Efeu - Die Kulturrundschau

Explosives kulturelles Material

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28.10.2023. Im Spiegel kritisiert die Künstlerin Hito Steyerl scharf einen Offenen Brief "für die Befreiung Palästinas!" in Artforum, den Tausende Künstler unterzeichnet haben. Warum Antimoderne und Antisemitismus fast zwangsläufig Hand in Hand gehen, erklärt in der taz der Künstler Leon Kahane. In der FAS staunt Salman Rushdie noch immer, dass seine "Mitternachtskinder" nicht das Ende einer Tradition einläuteten, sondern einen Anfang. Die taz amüsiert sich mit Lars von Triers "Geistern" und berichtet begeistert von der Kibera Fashion Week in Nairobi. Die SZ bewundert in Venedig die Frechheit Marcel Duchamps.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.10.2023 finden Sie hier

Kunst

Dass die postkoloniale Linke so anfällig ist für Antisemitismus, erklärt sich der jüdische Künstler Leon Kahane mit deren Abwertung von Aufklärung und Moderne. "Ich sage ganz bewusst Antimoderne und meine nicht den kritischen Ansatz, dass man mit Mitteln der Aufklärung die Schuldzusammenhänge der Moderne aufklärt. Sondern ich meine die Abwicklung der Aufklärung. Am Ende dessen steht dann nicht eine bessere Welt, sondern nur noch Autoritarismus. Wenn man eine Antimoderne mit modernen Mitteln erwirken will, dann ist man bei der Hamas", erläutert Kahane im Interview mit der taz. Auch die Vorliebe für identitäre Kunst spiegele diese Haltung wieder: "Oft wird das Indigene zum Gegenstand von Projektionen. Das geht einher mit der Überhöhung einer Idee von Ursprünglichkeit und Authentizität. Sehr viel wird über die Kategorie des 'Volks' verhandelt. Anstelle des Individuums tritt das Kollektiv: Wir sind, was wir sind, und das ist ungebrochen und unhinterfragbar. Ich glaube, das ist das, was gerade Deutsche attraktiv finden am Postkolonialismus, weil sie sozusagen ein Verantwortungsverhältnis nach außen verschieben."

Die Künstlerin Hito Steyerl kritisiert im Interview mit Spon scharf einen im amerikanischen Kunstmagazin Artforum veröffentlichten offenen Brief, den "Tausende Künstler" unterschrieben haben, den sie jedoch total einseitig pro-palästinensisch findet, zumal er die Mordorgie der Hamas am 7. Oktober nicht einmal erwähnt: "Momentan gibt es eine Kunstmarktposition, eine progressiv-universalistische Strömung und eine wie Slavoj Žižek richtig sagt: identitäre Pseudo-Linke. Von denen halten einige die Hamas für eine dekoloniale Befreiungsbewegung. Genau wie Erdoğan." Sie hat jedoch die Hoffnung, dass wir "einen Punkt erreicht haben wie viele linke Bewegungen Mitte der Siebzigerjahre. Damals mündeten antiimperialistische Bestrebungen teils in der Bewunderung von Diktaturen oder mittlerweile islamistischen Stasi-Söldnern. Das brachte einige dann doch irgendwann dazu, umzudenken. Diese Prozesse erschöpfen sich also zwangsläufig irgendwann, weil sie zu gewalttätig und zu korrupt werden. Das wird in diesem Falle leider noch eine Weile dauern." Hier Steyerls Gegen-Brief.

Marcel Duchamp, L.H.O.O.Q. (laut Willi Winkler: "die mit dem heißen Arsch"), September 1964, rectified readymade. Attilio Codognato Collection, Venice © Association Marcel Duchamp, by SIAE 2023Caption


Willi Winkler (SZ) hat in der Peggy Guggenheim Collection in Venedig viel Spaß mit dem "großen Kunstzerstörer Marcel Duchamp", dessen Frechheit und Ehrlichkeit er einfach bewundern muss: "'Sobald ein Gegenstand von mir als ein Kunstwerk angeschaut wird, kann er als solches überhaupt garnicht mehr fungieren', referierte Walter Benjamin Duchamp in einer Notiz, die diesmal nicht erfunden ist. Die Kunst ist also, weniger kompliziert gesagt, gar keine Kunst mehr, wenn sie einmal auf dem Markt ist. Benjamin hielt 'Duchamps' (wie er ihn schrieb) für 'eine der interessantesten Erscheinungen der französischen Avantgarde', sah in ihm einen verwandten 'Eigenbrötler' und folgte ihm, wo Duchamp nicht-beglaubigten Werken, die sich im Abfall fanden oder dem Verrosten und Einstauben ausgeliefert waren, einen eigenen Kunstwert zuerkannte. ... Die Konzeptkunst verdankt Duchamp alles. Souverän pfiff er auf das Leiden mit der Kunst und verabschiedete den Künstler als Sisyphus, als Schmerzensmann und -frau. Genial seine Steigerung des Kunstwerks zum Kunstwert, denn der Kunstmarkt war masochistisch genug, sich die Kopie der Kopie als Originalkunst verkaufen zu lassen."

