9punkt - Die Debattenrundschau

Jetzt soll's dem Autor an den Kragen gehen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.07.2017. Die SZ fürchtet ein Aufziehen der wölfischen Demokratie: Polens Regierung zumindet hat und will schon keine Kontrolle mehr über sich. Der Standard fürchtet nicht nur um die polnische Justiz, sondern immer mehr auch um die Presse. In der taz spricht der türkische Modeschöpfer Barbaros Şansal über seine brutale Inhaftierung. In der NZZ drängt Liao Yiwu, Liu Xiaobos Witwe Liu Xia ausreisen zu lassen. In der Welt ärgert sich Elisabeth Ruge über das zähe und traurige Ausharren alter Männer. Ina Hartwig rät, sich an Menschen zu halten, die einem guttun.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.07.2017 finden Sie hier

Europa

In der SZ sieht Heribert Prantl wie auch Ungarn, den USA und der Türkei die Demokratie in ihr wölfisches Stadium übergehen, in dem sich die Mehrheit nimmt, was sie kriegen kann: "Jarosław Kaczyński, der Chef der polnischen Regierungspartei, beschimpft seine politischen Gegner als 'Verräterfressen' und 'Kanaillen'. Er tut das nicht am Stammtisch seiner Freunde, sondern am Mikrofon des Parlaments. Er hat die Kontrolle über sich verloren. Er will sich selbst nicht kontrollieren, und er will seine Politik nicht kontrollieren lassen. Das ist bezeichnend für den Ausstieg des Kaczyński'schen Polen aus der Demokratie. Demokratie ist, so hat das der deutsche Historiker Karl Dietrich Bracher einmal klug beschrieben, die Staatsform der Selbstbeschränkung. Diese Selbstbeschränkung ist Politikern wie Kaczyński, sie ist Recep Tayyip Erdoğan, Viktor Orbán und Donald Trump fremd und zuwider; sie alle ersetzen Selbstbeschränkung durch Selbstüberhebung."

Der frühere Spiegel-Korrespondent und Autor Martin Pollack weist im Standard darauf hin, dass Polen nicht nur um die Unabhängigkeit der Justiz fürchten muss, sondern auch um die der Presse: "Wie kritische Journalisten unter Druck gesetzt werden, um sie mundtot zu machen, bekommt dieser Tage der Buchautor und Reporter Tomasz Piatek, zu spüren, der ein Buch über Verteidigungsminister Antoni Macierewicz und seine dubiosen Verbindungen zum Umfeld von Wladimir Putin und zu russischen Geheimdienst- und Mafiakreisen geschrieben hat. Macierewicz und seine Geheimnisse schlug in Polen ein wie eine Bombe, das Buch wurde zum Bestseller, obwohl Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums dem Autor sofort vorwarfen, sein Werk enthalte nichts als Lügen... jetzt soll's dem Autor an den Kragen gehen."
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Politik

Berührend und bewegend spricht Liao Yiwu im Interview mit Karin Betz in der NZZ über den Tod Liu Xiaobos, erhebt schwere Vorwürfe gegen Ai Weiwei, der sich sehr gehässig über ihn geäußert haben soll, und fordert noch einmal kategorisch die Ausreise der Ehefrau Liu Xia: "Sie muss da unbedingt raus. Auch sie ist krank und sollte im Ausland behandelt werden. Die demokratischen Staaten der Welt sind in der Pflicht, mit der chinesischen Regierung zu verhandeln und sie zu bitten, sie gehen zu lassen. Kein chinesisches Gesetz spricht dagegen."

In der taz spricht der türkische Modeschöpfer und LGBT-Aktivist Barbaros Şansal im Interview mit Fatma Aydemir über die Lage im Land. In der Türkei kann er nicht mehr arbeiten, weil die Frauen keine Couture mehr tragen, sondern nur noch Kutten aus Polyester. Und weil er seines Lebens nicht mehr sicher ist: "Im Gefängnis wurde ich antisemitischer, homophober und psychologischer Gewalt ausgesetzt. In meinem Urin war Blut, ich habe so oft um eine ärztlichen Untersuchung gebeten, aber keine bekommen. Wenn die Beamten meine Zelle durchsuchten, schmissen sie meine Unterwäsche auf den Boden und trampelten darauf herum. Seit den Angriffen habe ich Probleme mit meinem linken Knie, mit meinen Nieren und meinen Rücken. Einer der Gründe, weshalb ich jetzt in Brüssel bin, ist, um mich behandeln zu lassen. Aber natürlich auch, weil ich hier das Haus verlassen und draußen in Ruhe etwas essen kann, so wie jetzt. In der Türkei geht das nicht mehr."

