Virtualienmarkt

4 Cents pro Seite

Bücher gehen online. Von Rüdiger Wischenbart
20.12.2005. Das konventionelle Buch wird durch die digitale Entwicklung so sehr und so rasch verändert werden wie zuvor schon die Musik.
Wer der Steve Jobs für das Buch sein wird, wissen wir noch nicht. Aber der Appetit auf ein "iTunes" für Bücher ist in den vergangenen Monaten von vielen Köchen, mal beabsichtigt, viel öfter indessen eher unbeabsichtigt, gewaltig angeheizt worden. Wie sehr, ist in der Schlacht der Ankündigungen ums Digitalisieren von Büchern, Streiten ums Copyright und Klagen um die Lufthoheit übers kulturelle Erbe zumeist übertönt worden.

Umso lohnender ist es deshalb, die Zwischentöne herauszufiltern und auf Wegweisungen zu durchsuchen. Wir müssen dazu den Gaul einstweilen allerdings noch von hinten aufzäumen. Aber für ein Gedankenexperiment erhöht das wohl nur den Reiz.

Wer einfach ein paar Seiten aus einem Buch benötigt, also ein Kochrezept, ein paar Seiten Sachtext oder ein Kapitel aus einem Standardwerk, etwa als Schulungsunterlage für einen Kurs - vom Seminar an der Uni bis zur Fortbildung zu einem beliebigen Thema - wird demnächst schon mit Internetseiten umworben werden, auf denen in großen Lettern steht: "Hier werden Sie geholfen!" Und dies völlig legal.

Amazon hat unter dem Titel "Amazon pages" angekündigt, schon im nächsten Jahr mit dem seitenweisen Verkauf von Inhalten aus Büchern zu beginnen. Dabei kann sich der Online Händler in den USA auf die Unterstützung maßgeblicher Verlage berufen, und allein der riesige College Markt, also die Einstiegskurse mit zigtausenden gut vernetzten - und seit iTunes und Kazaa an die digitale Distribution von Musik gewöhnten - Studenten in den unteren Semestern ist ein fetter Happen, der lockt.

Random House, der zu Bertelsmann gehörende, größte amerikanische Verlagskoloss weiß auch schon, was das für den Endverbraucher kosten könnte: 4 Cent pro Seite oder 99 Cent für das 20 Seiten Paket. Wobei dies als Daumenregel zu betrachten sei, denn in einem Kochbuch könne die Seite künftig auch 25 Cent kosten (oder 99 Cent für 4 Seiten) - so jedenfalls die Kalkulationsbeispiele in einer Random House Pressemeldung vom 3. November 2005. Harper Collins hat nachgezogen und angekündigt, seine Titel ebenfalls möglichst bald online anzubieten.

Bemerkenswert ist an dem Modell, wie sehr es sich an den Musikdownloads orientiert - und in der Buchbranche gibt man sich seither verschnupft, dass Bertelsmann hier einen Standard-Preis-Katalog in den Raum gestellt hat, noch bevor auch nur das erste Dokument auf diesem Weg tatsächlich angeboten wurde.

Die Nervosität der Branche ist auch deshalb so groß, weil unklar ist, wer überhaupt Teil dieser Branche ist.

Die Buchverlage gehören gewiss dazu. Für den deutschen Börsenverein arbeit Matthias Ulmer seit einem halben Jahr an einem couragierten Modell, das einzelnen Verlagen auf dezentralen Servern die Hoheit über ihr Angebot bewahren soll. Das ist politisch korrekt - weil Marktbeherrschung durch wenige gigantische Multis, ob Microsoft, Google, Yahoo oder Bertelsmann, wenig Freude macht. Die Frage ist aber, ob angesichts der Dynamik der Verlagskonzentration der letzten paar Jahre solche offene Perspektiven noch realistisch sind.

Der Buchhandel gehört ebenfalls ohne Zweifel zur Branche. Aber im Online-Geschäft gibt es kaum Anzeichen, dass die Dominanz von Amazon irgendwo ernsthaft gefährdet wäre, und mit dem strategisch aggressiven Zug in Richtung Online-Vertrieb seitenweise mit "Amazon Pages" (und, parallel dazu mit dem ebenfalls angekündigten Offert, bald als Upgrade zum Erwerb eines gedruckten Buchs auch die digitale Kopie zu vermarkten) zeigt der Marktführer noch einmal, wer hier die Vorhand führt.

Hinzu kommen aber nun die Neuen (oder, bislang, nicht ganz so Neuen), allen voran Google mit Google Book Search, aber auch Yahoo, Microsoft und wer weiß wer noch. Immerhin hat für den Musikmarkt nach endlosen und desaströsen Abwehrschlachten der Music-Majors ebenfalls mit Apple in Gestalt von iPod und iTunes ein Quereinsteiger vorgezeigt, was eine kundenorientierte Angebotslösung in Zeiten trendbewusster Jugendkulturen und Internet ist.

Die Debatte um Google Book Search (ehemals Google Print) - zu der wir im Virtualienmarkt vor einem Jahr ziemlich präzise vorhergesagt haben, welche Konflikte und Fronten sich aufbauen würden - hat unterdessen Tonnen von Druckerschwärze verbraucht. Viel interessanter ist unterdessen geworden, was dies für das auf Papier gedruckte Buch bedeuten mag.

Ich denke, auch hier lässt sich ohne großes Risiko prognostizieren, dass das konventionelle Buch durch die galoppierende digitale Entwicklung so sehr und so rasch verändert werden wird wie zuvor schon Musik auf CD. Man muss nur einerseits ein klein wenig Geduld und andererseits ein einigermaßen brauchbares Archiv haben.