Besprochen werden die Ausstellungen "Holbein und die Renaissance im Norden" im Frankfurter Städel Museum (Welt), Benoît Piérons "Monstera deliciosa" im Wiener Mumok (Standard), Laila Bachtiars Zeichnungen im Museum Gugging in Klosterneuburg bei Wien (Standard), eine Schau mit der Zeichnungssammlung von Jasper Johns im Kunstmuseum Basel (FAZ) und eine Fotoausstellung des Magnum-Fotografen Ernst Scheidegger zu dessen 100. Geburtstag im Kunsthaus Zürich (NZZ)
Archiv: Kunst

Design

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In einer taz-Reportage berichtet Ruth Lang Fuentes von ihrem Besuch bei der Kibera Fashion Week in Nairobi, die mitten in einem Slum und unter improvisierten Bedingungen stattfand. Die Besucher sind lauter "junge Menschen, einer stylischer als der andere, der rote Sand des Eingangsbereichs wird zum roten Teppich. Die Besucher präsentieren stolz selbstgeschneiderte Kleidungsstücke in hochwertigen Stoffen, upgecycelte Jeansoutfits, extravagante Accessoires. ... Die Modedesigner feiern die Kulturen verschiedener kenianischer Stämme. Die Kollektionen schwanken zwischen traditionellen Einflüssen und westlichem Touch, zwischen Ghettoblaster und Stammesmaske, Schmuck aus Knochen und traditionellen Strohhüten, ostafrikanischen Mustern und Stoffen und perfekt gestrickten Kleidern. Da gibt es die Apocalypse Collection von Designer-Newcomer Pius Ochieng, die mit ihrem ausgewaschenen Grau und den alten Gasmasken an den Film 'Mad Max' erinnern soll und das auch tut. Die Designerin Joyleen Chepngetich tritt in Patchwork-Jeansjacke auf die Bühne, ihre Kollektion Melanin zeigt viel Haut und ein Model im weißen Shirt mit schwarzer Aufschrift: 'Black Is Beautiful'. Auch Gandanis Kollektion setzt ein Zeichen für Emanzipation, ist eine Mischung aus Zulu-Kriegsornamenten und der queeren Szene."
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Literatur

In der WamS fasst Jan Küveler die Auseinandersetzungen um Adiana Shiblis Roman "Eine Nebensache" zusammen (unsere Resümees). Er hat dafür das Buch gelesen (Maxim Billers Urteil, es sei "ein unliterarisches Stück Propaganda", sei "nicht von der Hand zu weisen") sowie einen von der taz entdeckten Artikel, in dem Shibli mit äußerst erklärungsbedürftigen Anspielungen davon träumt, palästinensische Aktivisten mögen auf kulturellen Anlässen mit israelischer Teilnahme Chaos und "echte Panik" stiften. Der Berenberg Verlag, der Shiblis Roman veröffentlicht hat, hält den Text zwar für tendenziös übersetzt. Doch wie der Verlag "auf die Idee kommt, dieser Text sei geeignet, den Verdacht zu zerstreuen, Shibli habe eine tiefsitzende Abneigung gegen Israel, die sie mit Boykott-Bestrebungen sympathisieren lässt, bleibt rätselhaft", findet Küveler. "Wenn überhaupt, verschärft Shibli die vom BDS gewohnten Forderungen: statt bloßem Boykott träumt sie von Chaos und Sabotage. Und dass aus den 'Sprengstoffen' der ersten Übersetzung 'Silvesterkracher' wurden, freilich im Vergleich mit 'explosivem kulturellem Material', ändert nichts am Umstand, dass die Metapher eindeutig auf (Selbstmord-)Attentate anspielt. ... Shibli spielt hier buchstäblich mit dem Feuer."

