Mord und Ratschlag

Der Mörder ist immer Wolfram Siebeck

Die Krimikolumne. Von Ekkehard Knörer
08.07.2003. Die Krimikolumne. Heute: In Jonathan Lethems "Der kurze Schlaf" duelliert sich der Held mit einem Känguruh. Walter Satterthwaites Serienkiller in "Scherenschnitte" macht gern Geschnetzeltes aus dicken Frauen. Zwei Krimis für speziellere Geschmäcker. Vorgestellt von Ekkehard Knörer
Jeder nimmt sich seine Inspirationen, wo er sie bekommt. Die Inspiration zu Jonathan Lethems Roman mit dem durchaus cleveren deutschen Titel "Der kurze Schlaf" - der trotzdem schönere englische lautet: "Gun with Occasional Music" - stammt von Raymond Chandler. Zwei Sätze des Klassikers sind dem Buch als Motto vorangestellt: "Es war überhaupt nichts dabei. Der Super Chief war pünktlich, wie fast immer, und das Objekt so leicht auszumachen wie ein Känguruh im Smoking." Das Känguruh ist's, das es Lethem angetan hat, denn ein Känguruh, genauer gesagt: ein Känguruh-Evolut, ist eine der Hauptfiguren seiner Chandler-Hommage. Evoluten sind Tiere irgendwo auf halber Strecke zwischen Tier und Mensch, ganz so wie "Der kurze Schlaf" ein Roman ist, der sich zwischen zwei Genres bewegt, dem Kriminalroman und der Science Fiction nämlich.

Die Welt, in der sich Conrad Metcalf, der Held und Privatinquisitor auf Philip Marlowes Spuren, bewegt, ist eine wenig erbauliche, genauer gesagt reichlich dystopische Welt, deren bizarrere Momente an die Ausgeburten der Fantasien Philip K. Dicks erinnern, Klassiker der Science Fiction wie Chandler Klassiker des Kriminalromans ist. Es ist eine Welt, in der Drogen wie Forgettol dafür sorgen, dass man möglichst rasch vergisst, was geschehen ist, bevor man erlebt, was man besser auch gleich wieder vergisst. Übers politische System erfährt man nichts, soviel aber ist klar, dass es hier um jede Menge Opium fürs Volk geht. Unter Druck gesetzt werden die Bürger mit Karma-Karten, jedes Fehlverhalten wird mit Punktabzug bestraft, am Nullpunkt geht's ab in den Froster, da wird man stillgestellt für ein paar Jahre. Aus dem Radio gibt's in Musik aufgelöste Nachrichten, schön unkonkret und außerdem hat man, ein großer Sedierungserfolg, den Leuten auch das Fragen abgewöhnt. Nur die Polizei - Inquisitoren genannt - und die Privatschnüffler haben noch eine Lizenz zur Nachfrage; Metcalfs Nachforschungen in einem Mordfall allerdings werden von allen Seiten nur ungern gesehen.

Tot ist ein Arzt mit Namen Maynard Stanhunt, verdächtig ein armer Wicht, der Orton Angwine heißt. Die Namen sind alle derart seltsam, es gibt einen Inquisitor mit Namen Morgenlander, mit dessen Kollegin Catherine Teleprompter hat Metcalf sogar einmal Sex. Dabei sind seine männlichen Nervenenden eigentlich im Besitz seiner Ex-Freundin, die mit ihnen auf und davon ist, aber das ist eine andere Geschichte. Bei den Ermittlungen kommt Metcalf dann das schießwütige Känguruh namens Joey in die Quere, ein Schaf-Evolut stirbt, die Punktzahl auf der Karmakarte fällt ins Bodenlose und zum Ende des ersten Teils landet Metcalf im Froster. Sechs Jahre später ist er zurück, die Leute sind auf Einheitsdroge und tragen, längst gehirngewaschen, ihre Gedächtnisse als kleine Geräte bei sich, die ihnen - höchst unzuverlässig - Auskunft geben über die Vergangenheit. Schöne, neue Welt, zweiter Teil.

