Virtualienmarkt

Auf jeden Pinselstrich zoomen

Von Rüdiger Wischenbart
23.01.2019. Über das analoge und das digitale Schauen in der großen Wiener Bruegel-Ausstellung. Oder: Gute Digitalisierung braucht das Zusammenwirken aus Hirn, Mut und Aufwand. Sechs Miniaturen.
1.

Pieter Bruegel, Kampf zwischen Fasching und Fasten, 1559, KHM Wien


Vor knapp zwei Wochen ging im Kunsthistorischen Museum in Wien die erstmalige Zusammenschau der wichtigsten Gemälde von Pieter Bruegel dem Älteren (um 1525/30 bis 1569) zu Ende. Mit 400.000 Besuchern in den etwas mehr als drei Monaten seit Anfang Oktober war dies ein absoluter Rekord für das eigentlich an Großausstellungen gewöhnte Haus, und ein organisatorischer Kraftakt, der alle Beteiligten an ihre auch physischen Grenzen gebracht haben muss.

Die "weltweit erste große monographische Ausstellung" über Bruegel, die Poster-Ikone ("Turmbau zu Babel", "Kinderspiele", "Bauernhochzeit") hatte das Kaliber, auch in den Tourismusstatistiken einer Destination wie Wien ihren "Peak" zu markieren. Schon im Spätherbst mussten Individual-Besucher vorzugsweise vorab ein "Zeitfenster" reservieren, wollten sie sich nicht in einer Menschenschlange vatikanischen Ausmaßes anstellen. Irgendwann im Dezember waren dann auch diese Buchungen ausverkauft.

An einem der allerletzten Tage im Januar schlängelte ich mich endlich durch die Räume und versuchte, mit jeweils möglichst präzisem Timing in sich kurzfristig öffnende Breschen vor den Groß-Gemälden zu springen, um ein paar Minuten Original-Schau-Zeit auf die minutiös dargestellten Wimmel-Szenen zu ergattern, und mich gleichzeitig mit schierer Mentalkraft vom hinter mir nachdrückenden Stimmengewirr aus vielen europäischen und asiatischen Sprachen nicht allzu sehr ablenken zu lassen.

Mindestens ebenso aufregend wie die Tafelbilder sind Bruegels Zeichnungen, Radierungen und Drucke, in denen Bäume aus Landschaften herauszufliegen scheinen, so rhythmisch winden sich da Äste gegen den Himmel, während eine ganze Schar von Bildreportern durch die Lande streifen, und den ganz gewöhnlichen Menschlein im Alltag nachstellen, bei der Arbeit, bei Festen und selbst in deren Träumen und Fantasien.

Jetzt aber die erste Überraschung: Viele dieser Zeichnungen gab es in Wien, nur ein paar hundert Meter entfernt, ein Jahr zuvor im Grafikkabinett der ebenfalls berühmten Sammlung Albertina zu sehen. Und ein maßgeblicher Querschnitt von zwölf Großgemälden hat in der Dauerausstellung im Kunsthistorischen seinen festen Platz, ist also tagein, tagaus zu sehen. Warum also der ganze Auflauf?

2.

Während ich dies schreibe, lasse ich mich ein wenig ablenken von Live-Aufnahmen von Van Morrison, den ich seit Jugendtagen verehre,  nun auf YouTube, weil ich einem Link aus dem Perlentaucher folgte. Ich höre nun schon die dritte Fassung von "In the Garden". Egal, ob Van Morisson im schlanken Trio musiziert oder die Bühne von Heerscharen von Begleitmusikern bevölkert ist, so leicht, wie andere ein- und ausatmen, flaniert der Sänger durch seine Songs und zwischen allen Musikern, wie durch einen Garten. Warum nur habe ich noch nie Van Morrison "in concert" erleben dürfen!

3.

