9punkt - Die Debattenrundschau

Zahlreiche Pyramidenzellen in der III. Schicht

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.11.2017. Klimakatastrophe in der Politik - Jamaika ist untergegangen. Die Welt zitiert aus Christian Lindners Begründung  für den Verhandlungsausstieg. Die NZZ sucht in Lenins Hirn nach einer materialistischen Erklärung des Psychischen überhaupt. Die Ken-Jebsen-Fraktion hält in ihren  Medien an einer Preisverleihung für den Journalisten im Babylon-Mitte-Kino fest. Die FAZ staunt: Sibylle Le­witscharoff, El­ke Schmit­ter und "ein Mit­glied die­ser Re­dak­ti­on" sollten bei einer proputinistischen Veranstaltung auftreten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.11.2017 finden Sie hier

Europa

Dass ausgerechnet die FDP nicht umfällt - damit hätte wirklich niemand gerechnet. Die Welt bringt Christian Lindners Erklärung zum Aus der Jamaika-Verhandlungen im Wortlaut: "Es hat sich gezeigt, dass die vier Gesprächspartner keine gemeinsame Vorstellung von der Modernisierung unseres Landes und vor allen Dingen keine gemeinsame Vertrauensbasis entwickeln konnten. Eine Vertrauensbasis und eine gemeinsam geteilte Idee, sie wären aber die Voraussetzung für stabiles Regieren."

Auf Spiegel Online glaubt Christiane Hoffmann dagegen, dass Lindner das genau so gewollt habe: "Hatte Lindner, der Meister des frühzeitigen Abgangs, erkannt, dass es keine Chance mehr auf eine Einigung gab?" Und in der SZ bemerkt Constanze von Bullion zur großen Schockstarre in Berlin: "Am Ende stehen die Vertreter von Union und Grünen da wie eine Herde verlassener Schafe, erstarrt, so als hätte der Blitz eingeschlagen."

Während unter Russlands Künstlern die heftigsten Debatten über Putins repressives Regime toben, stehen deutsche Intellektuelle bereit, staatlich organisierte Podien mit ihren Auftritten zu schmücken, empört sich Kerstin Holm in einem sehr facettenreichen Artikel in der FAZ: "Das gleiche Ziel wird am 8. Dezember das Symposion 'Die Eu­ro­päi­sche Ko­mö­die' am Institut 'Dialogue of Civilizations' in Berlin verfolgen, das Wladimir Jakunin, der langjährige Geheimdienstfreund von Präsident Putin und Mitglied von dessen Datscha-Kooperative 'Osero' im vergangenen Jahr gründete ... Als demonstrativ frommer Milliardär aus den Gewaltstrukturen ist Jakunin ein Paradeexemplar des neuen russischen Adels. Zum Beweis seines Patriotismus richtet er nun ein heiter ironisches Symposion über Europas Turbulenzen aus, bei dem neben der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff und der Journalistin Elke Schmitter auch ein Mitglied dieser Redaktion auftreten sollte." Gemeint ist hier Simon Strauß.

Gerry Adams
hat sein ganzes politisches Leben über allein London die Schuld am Nordirland-Konflikt gegeben. Dass er ausgerechnet jetzt als Chef der Sinn Fein zurücktritt, hält der Guardian für eine große Ironie: "Denn Adams tritt genau in dem Moment zurück, da eine britische Regierung unzweideutig der einzige Grund für einen grob freindseligen Akt gegen Irland ist, gegen den Norden und Süden, nämlich in Form eines harten Brexits. Von Beginn an haben sich die konservativen Brext-Befürworter keinen Deut um Irland geschert."
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Internet

Carale Cadwalladr recherchiert für Guardian und Observer über russische Einflussnahme in der Brexit-Kampagne. Auf dem Twitter-Konto Leave.EU von Nigel Farages Ukip wird die Journalistin in einer Montage verprügelt, schreibt sie: "In einer ganze Reihe stehen Leute an und warten, dass sie drankommen. Der letzte in der Reihe trägt ein Gewehr." Wäre das Video vor ihrer Wohnung projiziert worden, so Cadwalladr, hätte sie Klage wegen Aufstachelung zur Gewalt erheben können, aber gegen Twitter und die anderen sozialen Netze könne sie so nicht vorgehen: "Im letzten Monat sind die Tech-Giganten schreiend und fuchtelnd vor verschiedene Untersuchungsaussschüsse von US-Kongress und Senat gezogen worden. In Britannien hat dieser Prozess noch nicht mal begonnen. Der fehlende öffentliche und politische Druck ist peinlich. Die kaum stattfindende Berichterstattung verstörend. Und das Video von Leave.EU ist nur ein kleines Beispiel, das zeigt, wie das funktioniert." Über russische Einflussnahme auf den Brexit schrieb Cadwalldr unter anderem hier.

