9punkt - Die Debattenrundschau

Futter für das Monster

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.03.2016. Die NZZ fragt: Soll man Gene verändern dürfen? Zeit online zeigt, wie Bargeld und Schutz der Privatsphäre zusammenhängen. In der FAZ bespricht der Historiker Andreas Rödder den neuen Sloterdijk. In der LA Review of Books fragt Franco Moretti, was die Digitalisierung mit den Geisteswissenschaften macht. In der NZZ nimmt Cora Stephan vielleicht Abschied von Facebook. Bei Open Democracy schreibt der russische Künstler Pjotr Pawlenski über das Gefängnissystem Russland.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.03.2016 finden Sie hier

Europa

Dmitry Okrest konnte ein paar Briefe tauschen mit dem russischen Künstler Pjotr Pawlenski, der seit einiger Zeit im Gefängnis sitzt, weil er in einer Kunstaktion die Tür des Geheimdienstes FSB angezündet hat. Jetzt sitzt er in Butyrka, dem ältesten Gefängnis Moskaus und wartet auf eine Anklage wegen Vandalismus, erzählt Okrest in Open Democracy. "'Man ist hier umgeben von derselben Art Menschen, die man in Russland überall treffen kann', sagt Pawlenski als ich ihn über Butyrka befrage. 'Gefängnis ist ein Teil des sozialen Verteilungssystems, mit einem Strom von Menschen, die permanent hindurchfließen - der selbe Strom, der durch Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Fabriken und Supermärkte fließt. [...] Es gibt viele arme Kerle, die im Justizsystem gefangen sind udn langsam von ihm gebrochen werden, indem sie gezwungen werden, Zeichen von Reue und Unterwerfung zu zeigen. Mit anderen Worten, dem Paradigma des Strafrechts beizupflichten. Aber je mehr man dem Strafrecht gibt, umso hungriger wird es. Es expandiert in alle Richtungen und fordert immer mehr Futter, um zu überleben. Und jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er sich als Futter für das Monster anbieten will oder nicht.'"

Seit den Wahlen 2012 ist es für russische Künstler schwer geworden, bestätigt im Interview mit dem Standard Marina Davydova, Festivalleiterin und Journalistin, die das Schauspielprogramm der diesjährigen Wiener Festwochen verantwortet. Sie hat ihre eigenen Erfahrungen gemacht: "Unmittelbar nach der Annexion der Krim und dem Start der Ukraine-Krise entschied ich mich dafür, ein Heft zum ukrainischen Theater zu machen. Alle Fernsehbildschirme kündeten davon, dass die 'ukrainischen Faschisten' die russische Bevölkerung killen wollen. Unser Titelbild trug die ukrainischen Nationalfarben. Mehr brauchte es nicht. Das Heft enthielt keinerlei politische Statements! Wir wollten lediglich das ukrainische Theater untersuchen, es kennenlernen. Wir wissen darüber einfach zu wenig. [...] Es wurde uns das gesamte Geld entzogen. Die Behörden waren außer sich vor Zorn. Wir müssen seither danach trachten zu überleben."

Die pakistanisch-österreichische Menschenrechtsaktivistin und Apostatin Sabatina James, selbst nur knapp der Zwangsverheiratung entkommen, wendet sich im Interview mit der Berliner Zeitung gegen alle Versuche, ihre scharfe Islamkritik einfach als Folge eines traumatischen Erlebnisses abzutun, wie etwa die Theologin Lamya Kaddor es vielen Islamkritikern unterstellt: "Das ist doch kein Argument. Das ist Hetze gegen die Opfer. Man stelle sich vor, jemandem, der unter den Nazis gelitten hat, würde man sagen, er hat einfach schlechte Erfahrungen gemacht. Ich verstehe nicht, warum die Opfer so wenig Solidarität bekommen. Einen demokratischen Islam bekommt man nicht durch das Leugnen der existierenden Gewalt. Natürlich ist eine Reformation nötig, aber das geht nur durch eine ehrliche Debatte."

Nächste Woche ist St. Patrick's Day, und Joseph J. Schatz greift in politico.eu ein heißes irisches Thema auf: die illegalen irischen Immigranten in den USA, nur ein kleiner Teil in der amerikanischen Statistik, aber nicht unerheblich für die Iren selbst. Es gebe eine Menge Beerdigungen, bei denen die Verwandten per Skype zugeschaltet werden: "Die irische Regierung drängt die Vereinigten Staaten seit Jahren zu einer breiten Reform des Einwanderungssystems und zu mehr Visa für die ihren und Ausnahmeregelungen, die es irischen Immigranten ohne Papiere erlauben würde, ihre Familien zuhause zu besuchen."
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Ideen

Der Historiker Andreas Rödder, Autor der viel beachteten "kurzen Geschichte der Gegenwart" "21.0" bespricht in der FAZ Peter Sloterdijks neues Buch "Was geschah im 20. Jahrhundert" und stimmt ihm in einem Punkt zu: "Während vieles für die schwerwiegende Bedrohung durch den anthropogenen Klimawandel spricht, sind in diesem Diskurs zugleich langlebige Muster erkennbar. Er schreibt das alte Narrativ fort, dass der Mensch durch sein Handeln die Welt ins Unheil stürze. Eine Aussage als Topos zu identifizieren bedeutet nicht, dass sie falsch ist. Aber es stellt sie in eine historische Perspektive, und in dieser zeigt sich, dass apokalyptische Mahnungen zur Umkehr sich immer wieder mit der autoritären Versuchung verbunden haben."
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Medien

Der Bayerische Rundfunk wird für beachtliche Fehlbeträge vom Rechnungshof des Landes kritisiert, berichtet Joachim Huber im Tagesspiegel. Grund sind wie bei vielen Sendern die Pensionszusagen für Ehemalige: "Nicht der br allein hat Probleme mit seinen Personalkosten, sämtliche öffentlich-rechtlichen Sender stöhnen unter den Pensionslasten, die, das darf nicht vergessen werden, sie selbst kreiert haben. Es geht so weit, dass die Sender in die Programmkasse gegriffen haben, um diese Kosten finanzieren zu können."

