Virtualienmarkt

Die Zukunft des Buchs hat angefangen

Von Rüdiger Wischenbart
03.03.2008. Vor kurzem wurde das E-Book noch totgesagt - und jetzt ist es längst Realität. Der Brockhaus ist nur das traurigste Beispiel in einer Szene, die vor Experimenten wimmelt.
(Dieser Artikel ist Teil 2 einer mehrteiligen Reflecion über die Zukunft des Buchs. Teil 1 finden Sie hier.)

Die Preisfrage ist doch: Warum verzichten Verlage und auch Buchhändler großteils auf zusätzliche Einnahmen aus den digitalen Kanälen rund ums Buch?

Dabei geht es auf absehbare Zeit nicht um den Krimi, den die Leserin so gerne in die Badewanne mitnimmt, was mit dem Laptop bekanntlich nicht wirklich gut funktioniert. Aber bei immer mehr anderen Inhalten, für die Bücher wesentlich sind, haben wir uns längst angewöhnt, nicht nur, aber immer öfter auch auf Bildschirmen zu lesen.

"Broadly, print publishing is flat while online is growing at around 11 percent a year." Das meinte vor wenigen Tagen Crispin Davis in einem Roundcall mit Analysten anlässlich der jährlichen Bilanzpressekonferenz von Reed Elsevier, dem größten Wissenschaftsverlag der Welt. Ganz ähnlich erzählt Roland Schild, der für den Börsenverein des deutschen Buchhandels die Digitalisierung von neuen Büchern deutscher Verlage auf den Weg bringen soll, dass rund 50 Prozent der wissenschaftlichen Publikationen online gelesen werden.

Aber auch Kochrezepte, Diätpläne, Wirtschaftsinformationen und mittellange Analysen, Gebrauchsanleitungen in unterschiedlichsten Bereichen und natürlich - Stichwort Brockhaus - Lexikonartikel. Und jetzt denken wir noch an Schulen, Fachhochschulen und Universitäten, wo Teile von Büchern als Unterrichtsmaterialien zusammengestellt werden - alles zusammen ein beachtlicher Markt.

Bleiben wir praktisch: Was hindert eigentlich einen mittelgroßen, alt eingesessenen Buchhändler irgendwo in Deutschland, dessen Tochter oder Sohn ins Geschäft hineinwachsen, aber auch neue Ideen und Perspektiven ins Unternehmen einbringen soll, an dieser Stelle einzuhaken?

Er oder sie macht, was Buchhändler immer schon gemacht haben: Sie schnüren eine Auswahl besonders geeigneter Bücher - ein paar Spitzentitel, eine Auswahl Midlist, und einige gute, jedoch in Vergessenheit geratene Titel -, sagen wir zum Thema aktuelle Managementliteratur, oder Basiswissen zu den Studiengängen X und Y, und legen sie, nun eben nicht ins Schaufenster und drucken auch nicht einen Auswahlkatalog für die Firmen- oder Unikunden. Diesmal besorgt sich der Händler die elektronischen Rechte, organisiert die digitalen Kopien der Bücher so, dass sie auch portionsweise online abgerufen und bezahlt werden können, per Kapitel etwa - und bietet den Zugang Firmen oder Ausbildungseinrichtungen über deren Bibliotheken ein Generalabo für das ganze Paket an: Für eine Gebühr pro Monat dürfen diese Texte genutzt werden. Dass dieses Angebot flexibel und monatlich aktualisiert und angepasst wird, hat überdies den Charme, dass hier auch pragmatische Grenzen gegenüber unbefugten Nutzungen eingezogen werden können.

Ich bin mir absolut bewusst, dass dieses Modell vieles vereinfacht. Die Fallstricke sind zahlreich, von der Frage, ob Verlage dem Buchhändler solche digitalen Lizenzen überhaupt geben würden bis zum Fundamentaleinwand, wenn das so einfach wäre, dann hätte es bestimmt schon jemand gemacht.

