9punkt - Die Debattenrundschau

Ich schweige doch schon!

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.03.2015. Der Einsatz für Toleranz ist nicht "rechts", meint Seyran Ates in der Zeit.  Die taz attackiert die Verteidiger der Vernunft im Namen der Kritik. Huffpo.fr veröffentlicht ein recht harsches Femen-Manifest. Überraschung bei der Süddeutschen: Der Architekt der neuen Paywall wird abgesetzt. Im Tagesspiegel weist Benjamin Korn auf soziale Ursachen der Frustration muslimischer Jugendlicher in Frankreich hin.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.03.2015 finden Sie hier

Gesellschaft

Die Femen-Aktivistin Inna Schewtschenko veröffentlicht auf huffpo.fr ein Femen-Manifest, das sich teilweise recht harsch liest. Ein Beispiel: "Da wo Religion beginnt, endet der Feminismus. Femen macht keinen Unterschied zwischen den Religionen, die sich nur durch die Namen ihrer Gottheiten, ihre Selbstdarstellungen, ihre heiligen Orte, Riten und Institutionen unterscheiden. Wir bekämpfen sie als das, was sie sind, Unterwerfung unter ein Dogma. Da wir alle Systeme bekämpfen, die auf der Beherrschung eines Individuums oder einer Gruppe durch andere Individuen oder Gruppen basieren, kann sich der Kampf von Femen nicht mit konsensuellen Einschätzungen von Religion begnügen."

Auf Zeit Online ist jetzt auch das Print-Interview mit der Anwältin und Autorin Seyran Ates zu lesen, die nach ihrer Kritik an der repressiven Sexualmoral im Islam Todesdrohungen erhielt und zwischenzeitlich aufhören musste zu arbeiten: "Der Rückzug machte mich krank, unglücklich und dick. Ich litt darunter, dass Islamisten und Relativisten meinen Einsatz für Toleranz als "rechts" verleumdeten. Konkreter Auslöser für die Rückkehr war eine Hassmail, deren Verfasser drohte, mir die Zunge rauszuschneiden. Wütend dachte ich: "Ich schweige doch schon! Wenn ich trotzdem bedroht werde, kann ich auch sprechen." Geholfen haben mir dann meine Familie, die Polizei, die solidarischen Leser, die Mandanten und der Glaube, dass Gott mir nichts auferlegt, was ich nicht bewältigen kann."

Joachim Güntner rauft sich in der NZZ die Haare über den neuen Eigenliebe-Wahn, der "Liebe ohne Limit" verspricht und auch noch gegen Narzissmus helfen soll!
Archiv: Gesellschaft

Europa

Im Tagesspiegel pocht der Regisseur Benjamin Korn darauf, dass Frankreich nicht antisemitisch ist, auch wenn es Antisemitismus gibt: "Der muslimische Antisemitismus, der sich nicht nur von den aus Syrien und Irak per Internet importierten Religionskriegen nährt, sondern vor allem von der ausweglosen Situation der Heranwachsenden in den Vorstädten Frankreichs, hat eine Geschichte, die bis zum bürgerkriegsähnlichen Aufstand in den Banlieues zurückreicht. "Abschaum" nannte der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy ihre Bewohner und versprach, ihn "mit dem Kärcher" zu säubern. Die Antwort: Straßenschlachten in ganz Frankreich! Turnhallen, Autos, Kindergärten gingen in Flammen auf, vor Wut zertrümmerten die Aufständischen ihre eigenen Viertel. Das Warnsignal verhallte ungehört. Nichts geschah. Die Jugendarbeitslosigkeit ging seit den zehn nutzlos verschleuderten Jahren um keinen Punkt zurück. Nur die Hoffnungslosigkeit nahm zu."

Jetzt online: Viktor Jerofejews Hommage auf Boris Nemzow aus der gestrigen FAZ.
Archiv: Europa

Politik

Sally Hayden porträtiert für Vice.com die im Exil lebende Iranerin Masih Alinejad, die im letzten Jahr ein altes Bild von sich auf Facebook postete, auf dem sie ohne Kopftuch in die Kamera lacht. Titel der Kampagne: "My Stealthy Freedom" (meine verborgene Freiheit). Seitdem, so Hayden haben über 500.000 Iranerinnen auf die Kampagne reagiert, häufig mit Bildern ohne Kopftuch: Und doch sei Alinejad, die einen Menschenrechtspreis der Uno erhalten hat, immer auch ein bisschen besorgt um die Frauen, "die ihre Fotos und Mails veröffentlichen wollen. Alinejad erzählt, dass sie stets ein weiteres Mal um ihre Zustimmung bittet, um klarzumachen, dass die Frauen auch Repressionen erleiden können. Sie stelle fest, dass nicht nur die Regierung, sondern "manchmal auch die Familie" Druck auf die Frauen ausübe."