Pieter Bruegel, Jäger im Schnee, 1565, KHM Wien


Eines der ikonischen Bilder aus den Wiener Beständen von Breugel sind die "Jäger im Schnee". Es handelt vom Winter 1564/65, weshalb es der in Wien lebende Historiker Philipp Blom in seinem Buch "Die Welt aus den Angeln" von 2017 schon im Vorspann zitiert. Dieser Winter, mit dem "nordeuropäische Künstler Frost und Winter für sich" entdeckten, schreibt Blom, war der Auftakt zu jener "kleinen Eiszeit", von der sein Buch handelt. Diese Eiszeit, gepaart mit der Auflösung alter Gewissheiten und Ordnungen im Gefolge der Reformation, dann der Dreißigjährige Krieg" (1618 bis 1648) mit seinen Verheerungen quer durch Europa, mit flächendeckendem Tod und Zerstörungen, der Auflösung der politischen Hierarchien in Vorbereitung der dann sich ausbreitenden frühen Moderne, all das ist in den Bildern Bruegels und einiger seiner Zeitgenossen erstmals zu erahnen. Bildhaft, genau, in Szenen, nicht nur in Vorahnungen und obskuren Schemen, schreibt Blom.

4.

Detail aus Pieter Bruegel, Jäger im Schnee, 1565, KHM Wien


So wie ich beim Schreiben heute nebenher Van Morrison höre, so verlinken wir wohl alle mehr oder weniger häufig alle die Impulse, die wir aufnehmen, und manchmal ergibt sich daraus ein verblüffend dichtes Geflecht, oder, modischer formuliert, ein 'flow'.

Philipp Bloms staunende Beschreibungen, wie der Klimawandel vor 500 Jahren alles umkrempelte, Verwüstung brachte und die Gesellschaften für Neues öffnete - Blom schreibt natürlich mit geradlinigem Blick auf unsere Gegenwart! - hatte ich unlängst vor den Feiertagen gelesen. Deshalb musste ich dann noch unbedingt in die Bruegel Ausstellung, unbedingt!

Als bräuchte es noch einen weiteren Impuls erinnerte ich mich, dass es da doch diese Bruegel-Digital-Sache gab, und fand "Inside Bruegel" wieder, irgendwo in meinen Notizen.

Darüber lassen sich die zwölf Wiener Bruegels digital betrachten, und zwar bis in jedes kleine Detail. Das ist einfach wunderbar. Denn was am Bruegel-Poster in der WG-Küche als "Wimmelbild" erscheinen mag mit seinen ungezählten Männchen, Weiblein, Kindchen und Tierlein ist tatsächlich ein Wunderwerk an minutiös ausgestalteten und hochgradig miteinander in Beziehungen gesetzten Szenerien, Hyperrealismus aus dem 16. Jahrhundert.

Die Waffelbäckerin aus Bruegels Gemälde "Kampf zwischen Fasching und Fasten", 1559, KHM Wien


Wie genau in welchem Beruf gearbeitet wurde, wie die Spiele der Kinder tatsächlich abliefen, was mittags auf den Tisch kam, und vieles mehr ist da zu sehen. Ich habe etwa herausgefunden, dass die Waffeleisen für die bis heute verwendeten flämisch-belgischen "Gaufres", die sich mit Puderzucker bestreuen und mit allerlei süßen Cremes noch weiter versüßen lassen (was ich gar nicht mag), schon damals genau dasselbe Rastermuster hatten wie noch heute!

Keine Chance natürlich, derlei im Trubel und Dämmerlicht bei der Mega-Schau im Original zu entdecken. Allerdings spürte ich im digitalen Abbild bald weniger den Waffeleisen als den Pinselstrichen nach, und erfuhr intuitiv einiges über Bruegels Maltechniken - was dann bei der Betrachtung des Originals wiederum zu einem Ganzen sich fügte. Ich hatte im Museum plötzlich mehr vom Ganzen, als ich mich an die Details vorab erinnerte.

5.

Pieter Bruegel, Der Triumph des Todes, vermutlich nach 1562, Museo Nacional del Prado, Madrid


Die Macher von Inside Bruegel am Kunsthistorischen Museum entschuldigen sich geradezu für ihre tolle Arbeit, wenn sie schreiben, die digitale Erkundung werde "niemals die genaue Betrachtung der originalen Werke ersetzen." Das ist natürlich Unsinn, denn um solch ein "entweder oder" geht es bei allen Digitalisierungen genau gar nicht. Es geht vielmehr um wechselseitige Erweiterungen.