"Wir können Facebook nicht sich selbst kontrollieren lassen", schreibt Sandy Parakilas, die einst bei Facebook für mehr Datenschutz sorgen sollte und diese Versuche aufgab, in der New York Times: "Facebook-Chefin Sheryl Sandberg erzählte in einem Interview mit Axios im Oktober, dass die Firma russische Propaganda-Anzeigen entdeckte, weil sie in Rubeln bezahlt worden waren. Wenn man bedenkt, wie simpel das ist, hätte diese Entdeckung schon weit früher gemacht worden können - und nicht erst ein Jahr nach den Wahlen. Aber offenbar hat Facebook bei dieser Untersuchung dieselbe Haltung eingenommen wie zu meiner Zeit: nur reagieren, wenn die Presse oder Behörden etwas zum Thema machen."
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Geschichte

Marc Tribelhorn erzählt in der NZZ, wie die Hirnanatomie nach Lenins Tod die Genialität des Revolutionsführers anhand seines verschrumpelten Gehirns ermittelte. Federführend war dabei der deutsche Wissenschaftler Oskar Vogt: "Vogt erhielt in Moskau ein eigenes Institut für Hirnforschung, das in einem noblen Palais unweit des Roten Platzes untergebracht war. Und das Engagement des Deutschen sollte sich für die Sowjetführung auszahlen. Unter dem Mikroskop fand der Forscher in den Hirnschnitten nämlich 'auffallend große und besonders zahlreiche Pyramidenzellen in der III. Schicht, wie der Athlet durch eine besonders stark entwickelte Muskulatur charakterisiert ist'. Ein Meister des vernetzten Denkens sei Lenin folglich gewesen, ein 'Assoziationsathlet', verkündete Vogt. Die Parteizeitung Prawda jubilierte, dieser Befund sei 'ein bedeutender Beitrag zur materialistischen Erklärung des Psychischen überhaupt'."
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Politik

"Ein Demokratieverständnis, das der Politik die politischen Zähne ziehen will, ist abwegig sachfremd", meint der Philosoph Otfried Höffe in der NZZ, der grundsätzlich und ohne Bezug auf aktuelle Geschehnisse darüber nachdenkt, wie viel Transparenz die Demokratie braucht. Er will eine Form von aufgeschobener Transparenz von Intransparenz unterscheiden: "Gewisse Bereiche der wirklichen Politik verlangen erfahrungsgemäß generell Diskretion - das betrifft nicht nur die Welt der Geheimdienste, sondern auch die Außenpolitik und die Diplomatie. Die Regeln, die dabei praktiziert werden, müssen aber publizitätsfähig sein... Fraglos braucht es für Einzelfälle eine Urteilskraft, also jenes Fingerspitzengefühl, das anspruchsvoller 'esprit de finesse' heißt. Es lassen sich aber allgemeine Gesichtspunkte benennen, vornehmlich Verbote, die sich in einem dritten Grundsatz zusammenfassen lassen: Intransparenz ist weder zum Tarnen und Täuschen noch zum bloßen Machterhalt erlaubt; und schon gar nicht, um sich der Kontrolle seitens der Öffentlichkeit zu entziehen."
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Stichwörter: Höffe, Otfried, Transparenz

Kulturpolitik

Die Presse hat sich nicht besonders für das Thema interessiert. Ken Jebsen sollte den "Karlspreis" für "Engagierte Literatur und Publizistik" im Berliner Babylon-Mitte-Kino ausgehändigt bekommen - Kultursenator Klaus Lederer wandte sich auf Facebook gegen  die Idee, dass die Verschwörungstheoretiker sich ausgerechnet in einem von ihm hoch subventionierten Kino treffen (unser Resümee). Auch RT Deutsch berichtet über das Thema, und verteidigt seinen Mitarbeiter Jebsen, dem krass antisemitische Äußerungen vorgeworfen werden: "Dass jedoch eine eindeutig politisch motivierte staatliche Intervention gegen eine juristisch nicht anfechtbare Veranstaltung erfolgt - noch dazu in einem von öffentlicher Förderung abhängigen Kulturbetrieb - ist alarmierend." Der einstige Sozialdemokrat Albrecht Müller - Jebsen-Fan und sozusagen Gauland der Linken - sieht es auf den Nachdenkseiten genauso. Und die den Preis auslobende Querfront-Postille nrhz.de geht davon aus, dass die Preisverleihung wie gewünscht im gastfreundlichen Kino stattfindet: "Sorgen wir alle dafür, dass das so kommt und die Feinde der Demokratie nicht die Oberhand gewinnen!"

Auch taz-Pionier Mathias Bröckers, der die Laudatio für Jebsen halten soll und ein ganzes Buch über Jebsen gemacht hat, ist empört über die nur auf Druck erfolgte Absage des Kinos und verbindet seine Kritik daran daran auf dem verschwörungstheoretischen Portal rubikon.news mit einer grundsätzlichen Kritik an seiner Zeitung: "Dass die taz ihre friedenspolitischen Wurzeln gekappt hat und ähnlich wie die Partei der (Oliv-)Grünen seit dem Jugoslawienkrieg die illegalen Kriege des US-Imperiums akzeptabel findet, können Leute wie ich, die vor 38 Jahren diese antimilitaristisch verwurzelte 'linke radikale tageszeitung' mitgründeten, nur als tragischen Niedergang empfinden." Die Äußerung des Kultursenators bezeichnet Bröckers als "Rufmord".
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