Mein Punkt ist indessen der folgende: Die digitalen Verwandlungen von Büchern in weiten Bereichen wurden bislang vorwiegend nicht durch die noch unausgereiften Lesegeräte (inklusive Sony Reader oder Amazons Kindle) verhindert, und auch nicht durch die Unsicherheit über die "richtigen" Geschäftsmodelle. Auch die Furcht vor Piraterie und das Dilemma der Musikindustrie erklären nicht alles.

Ich denke zunehmend, dass bislang einfach der Druck auf Verlagen und Handel nicht groß genug war, um Weichen zu stellen und neue Wege zu erkunden. Wenn man die zusätzlichen Einnahmen wirklich dringend braucht, und wenn das Lesepublikum, zumindest abseits des Badewannenkrimis, mit zunehmender Selbstverständlichkeit die Inhalte über alle - eben auch digitale - Kanäle sich zu besorgen gelernt hat, wird alles rasch anders sein.

Als hätten sich die Absender insgeheim aufeinander abgestimmt, purzeln seit wenigen Wochen Meldungen auf den Schirm, dass Verlage groß und klein plötzlich begonnen haben, mit ihren digitalen Experimenten an die Öffentlichkeit und damit vor ihr Kundenpublikum zu treten:

Harper Collins hat in den USA eine ganze Reihe von Bestsellern zur gratis Lektüre ins Web gestellt, darunter Paulo Coelhos "Witch of Portobello". (Link) Coelho, der selbst ein Blog betreibt, freut sich am Experiment und an der guten Publicity.

Das sei gewesen, als reiße man die Plastikhülle von einem Buch, meinte Harper Collins Verlegerin Jane Friedman bei der Präsentation. ("It's like taking the shrink wrap off a book.") Harper Collins will die Dynamik - und die Eingrenzung gegenüber möglichem Missbrauch - durch monatlichen Wechsel der frei zugänglichen Titel aufrechterhalten. Einnahmen versprechen sich Verlag und Autor über zusätzliche Verkäufe von Büchern aufgrund des digitalen Marketing.

Random House hatte schon vor längerer Zeit angekündigt, man wolle mit dem kapitelweisen Verkauf von Büchern in digitaler Form beginnen - was jetzt in die Umsetzung geht. Auch von Amazon hört man, naheliegenderweise, ganz ähnliche Pläne.

Auch in Großbritannien haben die beiden Marktführer Random House und Hachette, die gemeinsam knapp unter einem Drittel des Buchmarktes kontrollieren - kostenpflichtige - Ebook-Ausgaben vieler künftiger Spitzentitel angekündigt, insbesondere als Download für elektronische Lesegeräte wie jene von Sony und Amazon. Parallel dazu hat Random House angekündigt, künftig bei seinen zum Download angebotenen Hörbüchern auf digitales Rechtemanagement (DRM) zu verzichten - was deutlich macht, dass auch hier geradezu heilige Grundsätze einer pragmatisch orientierten Überprüfung unterzogen werden.

Kritische Beobachter bespötteln solche Konzerninitiativen, weil diese nur halbherzig seien und die riesigen Tanker noch lange nicht zur Kursänderung führten. Und die Meldung, dass der Brockhaus künftig nicht mehr im Druck, sondern nur online erscheinen wird - ganz so wie die populäre französische Enzyklopädie Quid, deren Ausgabe 2008 ebenfalls nicht in Druck gehen wird - ist wohl kaum ein offensiver Schritt in die Zukunft, sondern ein bitteres Rückzugsgefecht. Denn nur im Lexikonsegment und bei den wissenschaftlichen Journalen sind schon jetzt die digitalen Angebote den gedruckten in mehrfacher Hinsicht schlicht überlegen (Nähe zu den Usern sowie deren produktive Einbindung, Vernetzung in die Breite und Tiefe des Wissens, Kosten).

