9punkt - Die Debattenrundschau

Konsequenz der Umstände

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.07.2017. "Es ist der dunkelste Tag in der polnischen Geschichte seit 1989", schreibt Anne Applebaum auf Twitter - das Parlament hat die Justiz gleichgeschaltet, aber Zehntausende haben heute Nacht protestiert. Warum kriegen Sozialdemokraten beim Blick auf Russland eigentlich vor Rührung feuchte Augen, fragt die Welt.  Soziologen streiten in der Zeit: Der eine sagt, wir brauchen keine Linke mehr, der andere sagt doch. Und Ärger im Humboldt-Forum: Die Kunsthistorikerin Benedicte Savoy erklärt, warum sie den Expertenbeirat verlässt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.07.2017 finden Sie hier

Europa


"Es ist der dunkelste Tag in der polnischen Geschichte seit 1989", schreibt Anne Applebaum auf Twitter. Das polnische Parlament hat  die Justiz des Landes quasi gleichgeschaltet. Hohe Richter können vom Justiziminister schlicht entlassen werden, ein willfähriges Gremium sucht dann neue aus (unser Resümee).  Immerhin berichtet Zeit online mit Agenturen, dass noch gestern Abend "Zehntausende Polen gegen die Justizreform auf die Straße gegangen" sind.  "Nach Angaben der Stadt versammelten sich vor dem Warschauer Präsidentenpalast 50.000 Menschen, die Polizei sprach von 14.000. Die Demonstranten forderten, dass der polnische Präsident Andrzej Duda sein Veto gegen die Reform einlegt. Sie sehen die Unabhängigkeit der polnischen Justiz bedroht und forderten unter anderem ein 'freies europäisches Polen'." In politico.eu erklärt Michal Broniatowski nochmal, was genau beschlossen wurde.

Richard Herzinger kann sich in der Welt das Verständnis der SPD für die russische Autokratie nur mit einer "gefährlichen Unlogik" erklären: "Lässt man gewisse Geschäftsverbindungen außer Acht, stößt man da bald auf einen weiteren sozialdemokratischen Mythos: die Entspannungspolitik der siebziger und achtziger Jahre. Die reklamierte Schröder in Dortmund 'ganz allein' für die SPD. Tatsächlich aber hätte sie ohne Rückendeckung durch die USA unter Richard Nixon kaum so erfolgreich sein können. Und sie wurde nur möglich, weil der Westen zuvor den Expansionsdrang der Sowjets durch konsequente Rüstung gestoppt hatte. Die Entspannungspolitik besaß zudem anfangs eine starke Menschenrechtskomponente. All das kommt im verklärten Bild der SPD nicht vor."
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Kulturpolitik

"Das Humboldt-Forum ist wie Tschernobyl", meint die Kunsthistorikerin Benedicte Savoy, die den Expertenbeirat des Humboldt-Forums kürzlich verließ, im SZ-Gespräch mit Jörg Häntzschel. Sie vermisst eine Aufklärung der Provenienzen, außerdem habe sich das Gremium seit 2015 nur zwei mal getroffen: "Ich war erleichtert und hoffnungsvoll, als Neil MacGregor kam. Doch kaum war er berufen, war klar, dass dieselben Institutionen weitermachen, die es in den zehn Jahren davor nicht hinbekommen hatten. Auch ein MacGregor kam nicht an gegen die Schwerfälligkeit dieser Institutionen. Wie schon zuvor fehlt es an Transparenz, Teamgeist, Verantwortung. Selbst mit politischem Willen, viel Geld und einem guten Kopf hat so ein Projekt keine Chance."
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Medien

In der Welt spricht Christian Meier mit dem Journalistik-Professor Michael Haller, der eine Studie zur Berichterstattung über die Flüchtlingskrise durchführte. Deutschen Zeitungen wirft er Einseitigkeit vor: "Die Agenda der meinungsführenden Tageszeitungen wird von Berlin bestimmt." Und weiter: "Einer solide gemachten Erhebung zufolge glaubt fast die Hälfte der Bevölkerung,
die Bundesregierung würde tagtäglich den Journalisten vorschreiben, über was sie wie zu berichten hätten. Das heißt, sie sprechen dem etablierten Journalismus jede Glaubwürdigkeit ab. Glauben Sie, dass demnach rund die Hälfte der Deutschen einen Knall hat? Wohl kaum."
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Politik