In der FAZ (Bilder und Zeiten) fragt sich der Dramatiker Moritz Rinke, "als ich die Nachricht aus Frankfurt gehört hatte, ob die Buchmesse ohne Adania Shibli nicht genau das versäume, was die israelischen und palästinensischen Schulbücher schon immer versäumt haben? Einander zuhören, die jeweils eigene Geschichte erzählen - denn wie sollte man so eng miteinander leben, ohne die jeweils eigenen Erzählungen von 'Unabhängigkeit' und 'Katastrophe' zu kennen?"

In der FAS spricht Tobias Rüther mit Salman Rushdie, der sich unter anderem an die Zeit vor der Fatwa erinnert, als er mit vielen weiteren Autoren als das nächste große Ding gefeiert wurde. "Wir galten als goldene Generation, haben uns aber nie so gefühlt. Einige von uns waren befreundet, andere kannten sich gar nicht, manche mochten die Arbeit der anderen, manche nicht - es fühlte sich nicht wie eine Gang an. Ich war mit Ian McEwan und Martin Amis befreundet, Julian Barnes mochte ich auch sehr, dann Kazuo Ishiguro, Jeanette Winterson, Bruce Chatwin - wenn ich heute zurückschaue, denke ich: Das war schon eine coole Bande. ... Als ich meinen Roman 'Mitternachtskinder' schrieb, war ich mir nicht sicher, ob ein Inder, der auf Englisch schreibt, in der postkolonialen Welt noch gefragt sein würde - oder ob indische Autorinnen und Autoren nicht in einer der anderen literarischen Sprachen ihrer Nation schreiben würden. Ich dachte, mein Roman würde am Ende einer Tradition stehen, stattdessen war es der Anfang. Und ich bin stolz, Teil dieses Anfangs gewesen zu sein, mit RK Narayan, Anita Desai, Vikram Seth, Amitav Ghosh. Und was die britische Generation angeht, von der Sie vorhin sprachen: Es war eine Art von Wiedergeburt der britischen Literatur - in vielen Stimmen und Ethnien, viel diverser als je zuvor. Die Leute wollten neue Stimmen."

Weitere Artikel: Mehr als 120 Schriftsteller - darunter Thea Dorn, Durs Grünbein, Terézia Mora, Bov Bjerg, Judith Schalansky und Dirk von Lowtzow - werfen dem Literaturbetrieb in einem Offenen Brief "ein an Bräsigkeit nicht zu überbietendes Schweigen" nach dem antisemitischen Massaker der Hamas vor und fordern zu Solidarität mit Israel auf. Im "Literarischen Leben" der FAZ erzählt Thomas David von seinem Spaziergang mit Zadie Smith, die mit "Betrug" ihren ersten historischen Roman verfasst hat, durch London. Alexander Menden spricht für die SZ mit Smith. Der Standard spricht mit Michael Köhlmeier über Tiere, die im Fokus der Europäischen Literaturtage in Krems stehen, die Köhlmeier mit einer Rede eröffnen wird. Ralph Dutli denkt in "Bilder und Zeiten" der FAZ über Lyrikübersetzung nach. Christiane Lutz fasst in der SZ einen Bericht des PEN America über verbotene Bücher in Gefängnisbibliotheken zusammen. Paul Jandl hat für die NZZ die Schriftsteller Monika Helfer und Michael Köhlmeier in ihrem efeuüberwucherten Haus in Hohenems besucht. Für "Bilder und Zeiten" der FAZ spricht Tilman Spreckelsen mit Cornelia Funke.

Besprochen werden unter anderem Ia Genbergs "Die Details" (taz), Leonard Woolfs "Mein Leben mit Virginia" (FR), Pedro Lemebels "Torero, ich hab Angst" (taz), René Marans "Ein Mensch wie jeder andere" (Tsp), Tom McCarthys "Der Dreh von Inkarnation" (FAZ) und der neue Asterix-Band "Die weiße Iris" (NZZ).
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Film

Albern sein beim Kampf zwischen Gut und Böse: "Geister - Exodus" von Lars von Trier

Tazler Tim Caspar Boehme hat sichtlich Freude an der von Lars von Trier nach über einem Vierteljahrhundert nachgereichten dritten Staffel der Serie "Geister", mit der der dänische Auteur in den Neunzigern eine Art europäische Antwort auf "Twin Peaks" schuf. Deren fünfstündiger Abschluss ist nun in den Kinos zu sehen und erneut feuert von Trier "jede Menge alberner Einfälle" ab, "die dem Finale kein bisschen schaden. "Selbst der infantilste Blödsinn führt dabei zwangsläufig irgendwann wieder zum Kern der Angelegenheit, der mit dem Kampf des Guten gegen das Böse zu tun hat."