Seit fünfzehn Jahren deckt der ghanesische Journalist Anas Aremeyaw Anas mit Verkleidungen, Minikameras und Wanzen Kriminalität und Korruption in seinem Land aufdeckt. Gerade steht er als Zeuge vor Gericht in einem Prozess, der das ganze Land erschüttert, erzählt Elio Stamm in einem Porträt für die NZZ: "Über einen Zeitraum von zwei Jahren hatten Anas und sein Team 180 Justizbeamte mit versteckter Kamera dabei gefilmt, wie sie sich bestechen ließen. Unter ihnen sind 34 Richter, 12 davon vom obersten ghanesischen Gerichtshof. Anas gab sich jeweils als Nahestehender von Angeklagten aus und bot Gegenleistungen für ein mildes Urteil an. So wechselten Geldbeträge die Hand, einmal auch eine Ziege."

In der SZ resümiert Karoline Meta Beisel Diskussionen zur Frage, wann bei Straftaten die Nationalität der Beteiligten genannt werden darf.
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Wissenschaft

Eine neue biochemische Technik, erfunden von Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna, erlaubt es mit einfachen Methoden, gezielt Gene zu verändern, erläutert reichlich besorgt der Biologe Bernhard Kegel in der NZZ. Bei bestimmten Erbkrankheiten kann das zwar ein Segen sein, aber am Ende kann es auch zu maßgeschneiderten Kindern führen: "Schon erhalten die Forscher Briefe von Trägerinnen des gleichen Brustkrebs-Risikogens, das die Filmschauspielerin Angelina Jolie veranlasste, sich vorbeugend beide Brüste entfernen zu lassen. Junge Frauen fragen, ob und wann die Crispr-Technik verhindern könnte, dass sie diesen Gendefekt an ihre Kinder weitergeben. In nicht allzu ferner Zukunft werden Menschen vor der Situation stehen, die Risiken eines derartigen Eingriffs ins Genom ihrer Kinder und Kindeskinder und das Risiko einer Erkrankung gegeneinander abzuwägen." (Mehr dazu in der Boston Review, bei Wired und in der NYT)

Im Interview mit Melissa Dinsman von der Los Angeles Review of Books spricht der Literaturwissenschaftler und Pionier der "Digital Humanities" Franco Moretti über Chancen und Risiken der Digitalisierung in den Geisteswissenschaften und sagt auch einige Allgemeinheiten über Geisteswissenschaften in Amerika: Sie "werden sich selber retten müssen, nicht nur, weil es unanständig viel Geld kostet, an die Universität zu gehen, so dass Studenten Business-Studiengänge, Medizin, Wirtschaft und so weiter belegen, um das Geld so schnell wie möglich zurückzuholen. Das ist nicht der einzige Grund, auch wenn er nicht zu vernachlässigen ist. Im 20. Jahrhundert haben Naturwissenschaften verblüffende und schöne Theorien in der Physik, Genetik und Biologie geschaffen. Die Geisteswissenschaften haben nichts dergleichen produziert. Literatur, Kunst, politische Geschichte (in düsterster Weise, gewiss) haben extrem interessante Objekte geschaffen, aber das Studium dieser Objekte hinkt hinterher."
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Internet

Eigentlich ist Cora Stephan ganz gern auf Facebook, trotzdem überlegt sie, sich von Facebook zu verabschieden. Seit sich die politischen Lager auch dort bekriegen, macht ihr die ganze Sache keinen Spaß mehr: "In Zeiten wie diesen folgt eher die Entfreundung anstelle der erwünschten Auseinandersetzung. Und wehe dem, der sich aus purer Neugier einer Gruppe zuwendet - sagen wir einmal: 'Wir lesen 'Deutschland von Sinnen''? (Ja, genau, der Bestseller des kürzlich wegen etwas, was er nicht gesagt hat, durchs Dorf getriebenen 'Hasspredigers' Akif Pirinçci.) So einer erhält schon einmal die Nachricht eines wohlmeinenden Freundes, man möge da 'schleunigst austreten und die Sache richtigstellen', so etwas mache im Netz ganz schnell die Runde. (Ach ja? Und was, wenn?)"
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Stichwörter: Facebook, Stephan, Cora

Überwachung

Bargeld und der Schutz der Privatsphäre hängen zusammen, schreibt Jaro Krieger-Lamina bei Zeit online: "In den allermeisten Fällen hat das gar keinen kriminellen Hintergrund: Manchen Menschen ist es einfach unangenehm, im Sexshop mit der Kreditkarte zu zahlen. Oder sie begleichen die Psychotherapie-Rechnung lieber in bar, weil sie nicht wollen, dass ihre Bank davon erfährt; oder bezahlen die diesmal hohe Rechnung im Wirtshaus ums Eck und den Mitgliedsbeitrag beim kleinen politischen Verein lieber ohne elektronische Spuren. Es ließen sich viele Situationen finden, in denen der Wunsch, diese Information im kleinen Kreis zu halten, verständlich ist."
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