Wenn der Burkini ein politisches Kleidungsstück ist, dann ist es auch der Bikini. Bei emma.de berichtet eine namenlose Journalistin über eine Frauengruppe, die in der nordalgerischen Stadt Annaba im Bikini für ihre Freiheit zu baden demonstriert: "In einer geheimen Facebook-Gruppe verabreden sie sich zweimal pro Woche, um mit vereinten Kräften gegenzuhalten gegen den immer stärker werdenden Druck der religiösen Fundamentalisten. Ihre Guerilla-Taktik: Niemand außer den Facebook-Frauen kennt Ort und Zeit der Aktion. So überraschen sie die Möchtegern-Sittenwächter mit ihrem Auftritt in Badeanzügen und Bikinis."
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Stichwörter: Algerien, Burkini

Kulturmarkt

Die Lufthansa hat eine gute Idee. Sie möchte ihren Passagieren mit dem Hörbuchanbieter Audible Inhalte anbieten. Nur eines wundert die bei Buchmarkt schreibende Autorin Nina George: "Sie beide wollen also Kulturwerke in dem Lufthansa-Bordservice sechs Monate lang, für in dieser Zeit rund 35 Millionen Passagiere anbieten (Gut, nehmen wir mal 'nur' alle deutschsprachigen, bleiben 'nur' noch einige Millionen), aber nicht dafür zahlen. Sie argumentieren dies konzertant mit 'Erstkontakt mit dem Medium Hörbuch' und 'enormer Reichweite'."
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Medien

Maria Furtwängler spricht mit Nora Burgard-Arp von Meedia nochmal über ihre Studie zu Frauenrollen im Fernsehen: "Die Diversität des Frauenbildes muss breiter werden. Warum gibt es nicht mal eine dicke, übellaunige, alte Kommissarin? Das kann man sich ja bislang im deutschen Fernsehen kaum vorstellen. Frauen werden oft wahlweise liebeshungrig oder übertough dargestellt. Ich möchte Geschichten über Frauen jenseits der vierzig sehen, die etwas bewegen, Geschichten über richtige Macherinnen."

Hingewiesen sei auch auf einen Artikel von Kornelius Friz im Hamburger Lokalteil der taz, der über einen Streit am Hildesheimer Literaturinstitut berichtet: "Es ist kein Zufall, dass in Hildesheim neben derzeit sechs Männern mit Jenifer Becker nur eine Frau Literatur und Schreiben unterrichtet - als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Die Studentinnen am Institut sind dagegen mit achtzig Prozent in der Mehrheit. Hieran einzelnen Figuren wie Christian Schärf oder Hanns-Josef Ortheil, dem Gründervater des Instituts, die Schuld zu geben, würde das Thema verfehlen. Die Benachteiligung von Frauen ist vielmehr auch im Literaturbetrieb ein strukturelles Problem, das alle betrifft".
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Ideen

Und es braucht doch eine Linke, entgegnet der Soziologe Stephan Lessenich auf Zeitonline kopfschüttelnd seinem Kollegen Armin Nassehi, der vergangene Woche in derselben Zeitung behauptete, der globalisierten Welt sei es noch nie so gut wie heute gegangen und der gesamten Linken keinen Sinn für "widerstreitende Kräfte" und einen autoritären Geist vorwarf: "Die gegenwärtige Linke, auf einmal vereint im Glauben an das steuernde Zentrum, den großen Plan, den direktiven Eingriff? Die in Hamburg in all ihrer Vielfalt - und Widersprüchlichkeit - sichtbar gewordene Bewegungslinke: eine Ansammlung verwirrter Wiedergänger von Günter Mittag, eine skurrile Zombieveranstaltung unverbesserlicher Adepten von Kommandowirtschaft, ein Haufen Sozialingenieure? Wo doch linke Akteure und Aktivitäten, Narrative und Theorien, Ziele und Strategien so unendlich divers sind, dass man seit Jahrzehnten an den in diesem Milieu immer wieder lustvoll inszenierten Grabenkämpfen und Spaltungstendenzen schier verzweifeln mag."

Marc Felix Serrao sucht in der NZZ Erklärungen für das Verständnis, das Akademiker linker Gewalt entgegenbringen: "Ein Begriff, der das linke Gewaltverständnis von Anfang an prägt, ist 'strukturelle Gewalt'. Damit ist der Kapitalismus als solcher gemeint. Am Beispiel der Autonomen: Die Gewalt geht nicht vom Steine werfenden Vermummten aus. Vielmehr ist die Welt, der sich dieser junge Revolutionär ausgesetzt sieht, selbst ein Gewaltakt, mit entfesselten multinationalen Konzernen und imperialistischen Staaten, die am Fließband Kriege, Hungersnöte und Fluchtbewegungen auslösen. Der Übergriff gegen den nur indirekt verantwortlichen, aber die Verhältnisse stabilisierenden Polizeibeamten ist eine Konsequenz der Umstände. Notwehr."
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