9punkt - Die Debattenrundschau

Alles im Rahmen des Üblichen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.07.2017. Die Bürger in China entkommen der lückenlosen Überwachung per Gesichtserkennung nicht mehr, berichtet die taz. Wir leben heute in Europa in der besten aller Kulturen, meint der Freiburger Philosophieprofessor Andreas Urs Sommer in der NZZ. In Deutschland ist die Zahl der von Genitalverstümmelung bedrohten Mädchen gestiegen, berichtet die SZ. Frauen in Kultur und allen Medien sind mit ihrem Status höchst unzufrieden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.07.2017 finden Sie hier

Überwachung

Mancher kriminelle Akt, aber auch jegliche politische Subversion werden in China zusehends unmöglich, schreibt  David Bandurski für die taz über Gesichtserkennungssoftware in den Städten und Verknüpfung von Datenbanken: "China ist in vieler Hinsicht führend darin, Big Data und intelligente Maschinen im Feld der Strafverfolgung und Sozialkontrolle anzuwenden... Örtliche Polizeistationen können in China nicht nur auf Überwachungskameras in Wohngebieten und an anderen Orten zugreifen. Sie können sich zudem in die nationalen Melderegister einloggen - und diese werden dann unverzüglich mit Daten über Fahrkarten- und andere Einkäufe verknüpft, für die man in China seinen Ausweis zeigen muss."
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Europa

Thomas Steinfeld beschreibt in der SZ, wie sich italienische Städte - allen voran Venedig - gegen den Überhand nehmenden Tourismus wehren wollen. Aber dem Dilemma entkommen sie nicht: "Auf der einen Seite wollen Politiker und Unternehmer auf die Touristen nicht verzichten. Alle sollen willkommen sein, denn sie bringen das Geld in die Stadt. Auf der anderen Seite ist beim besten Willen nicht mehr zu übersehen, dass die Touristen das Ziel zerstören, das sie zu erreichen suchen. Irgendwann in den vergangenen Jahren wurde dabei offenbar eine Linie überschritten: eine Grenze, jenseits derer Venedig aufhört, als Gemeinwesen zu funktionieren und also keine Stadt mehr ist, sondern eine Art Themenpark."
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Religion

Der Bericht ist raus. Über 500 Chorknaben der Regensburger Domspatzen mussten Gewalt und sexuellen Missbrauch erleiden. In der SZ berichtet Andreas Glas: "Der Domspatzen-Skandal ist mit prominenten Vertretern der katholischen Kirche verbunden: Georg Ratzinger, der Bruder des früheren Papstes, zwischen 1964 und 1994 Chorleiter, und Kardinal Gerhard Ludwig Müller, der von 2002 bis 2012 Bischof in Regensburg war. Ratzinger hatte die Aufarbeitung des Skandals noch vor zwei Jahren einen 'Irrsinn' genannt. Allenfalls von Ohrfeigen habe er gewusst, alles 'im Rahmen des Üblichen'."

Etwas zu sehr auf Luther fixiert findet der Theologe Jörg Lauster im Interview mit der NZZ das Reformationsjubiläum. Schließlich gab's auch noch andere Reformatoren. Interessant wäre auch die Frage, was die Botschaft eines europäischen Christentums sein könne: "Die Aufklärung ist eine große Errungenschaft, und zwar auch für die Religion."
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Ideen

Wir leben heute in Europa in der besten aller Kulturen, meint der Freiburger Philosophieprofessor Andreas Urs Sommer in der NZZ. Gerade weil wir uns durch abweichende Lebensformen ständig in Frage stellen müssten. Das dies auch Unsicherheiten auslösen kann - geschenkt. "Mehr Vielfalt bedeutet nicht nur mehr Freiraum. Sie bedeutet auch mehr Abgrund. Mit der Vielgestaltigkeit unserer Wirklichkeit steigert sich die Vielgestaltigkeit unserer Verlorenheit. Mit der Fülle von Möglichkeiten steigt die Mannigfaltigkeit der Möglichkeit, sich selbst abhandenzukommen - was immer dieses Selbst sein mag, das da abhandenkommen könnte. Die Kosten der Pluralisierung und Relativierung liegen in einem nie da gewesenen Gewissheits- und Sicherheitsverlust. ... Niemand sichert mehr die letzte Wahrheit, die letzte Objektivität - keine Kirche, auch keine Wissenschaft und erst recht keine Politik. Wir haben es mit der besten aller bisher möglichen Kulturen zu tun, weil sie unentwegt Möglichkeiten schafft."

Außerdem: Ebenfalls in der NZZ denkt Daniele Giglioli, Professor für Literaturwissenschaften an der Universität Bergamo, über politische Korrektheit und Aufklärung nach. In der FR schreibt Arno Widmann zum 100. Geburtstag der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich.
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Gesellschaft

In Deutschland ist die Zahl der von Genitalverstümmelungen bedrohten Mädchen deutlich gestiegen, erklärt die Wissenschaftlerin und Terre-des-Femmes-Mitarbeiterin Charlotte Weil im Interview mit SZ online. Grund sei der erhöhte Anteil von Flüchtlingen aus Eritrea, Somalia und dem Irak. In Deutschland wird Beschneidung von Mädchen mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft, allerdings wurde laut Weil nie jemand dafür verurteilt. Auch sie setzt mehr auf Aufklärung: "Man muss wissen, dass Mütter ihre Töchter beschneiden lassen, weil sie das Beste für sie wollen. In den betreffenden Kulturen können Mädchen sonst nicht heiraten, vielfach werden sie sogar verstoßen. Daher sind wir auch dagegen, bedrohte Mädchen direkt von ihrer Familie zu trennen." Ihr Ansatz: "Einzelne Mitglieder der Communities so ausführlich schulen, dass sie ihre eigenen Leute aufklären können. Denn Außenstehenden ist dieser Zugang meist verschlossen."

