk, das kleine Seitenbetreiber angreifbar macht: "Es ist gut, dass jetzt an vielen Orten ein Datenschutz-Frühjahrsputz stattfindet und auch kleine Unternehmen, Vereine oder Blogger sich endlich mal Gedanken machen, welche Daten sie eigentlich erheben, warum, und ob das wirklich so nötig ist."
In den Kommentaren zu diesem Artikel antwortet Sascha Lobo: "Oh wow, was für eine Von-oben-Herab-Passage, die zeigt, dass Dich die Schwierigkeiten von kleinen Selbständigen wirklich nicht interessieren, warum auch immer. Du weißt so gut wie ich, dass eine 'nicht-private' Tätigkeit extrem schnell erreicht sein kann. Ein Buchempfehlungslink reicht, oder wenn man ein Blog führt, das zu einem im weiteren Sinn beruflichen Thema gehört."
Außerdem: Die Wirtschaftsinformatikerin Anna Jobin macht in Bezug auf Algorithmen in der NZZ klar: "Die wichtigste Entscheidung gehört .. nicht automatisiert: Wo und zu welchem Zweck werden algorithmische Prozesse eingesetzt, und wer kann bezüglich deren Funktionsweise und Optimierung Mitsprache halten?"
Politik
Auf pen.org setzen sich Schriftsteller, Schauspieler und Künstler, darunter J.M. Coetzee, Siri Hustvedt und Paul Auster, in einer Serie von Videos für die Freilassung von Liu Xia ein, meldet der Tagesspiegel.
Ideen
Europa
Der Politologe Piero Ignazi kann die antieuropäischen Töne aus der neuen links- und rechtspopulitischen Koalition in Italien im Gespräch mit Michael Braun von der taz nicht ganz ernst nehmen: "Gewiss wird es den Versuch geben, Dinge in Europa zu ändern. Das hat aber auch etwas infantile Züge. Die Neuankömmlinge denken, bloß weil sie jetzt da sind, würde sich in Europa alles ändern. Das ist einigermaßen naiv, das ist die Naivität derer, die bisher nie an den europäischen Verhandlungstischen gesessen haben. Doch binnen weniger Wochen werden sie die Realität zur Kenntnis nehmen."
Paul Ingendaay zitiert in der FAZ Tweets und Artikel des neuen Katalanischen Regionalpräsidenten Quinn Torra, die als Angebot zur Verständigung kontraproduktiv wirken könnten, zum Beispiel diese Passage: "Sie sind hier, unter uns. Jeden Ausdruck des Katalanischen finden sie widerwärtig. Es ist eine krankhafte Angst. Etwas Freudianisches steckt in diesen Bestien. Oder ein Knick in ihrer DNA-Kette... Die Bestien haben Namen und Vornamen. Wir alle kennen welche. Sie leben, sterben und vermehren sich."
Kulturpolitik
Auch im SZ-Interview mit Jörg Häntzschel will Dorgerloh lieber noch keine konkreten Ideen für das Humboldt Forum benennen und äußert sich entsprechend zu dem Vorwurf, dass überwiegend Berliner Männer zwischen 50 und 60 Jahren Schlüsselpositionen besetzen: "Es wird noch viel Personal eingestellt werden, und dabei werden Genderbalance und Internationalität wichtige Kriterien sein. Ich muss aber auch sagen: Ein guter Friseur muss nicht viele Haare haben. Das betrifft auch meine Person. Ich kann nichts daran ändern, dass ich ein weißer Mann bin."
Medien
Gesellschaft
Dei diesjährige Siegerin des Grand Prix d'Eurovision, Netta Barzilai, hat bei ihrer Performance ein kimonoähnliches Gewand getragen. Das ist "kulturelle Aneignung", die die Japaner im Innersten ihrer Herzen verletzen könnte, fürchtet Lin Hiersch in der taz und entwickelt einen wahrhaft revolutionären Begriff von kulturellen Prozessen: "Kulturellen Austausch und somit auch den Handel mit und die Weitergabe von kulturraumtypischen Objekten hat es schon immer gegeben. Das ist jedoch nie im luftleeren Raum geschehen, sondern im Kontext von Kolonialherrschaft, (Kultur-)Imperialismus und den impliziten ungleichen Machtverhältnissen - der 'Austausch' ist daher im Kern kein Austausch, sondern oft gewaltsame Ausbeutung." In Japan?