Leicht akademisch verschmockt liest sich, was die Archäologin Marlies Heinz in der FAZ zur Zerstörung von Kulturgütern durch die IS-Milizen schreibt: "Es dürfte gerade dieses Potenzial der vielfältigen Bedeutungszuweisungen sein und damit die Möglichkeit, die Bedeutung der Dinge in je verschiedenen Zusammenhängen als variabel zu erkennen, die dem Umgang mit historischen Hinterlassenschaften, ob im Bewahren oder im Zerstören, eine eminent wirkungsmächtige Rolle für das politische Handeln zukommen lässt."
Archiv: Politik

Ideen

Aram Lintzel bedauert in der taz, dass die Vernunftkritik ihr emanzipatorisches Image verloren hat: "All die tristen Gestalten der Vernunftkritik erzwingen in der öffentlichen Debatte die falsche Wahl zwischen der einen Ratio und dem irrationalistischen Irrsal. Wer Zweifel an der okzidentalen Vernunft äußert, steht schnell unter Verdacht, ein Terroristenversteher zu sein. Mit dieser erpresserischen Weltsicht tut sich besonders der französische Autor Pascal Bruckner hervor, der schon vor Jahren einen europäischen "Schuldkomplex" ausmachte und seit den Pariser Anschlägen jede Kritik an Europa als "Linksislamismus" diffamiert." Hier noch einmal Bruckners Essay über den Begriff der Islamophobie, wo sich so etwas Krachendes allerdings nicht findet.
Archiv: Ideen

Medien

Die Südwestdeutsche Medienholding, der unter anderem die Süddeutsche Zeitung gehört, setzt überraschend einige Geschäftsführer ab, meldet Bülend Ürük bei kress.de. Zu den Abgesetzten gehört SZ-Geschäftsführer Detlef Haaks. Meedia.de kommentiert die Meldung als "Paukenschlag": "Erst Ende Januar hatte er sich im Horizont-Interview ausführlich über die künftige Ausrichtung der SZ sowie seine Digitalstrategie geäußert und dabei erklärt, dass sich Süddeutsche.de "komplett verändern" und redaktionelle Bezahlangebote in einem Marken-Abo gebündelt würden. Bis Ende 2015 wollte Haaks so auf insgesamt 50.000 Abonnenten kommen."

Während deutsche Zeitungen noch Paywalls einführen (wie die an sich jetzt schon zahlbare SZ, die ihr Modell verändert), werden sie jenseits des Atlantiks schon wieder geschleift, berichtet Mike Masnick in Techdirt. Zuletzt hat der Toronto Star seine Paywall aufgegeben: "Und doch gibt es einige Hohepriester, die darauf beharren, dass eine Paywall die Lösung ist. Sie irren sich ein ums andere Mal, aber sie hören nicht auf. Und so verführen sie die verzweifelten Zeitungen, die irgendwie ihren Einnahmeverlust aufhalten wollen, und alle Zeitungen entdecken dassselbe: die Leute zahlen nicht, dank der Paywall verfällt der Traffic, weniger Leute verlinken oder teilen die Inhalte, die Anzeigenkunden bleiben weg." Für Masnick wäre die "Zeitung als Community" die neue Zauberformel.

Dass die Zeitungskrise keine Zeitungskrise, sondern eine Medienkrise ist, zeigt sich am Ende des Techblogs Gigaom, das Pleite macht. "Mit Gigaom geht"s bergab, und seine Produktionmittel gehören jetzt den Kreditgebern. So möchte man die Geschichte einer Firma, die man gegründet hat, nicht beenden", schreibt Gründer Om Malik, und: "Goodnight sweetheart, I still love you!"

Weiteres: Der Medienwissenschaftler Stefan Müller-Dohm erinnert in der NZZ an seinen kürzlich verstorbenen Kollegen Kurt Imhof, der kritische Öffentlichkeitstheorie zur "kritischen Medienpraxis" machte. Die immerhin bei der UNO akkreditierte Islamic Human Rights Commission (IHRC) hat Charlie Hebdo den diesjährigen "Islamophobia Award" gegeben, meldet die Newsweek. Dem Award ging offenbar eine Publikumsbefragung unter britischen Muslimen voraus.
Archiv: Medien