Besprochen werden zwei neue, auf der Viennale gezeigte Filme von Quentin Dupieux (Standard), die auf Apple gezeigte Doku "Enfield Poltergeist" (Welt) und Franz Xaver Bogners BR-Serie "Himmel, Herrgott, Sakrament" (FAZ).
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Stichwörter: Trier, Lars von, Viennale

Bühne

Sibel Kekilli in "Fremd" am BE. Foto: Moritz Haase


Letztes Jahr erschien Michel Friedmans Buch "Fremd" - Erinnerungen an seine Kindheit als Sohn von Holocaustüberlebenden in Deutschland. Die FR war damals sehr beeindruckt von diesem Band, der auch literarisch eigene Wege ging: ein "atonales Langgedicht" nannte es FR-Kritikerin Judith von Sternburg, die es als einzige für eine überregionale Zeitung besprach. Nun hat es Max Lindemann mit der Schauspielerin Sibel Kekilli auf die Bühne des Berliner Ensembles gebracht. Es war ein besonderer Abend, hält in der taz Sophia Zessnik fest: "Friedmans Text ist nicht nur sehr persönlich, er stellt auch philosophische Fragen zu Zugehörigkeit, Identität und Schuld. Und politisch ist er, das zeigen die Aufnahmen auf der Bühnenwand, die sich mit Kekillis Antlitz abwechseln: fast nostalgische Bilder der BRD in ihrer wirtschaftlichen Hochphase. Dann ein Cut und Bilder von Steine schmeißenden Menschen draußen, verängstigten Menschen drinnen, deren Unterkunft später zu brennen beginnt." Sonja Zekri ist das etwas zu viel, wie sie in der SZ erklärt: "Natürlich muss man den Text nicht zwingend mit Bildern jüdischen Lebens ergänzen, und die historischen Aufnahmen aus Dunkeldeutschland sind gewiss nicht falsch. Aber dass sie den Abend um eine inhaltliche Ebene bereichern, kann man auch nicht sagen."

Jakob Hayner hat Kekilli für die Welt im BE getroffen und fragt: "Eine Frau mit türkischen Eltern, die einen Mann mit jüdischen Eltern spielt, kann man das heute überhaupt noch machen? Kekilli winkt ab, sichtlich genervt von solchen Debatten. Als ob es nur das Eigene und das Fremde gäbe - und nichts dazwischen! Was sie auf der Bühne macht, beschreibt sie mit einem starken Bild: 'Friedman hat mir, was mich sehr freut, dieses literarische Kind anvertraut. Und ich gehe vorsichtig und sensibel mit diesem Kind um - und gebe ihm etwas von mir selbst mit auf den Weg.' Es ist die Utopie einer geteilten Verantwortung ohne Besitzansprüche. Sobald das Kunstwerk auf eigenen Beinen steht, lässt es die starren Identitäten hinter sich."

Besprochen werden außerdem Johanna Wehners Adaption von Bram Stokers "Dracula" für das Schauspiel Frankfurt (nachtkritik), Verdis "Otello" mit Jonas Kaufmann in der Hauptrolle an der Staatsoper Wien (Standard), ein inklusiver "Kaukasischer Kreidekreis" von Helgard Haug und dem Theater Hora im Berliner Hau1 (BlZ), Christian Spucks Choreografie "Bovary" für das Staatsballett Berlin (NZZ) und Strauss' "Elektra" am Mainfranken-Theater Würzburg (FR).
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Musik

Sophia Zessnik porträtiert in der taz die chilenischen Musikerinnen Véronica und Magdalena Barriga. Florian Eichel resümiert in der Zeit die Donaueschinger Musiktage (weitere Resümees bereits hier und dort). Detlef Diederichsen hält im taz-Kommentar wenig von Melanie Gollins hier erhobener Forderung an Musiker, sich doch mehr mit Crowdfunding, PayPal und Co. zu befassen: "Ob am Ende mehr reinkommt als nach dreißig Minuten Mucke in der Fußgängerzone" bleibe fraglich.

Besprochen werden Taylor Swifts Neuaufnahme ihres Album "1989" aus dem Jahr 2014 (taz) und das Comeback-Album von The Kills (ZeitOnline-Kritiker André Boße bezeugt "viele irre gute Ideen auf diesem fabelhaften Album").

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Stichwörter: Swift, Taylor