Wie sehr, das fiel mir auf, als ich den gedruckten Katalog erstehen wollte, ein dickes, auf Hochglanz gedrucktes Werk, mit ausführlichen kunsthistorischen Aufsätzen - und zwischendurch furchtbaren Reproduktionen. 'Furchtbar', weil sie in ihrem Ansatz genau am blinden Punkt dazwischen lagen. Gewiss, solides Druckerhandwerk. Aber natürlich kein Ersatz für die Betrachtung des Originals. Die großen Tafeln waren auch noch so in die Seiten gesetzt, dass mitten durch die Bilder der vertikale Falz zwischen rechter und linker Seite schnitt, weil der Katalog, also ein Buch, unbedingt Hochformat haben muss, um auf den Stapel an der Kassa und zuhause ins Regal zu passen. Alles Dunkle soff ab in den Reproduktionen. So wie auch bei Philipp Blom briefmarkenkleine graue Fensterchen vom Verlag in den Text gerückt wurden, aus denen sich bestenfalls erkennen lässt, dass es wohl toll wäre, einen Link auf das Bild zu bekommen, um es online zu betrachten.

Natürlich würde ich jetzt auch Van Morrison gern wirklich live, und nur für mich und ein paar Freunde, in einem Club singen hören, und nicht, auch noch mit kurzen Aussetzern, auf Youtube. Aber ehrlich, Youtube ist ein besserer Ersatz als eine noch so gut gemeinte, öde Cover-Version.

6.

Detail aus Pieter Bruegel, Der Triumph des Todes, vermutlich nach 1562, Museo Nacional del Prado, Madrid


"Inside Bruegel" wurde, nach den etwas spärlichen beigefügten "Making of" Informationen online, mit Mitteln der kalifornischen Getty Foundation gestartet, als eine technisch hochwertige Bilddokumentation mit hochauflöslichen Kameras (1250 dpi) und zusätzlichen Infrarot- und Röntgen-Aufnahmen zur Vorbereitung der schwierigen Restaurierung der heiklen, in einem schlechten Zustand sich befindenden Holztafeln, auf denen Bruegel seine Bilder gemalt hatte.

Die Makroaufnahmen der Vorderseite der Bilder, die nun erlauben, bis in jede kleine Szene und auf jeden Pinselstrich zu zoomen, erforderte spezielles Equipment, welches in der Zusammenarbeit von Museum und Technischer Universität Wien entwickelt wurde.

Kurzer Zwischenruf an dieser Stelle an die Adresse des Kunsthistorischen Museums: Warum erfahren wir nicht genauer, wer hier mit welchen Ideen und Konzepten und Expertisen mitgewirkt hat, und wie, und unter Verwendung welcher Technologien! Und ganz besonders: Wenn solch tolles digitales Material nun vorhanden ist, warum wurde neben all den Kaffeetassen und Kochschürzen mit Motiv "Turmbau zu Babel" nicht auch ein kleines, aber smartes Produktsortiment für den Museumsshop mitgedacht!

Gute Digitalisierung braucht das Zusammenwirken aus Hirn, Mut und Aufwand, welcher sich aus der Zusammenarbeit unterschiedlicher Expertisen erst ergibt! Das Ergebnis ist dann aber auch keine unsinnige Gegenüberstellung des einen gegen das andere, sondern eine Bereicherung, die sowohl die Experten wie auch viele Betrachter zu beglücken vermag.

Ganz so wie bei Van Morrison. Dessen Musik wird ja auch mit den bestmöglichen Mitteln aufgenommen, mit mittlerweile auch abgeklärten Urheberrechten zwischen Plattenlabel und Youtube (auch wenn die Zuteilung der Tantiemen noch deutlich optimiert werden muss!). Den Zuhörenden dürfen darüber dann auch himmlische Flügel zwischen den sonst so engen Alltags-Schultern wachsen.

www.booklab.info
Stichwörter