Radikaler ist da schon die Marketingstrategie des kleinen Science-Fiction- und Fantasy- Spezialverlags Tor Books, bei dem man ab sofort eine wöchentliche Gratislieferung eines Titels per E-mail ordern kann. "The first week's free book is Mistborn, by rising fantasy star Brandon Sanderson. Next week's will be Old Man's War by John Scalzi, 2006's winner of the John W. Campbell Award for Best New Writer. Over the next several weeks, other books still." Bereits vor Jahren hat der Science-Fiction-Autor Cory Doctorow seine Romane nicht mit dem üblichen Urheberrecht versehen, sondern ausdrücklich großzügige Nebennutzungen seiner Werke durch eine "Creative Commons" Lizenz erlaubt - und so seine Fangemeinde aufgebaut.

Kein Wunder, dass dies ausgerechnet in der Nische Science Fiction und Fantasy stattfindet, denn darüber herrscht Einigkeit, dass Gratisaktionen immer wieder wirkungsvolle PR Strategien sind. Ein mit der US-Bücher-Show von Oprah Winfry gekoppelter Gratis-Download für limitierte 33 Stunden hatte mehr als eine Million Abrufe des digitalen Buches zur Folge.

So ist jüngst eine wahre Debattenlawine über die Möglichkeiten und Grenzen von Gratisangeboten entbrannt. Chris Anderson, mit seiner Theorie des "Long Tail" bekannt gewordener Chefredakteur des Magazins Wired schreibt darüber sein nächstes Buch. Einen Vorgeschmack kann man in der aktuellen Ausgabe von Wired nachlesen. ("Free! Why $0.00 Is the Future of Business")

Und Kevin Kelly, Wired-Gründer und heute ein digitaler Weiser, schreibt für den exklusiven Think Tank des New Yorker Agenten John Brockman, Edge.org, unter der Schlagzeile "Better Than Free": "When copies are super abundant, they become worthless. When copies are super abundant, stuff which can't be copied becomes scarce and valuable. When copies are free, you need to sell things which can not be copied. Well, what can't be copied?" Nun, nicht kopierbar sind nach Kelly insgesamt acht Werte wie Unmittelbarkeit, Personalisierung, Authentizität oder Wohlwollen.

Unbestritten ist, dass digitale Plattformen gut sind, um Communities rund um ein unverwechselbares Produkt entstehen zu lassen - und Autoren sind idealerweise, siehe Coelho, solche Marken.

Allerdings: "Free is more complicated than you think." Diese Einsicht formulierte kein digitaler Guru, sondern ein genialer Zeichner von Cartoons über die Wirren in der digitalen Welt, Adam Scott, der Erfinder von Dilbert. Scott bloggt leidenschaftlich gerne, wenn er nicht zeichnet: "I spend about a third of my workday blogging. Thanks to the miracle of online advertising, that increases my income by 1%. I balance that by hoping no one asks me why I do it", schreibt er im Wall Street Journal.

Dieses ökonomische Dilemma hat nun, Scotts Diktum "Free is more complicated than you think" zitierend, Tim O'Reilly aufgegriffen, ein erfolgreicher Verleger von Computerbüchern und Organisator wichtiger Konferenzen zu den Schlüsselthemen des Internets. O'Reilly hat nachgerechnet, wie wahnwitzig viele Besucher eine Website haben müsste, um über Werbung ähnliche Umsätze zu erwirtschaften wie durch das traditionelle Verkaufen von Büchern. Sein lakonisches Resümee: Er habe anfangs nur geglaubt "advertising works and we're just not good at it", bis er aufgrund dieser Umsatzrechnung erkannt habe: "we need to stop thinking of advertising as a model." Was aber nicht bedeute, mit dem elektronischen Publizieren aufzuhören. Nur, weiß O'Reilly, es gibt keine Zauberlösung, die für alle Anwendungsfälle taugt.