Auf Slate kann Will Oremus auch etwas Gutes über Sean Spicer sagen, der als Donald Trumps Sprecher kapitulierte: "Er war ein schlechter Lügner". Thomas Frank fragt im Guardian, wieso die Attacken der Medien auf Trump so wenig Wirkung bei den Amerikaner hinterlassen: "Ja, Trump ist unpopulär, aber nicht so wie er es verdient. Er ist sogar populärer als Hillary Clinton."

Weiteres:  Der NDR-Redakteur Wolfgang Müller konstatiert in der FAZ ein komplettes Versagen der Linken, global, politisch, theoretisch, und zwar ungefähr seit Willy Brandts Ost-Politik.
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Kulturpolitik

Im Tagesspiegel hält Christiane Peitz fest, dass die Intendanten des Humboldt-Forums die Kritik der Kunsthistorikerinn Bénédicte Savoy zurückweisen, die frustriert aus dem Beirat ausgeschieden ist (unser Resümee).
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Gesellschaft

Die etwas schrille, aber vom Merkur sehr engagiert verfolgte Debatte um den Sexismus an Schreibschulen schwappt nun auch ins Feuilleton über. Die Welt befragt Frauen im Literaturbetrieb nach ihren Gedanken und Erfahrungen zum Thema: Zum Beispiel Elisabeth Ruge: "Ich  denke  daran,  dass  es  Männern  oft  schwer fällt, Platz zu machen. Das schadet den Frauen, aber auch ihnen  selbst,  den  Männern.  Das  schadet  dem  Einzelnen, macht  alles  eng.  Aber  auch  der  Gesellschaft  im  ganzen  - dieses zähe, und auch traurige, Ausharren der alten Männer."

Oder Ina Hartwig: "Eben erst habe ich in einem Interview mit Max Frisch aus dem Jahr 1981 gelesen, dass die Emanzipation der Frau zugleich eine Emanzipation des Mannes bedeute, beides sei wünschenswert,  und  dieser  schönen  Einsicht  ist  eigentlich nichts hinzuzufügen. Dass mir das Wort Sexismus im Kontext des doch recht wohlerzogenen Literaturbetriebs etwas laut vorkommt, mag ein Generationengefühl widerspiegeln. Persönlich hatte ich meistens Glück, und ich rate  dazu,  sich  an  die  Menschen  (Männer  und  Frauen)  zu halten, die einem guttun, und nicht an diejenigen, die auf dem Mond leben."

Am Strand liegen kaum noch Frauen oben ohne,  FKK ist sowieso out. Wer will sich schon hinterher auf Facebook sehen? In einem Text über die neue Prüderie befragt Susan Vahabzadeh in der SZ dazu auch den Sexualpädagogen Sebastian Kempf: "Nacktheit habe eine ganz andere Symbolkraft als noch in den Achtzigerjahren, erläutert Kempf weiter. 'Früher war Nacktheit ein Zeichen von Entspanntheit. Heute ist Nacktsein eher verknüpft mit Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität.'"

Georgia Palmer wirft für die taz einen Blick auf die miesen Arbeitsbedingungen bei Lieferdiensten wie Foodora und Deliveroo. Besonders abstoßend: "Wer im Monatsdurchschnitt mehr als 2,2 Lieferungen pro Stunde schafft und mindestens 20 Stunden pro Monat am Wochenende arbeitet, erhält rückwirkend einen Euro zusätzlich für jede gearbeitete Stunde."

Weiteres: In der NZZ erzählt Hoo Nam Seelmann vom beliebten koreanischen Volkssport Arbeiten bis zum Umfallen: Selbst von den wenigen fünfzehn Ferientagen, die ihnen zustehen, nehmen sie nur die Hälfte in Anspruch.
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