In der Berliner Zeitung amüsiert sich André Mielke mächtig über die Aufregung, die die Bild Zeitung mit ihren Steckbriefen von Hamburger Steinewerfern ausgelöst hat: "Sensiblere Medien" protestierten empört gegen diese Verletzung von Persönlichkeitsrechten. "Tagesschau.de pochte auf das Kunsturhebergesetz: Bildnisse dürften 'nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet werden', zum Beispiel, wenn der 'dafür, dass er sich ablichten ließ, eine Entlohnung erhielt.' Ich habe mir vor Lachen in die Jogginghose geschifft. Spaß. Nein, ich dachte an 1992, Rostock-Lichtenhagen, vor dem brennenden Vietnamesenwohnheim: Harald Ewert hackedicht im DFB-Trikot, mit glasigem Blick den rechten Arm zum Hitlergruß erhoben, einen korsikaförmigen Fleck im Schritt seiner grauen Jogginghose. Der Fotograf kam zu Geld und Ewert vor Gericht. Ich hielt sein Porträt bisher für ein rechtmäßiges Dokument der Zeitgeschichte ... Werch ein Illtum."

In der Welt protestiert SPD-Mitglied Angela Marquardt empört gegen die Behauptung, Rechte und Autonome würden sich in ihren Extremen nicht unterscheiden. Gewalt ist überhaupt nicht links, stellt sie klar. Und: "Links sein bedeutet für mich, diesen Rechtsstaat zu verteidigen und auszubauen. Faschismus hingegen will den Rechtsstaat auch mit Gewalt abschaffen."
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Medien

Der Status der Frauen in Kultur und Medien wird überall  diskutiert. Das Interview von ZDF-Anchorman Claus Kleber mit der Schauspielerin Maria Furtwängler, die eine neue Studie vorstellte, ist im Internet zum Renner geworden. Und auch Spiegel-online-Kolumnistin Margarete Stokowski schreibt heute zum Thema. Bundeskulturministerin Monika Grütters will ein "Kulturfrauenzimmer" einrichten, wo Frauen qualifiziert und noch mehr Berichte erstellt werden sollen. Christiane Peitz ist im Tagesspiegel ungehalten und fordert Quoten: "Nichts gegen Symbolpolitik und das Engagement der CDU-Politikerin, nichts gegen die Steigerung des Frauenanteils in der eigenen Behörde oder den Gremien der FFA. Aber warum so defensiv? Niemand fordert Gesetze, Richtlinien, Quoten - obwohl all die freiwilligen Jahre vergeblich waren." In der Welt berichtet Hannah Lühmann und liefert ein paar Zahlen mit: "Achtzig Prozent aller Bühnenintendanten und 98 Prozent aller Chefredakteure in Deutschland sind Männer."

In vielen Medien kursierte die maßgeblich von den Grünen verbreitete Meldung, dass die Zahl der Insekten in Deutschland um achtzig Prozent zurückgegangen sein. Der FDP-Politiker Hasso Mansfeld geht in Meedia zu den Quellen der Behauptung zurück und findet als Ursprung einen - sehr peniblel dokumentierenden - Verein, um den Hobbyforscher Martin Sorg, den auch die FAS zitierte: "Beindruckend ist aber auch, was Sorg der FAS noch erzählt: Die starken Rückgänge 'von bis zu 80 Prozent' sind nicht etwa ein Durchschnitt aller vom Verein betriebenen Messstellen in Nordrhein-Westfalen. Nein, die Zahl, auf die sich seit 2013 alle Experten stützen, stammt von genau zwei Standorten im Krefelder Naturschutzgebiet 'Orbroicher Bruch'. Auf die Frage der FAS, ob sich diese beiden Messpunkte denn problemlos auf ganz Deutschland hochrechnen ließen, antwortet Freizeitentomologe Sorg: 'Natürlich nicht.'"

Struppig, aber nicht uninteressant liest sich ein Bericht des für Netzpolitik schreibenden Leonhard Dobusch , der Mitglied im Runkfunkrat des  ZDF-Fernsehrats ist, und über Debatten zwischen  den Sendern und Interessengruppen von "Kreativen" und Produzenten über eine stärkere Präsenz der Sender im Netz diskutiert - die einzige Frage schien dabei aber zu sein, ob die "Kreativen" für die Netzpräsenz ausreichend vergütet werden. Einziger Lobbystandpunkt gege die Ausdehnung kam von Zeitungsverlegern und privaten TV-Sendern, die alle "Presseähnlichkeit" im Netz ablehnen: "Mit dieser radikalen Ansicht sind die Zeitungsverleger allerdings fast alleine unter den Konsultationsteilnehmern. Die Mehrzahl der Einlassungen zum Thema 'presseähnlicher Angebote' fordern hingegen eine Lockerung oder völlige Abschaffung des Verbotes."

Außerdem: Ludger Fittkau fragt auf der Website von Deutschlandfunk Kultur mit vielen Illustrationen, was sich türkische Karikaturisten noch trauen.
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