Digitale Bücher müssen etwa mehr können - werthaltiger sein, im Sinne von Kevin Kelly - als gedruckte. Ben Vershbow vom New Yorker Institute of the Future of the Book hat das beispielhaft auf die schöne Formel "Books as Conversations" gebracht, wenn ein digitales Buch etwa alle seine Leser einlädt, Randnotizen zu schreiben, die wiederum für alle anderen einsehbar - und weiter kommentierbar sind: "If the book is digital, however, and resides on a network, new possibilities begin to open up. The page margin can become a public space. Authors and readers can interact in close to real time. An entire classroom can operate inside a single text. Books can become conversations."

Die plötzlich wieder losgebrochene und erstmals sehr praktisch ausgerichtete Debatte um das digitale Buch und um elektronisches Lesen ist dabei nicht auf Amerika beschränkt. Auch Roland Schild, der oberste Digitalisierer des Börsenvereins, ist gar nicht erschrocken als ich ihn konkret frage, wann er nun den ersten Euro als Erlös aus digitalen Direktverkäufen an einen deutschen Verlag auszahlen wolle. Schon in Leipzig auf der Buchmesse Mitte März will er dazu ein Modell vorstellen. Zusammengepackt mit der Ankündigung, dass zu den bislang mageren, auf seiner Plattform Libreka knapp 4.000 digital vorliegenden Titeln bald 60.000 weitere hinzukommen, macht das schon Appetit und ist interessanter als alle juristischen Konfrontationen zwischen Verlagen und Google.

Die digitale Revolution in Sachen Lesen und Buch geht, wenn es denn überhaupt eine Revolution ist, in vielen kleinen und größeren Schritten vonstatten. Was vor allem auffällt ist, in wie viele Richtungen plötzlich diskutiert und experimentiert wird, auf wie vielen Ebenen Scheuklappen fallen und Fenster geöffnet werden. Das unterscheidet die aktuelle Diskussion auch erheblich von jener auf der Höhe der Internet-Blase von 2000.

Dass über Nutzen und Abträglichkeiten solcher Neuerungen erst einmal unterschiedliche Auffassungen einander gegenüberstehen, ist übrigens keine Besonderheit dieser jüngsten Etappe medialer Innovation.

Platon, der Urvater aller Medientheorie, hat diese Geschichte bereits in eine immer noch gültige Form gebracht, als er - mit Sokrates - einen Dialog wiedergab zwischen Thamus, dem König der Ägypter, und Theuth, jenem Gott, der die Buchstaben und damit das Schreiben in die Welt gebracht haben soll:

"Diese Kunst, o König, wird die Ägypter weiser machen und gedächtnisreicher, denn als ein Mittel für den Verstand und das Gedächtnis ist sie erfunden. Jener aber habe erwidert: O kunstreichster Theuth, einer weiß, was zu den Künsten gehört, ans Licht zu gebären; ein anderer zu beurteilen, wieviel Schaden und Vorteil sie denen bringen, die sie gebrauchen werden. So hast auch du jetzt als Vater der Buchstaben aus Liebe das Gegenteil dessen gesagt, was sie bewirken. Denn diese Erfindung wird der Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für das Gedächtnis, sondern nur für die Erinnerung hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache selbst. Denn indem sie nun vieles gehört haben ohne Unterricht, werden sie sich auch vielwissend zu sein dünken, da sie doch unwissend größtenteils sind, und schwer zu behandeln, nachdem sie dünkelweise geworden statt weise." (Platon: Phaidros, oder Vom Schönen, in der Übersetzung Schleiermachers von 1826)

Von heute aus wissen wir, dass an den Argumenten gegen das Schreiben (und damit auch gegen das Buch) durchaus was dran ist - aber Platon hat sie eben aufgeschrieben und damit die abendliche Kulturgeschichte ganz wesentlich mit auf jenen Weg gebracht, den wir heute noch beschreiten.


Eine ausführliche und kommentierte Liste mit Referenzen und Links zu den hier zusammengefassten Debatten und Foren rund ums digitale Buch findet sich hier.

Rüdiger Wischenbart