Random House hat schon vor einem Jahr angekündigt, man werde "irgendwann" die Möglichkeiten prüfen, Bücher auch direkt, also ohne den lästigen Umweg über den Buchhandel, vertreiben (mehr hier). Natürlich müht sich Bertelsmann in Deutschland heftig, den Partner Buchhandel nicht früher als notwendig zu brüskieren und bestreitet bislang vehement alle Ambitionen auf Vertriebsprojekte, die auf die Endkunden zielen.

Google lüpft das Leintuch der keuschen Verschwiegenheit neuerdings ein klein wenig mutiger. Man bedenke "natürlich", ließ Google Book Search Deutschland Chef Jens Redmer unlängst auf der Fachveranstaltung Symantics 2005 in Wien durchblicken, wie man die große, umfassende Nähe zum Endkunden künftig nicht nur fürs Auffinden von Büchern, sondern auch für deren Vertrieb nutzen könne. Ein kleines Wort, mit möglicherweise großen Folgewirkungen, gelassen ausgesprochen: Was bedeutet das eigentlich, wenn ich meine Lesehappen nicht mehr vorrangig aus der Rezension in der Zeitung, bei Elke im TV oder im Buchladen finde, sondern wie nebenher, beim Surfen nach was weiß ich was, also weitab von allen traditionellen Knoten der Buchkultur?

Das digitale Buch der Gegenwart (im Gegensatz zum unsinnigen eBook von 2001) ist das alte, gedruckte Ding auf Papier, das ich allerdings online finde und kaufe (nachdem es zuvor, vom Manuskript des Autors über das Warenmanagement bis zum Drucker, ohnedies längst Produkt eines hoch integrierten digitalen Prozess gewesen ist).

iTunes für Bücher hat zwei überraschende Pointen parat:

Erstens, es geht (vorerst) um Bücher aus Papier. Die aber haben immer weniger mit dem liebevoll gestrickten Ding gemein, das Lektoren mit Autoren, an schrecklichen Vertriebsleuten und Vertretern vorbei, zu triebtäter- wie komplizenhaften Buchhändlern schmuggeln.

Zweitens, das Buch vs. 2.0 ist nicht Zukunftsmusik, sondern wir blättern darin bereits jetzt.

Die Eckpfeiler der neuen Buchmärkte sind nicht luftige Prognosen, sondern ruhen auf Datenfundamenten (aber das ist schon beinahe ein anderes Thema):

Die Buchmärkte zerfallen zunehmend in unterschiedliche, voneinander scharf abgetrennte Bereiche, mit abnehmenden Schnittstellen und Übergängen.

Es gibt "Bestseller Land": Die vom Umsatz her Top 10 der Bestseller Listen in Deutschland machen, laut Magazin 'Buchreport' vom Dezember, zwischen einem Fünftel und einem guten Achtel des gesamten Buchmarktes aus!

Es gibt "Sonder-Land": Die vielen Sondereditionen der Zeitungen, von der Bild-Bibel bis zu den Comics Klassikern, machen in Deutschland bereits 1 Prozent des Buchumsatzes aus, das ist für den Buchmarkt insgesamt ein zunehmend bedeutender Faktor hart an der Grenze zwischen Wachstum und Stagnation.

Für das weite Land hinter Bestselleristan und den diversen Sonderzonen gibt es einen Namen, den auch in der Branche erst viele zu buchstabieren beginnen: "The Long Tail". Benannt nach einem neue Perspektiven schaffenden Artikel des Wired Chefredakteurs Chris Andersen vom Herbst 2004 bezeichnet dieser "lange Schweif" das Gegenteil der Bestsellerzone - die ungezählten lieferbaren Titel, die die kulturelle Vielfalt (und mehr denn je auch das Geschäft) der Buchkultur ausmachen.

Allein Amazon bietet 2,2 Millionen Titel in seinen Katalogen an. Vergriffene, gebrauchte, neue, fast neue Bücher, alle sind sie abrufbar auf einen Klick. Dabei handelt es sich - und das ist die wahre Revolution - nicht um Karteileichen.

Amazon macht zwischen 40 und 57 Prozent Umsatz mit den Titeln aus diesem "Long Tail". Buchreport belegt, dass dies keine US Sonderentwicklung ist. buch.de weist für große Buchverlage mit einer entsprechend umfangreichen Backlist (also vielen alten Titeln) einen Umsatzanteil von "rund 50 Prozent" aus, und selbst bei kleineren Verlagen liege der Backlist Anteil bei einem Viertel. (Buchreport Magazin, Dezember 2005).

Wenn Sie und ich als KäuferInnen von Buchseiten in diese Landschaft blicken, können wir wohl ein paar interessante Wetten anbieten.

Bis in die achtziger Jahre hatten die Verlage das Sagen darüber, was gelesen wird (Hildegard Knef: "Der geschenkte Gaul"!). Neuerdings war die Kontrolle über den Steuerknüppel für das Buch hin zu Handel und Medien gewandert - zu Hugendubel, Thalia und Weltbild mit "Glücklich leben", "Du bist Mickey Mouse" und "Wir sind Gott".

Was aber passiert, wenn der Buchmarkt nun tatsächlich zu einem Endkundenmarkt mutiert, wenn also Sie und ich das Sagen haben?

Es gibt gute Gründe, dass genau dies die nächste Etappe sein wird, und dies nicht nur im heiß umstrittenen Weihnachtsgeschäft. Es gibt demnächst noch viel mehr Seiten zu kaufen - packen wir es an!