Was aber, berechtigte Frage, ist von diesem Roman-Evolut zu halten? Passt das zusammen, Science Fiction der krausen und Hardboiled-Literatur der eher konventionellen Art? Nun, eine gewagte Mischung ist es in jedem Fall, aus Scherz, Satire, Hommage und Experiment. Am rechten Ernst fehlt es an allen Ecken und Enden, Kriminal-Spannung und SciFi-Staunen wollen sich auch nicht recht einstellen. Zugleich ist das ganze aber mehr als ein bloßer Jux, die Einfälle sind apart und die Metaphern, hinter denen der Erzähler in der Chandler-Nachfolge herjagt, sind oftmals hübsch absurd. Hervorstechendes Merkmal des Texts ist seine Künstlichkeit und die ist gewollt. Im Verschnitt der Genres fällt ein neuer Blick vom einen aufs andere und zurück, ein Doppel-Effekt der Verfremdung im recht strengen Sinne. Beide Genres lösen sich, im ausgestellten Kontakt miteinander, auf und existieren, das eine das andere befragend, doch weiter als eine raffinierte Textinstallation, durch die der Leser sich nicht ohne Neugier bewegt. Eine Sache also für etwas speziellere Geschmäcker, für die aber durchaus ein Genuss. Im Original ist das Buch übrigens bereits 1994 erschienen und wird jetzt, nach dem großen Erfolg von Lethems "Motherless Brooklyn", vom deutschen Stammhaus des Autors, dem kleinen, aber umso feineren Tropen-Verlag, in überarbeiteter Übersetzung neu veröffentlicht.

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Als speziell, ja sogar als zu speziell für den amerikanischen Geschmack, hat sich das neuste Werk des in Deutschland und Frankreich ohnehin mehr als in seiner Heimat beliebten Autors Walter Satterthwait erwiesen. In den USA, hat sich für seinen Serienkiller-Roman "Scherenschnitte" jedenfalls kein Verlag gefunden (dasselbe gilt übrigens für den im letzten Monat besprochenen "Potsdamer Platz" von Buddy Giovinazzo; der wird jetzt allerdings, wie es aussieht, von Hollywood verfilmt). Es mag daran liegen, dass Satterthwait reichlich respektlos und politisch nicht sehr korrekt mit einer amerikanischen Obsession umspringt, dem öffentlichen Schlankheitswahn nämlich, dessen Kehrseite die voluminösen Körper des wirklichen Suburb-Lebens darstellen. Auf diese Körper hat es nun der Killer des Romans abgesehen, genauer gesagt auf alleinstehende dicke Frauen, die er nicht nur tötet, sondern im Tod aufs Idealgewicht zurechtschnitzt. Eine blutige, eine ekelerregende Sache, und aus der Feder des vielleicht kultiviertesten aller amerikanischen Kriminalschriftsteller nicht zuletzt ein ironischer Kommentar zum Serienkillergenre, das, zum Glück, den Zenit seiner Beliebtheit hinter sich hat.

Es geht, neben dem Körpergeschnitzel des Killers, vor allem um eines in diesem Roman: ums Essen. Um erlesene Gerichte - der Mörder ist immer Wolfram Siebeck - und Fast Food, Sorgen um Gewichtszunahme und Geschmacksfragen aller Art. So appetitlich der Täter zu speisen versteht, so unappetitlich ist die Zubereitung der Leichen und klar wird vor allem, dass guter Geschmack zuletzt keine Frage der Moral ist. Viel Aufmerksamkeit investiert Satterthwait in seine weibliche Heldin, die griechischstämmige Sophia Tregaskis, und so erstaunlich es immer wieder ist, wie gut er Frauenfiguren hinbekommt, es ist hier vielleicht ein bisschen zu viel der liebevollen Empathie und, angesichts der B-Movie-Qualität des Sujets, auch ein bisschen zu viel der Psychologie, mit der hier Vorder- und Hintergründe des aktuellen Stands im amerikanischen Beziehungsdschungel ausgeleuchtet werden. Denn zum Kriminalplot kommen, neben einer Psychologin, die mit allen Wassern des Serienkiller-Profiling gewaschen ist, auch ein Widerling vom Fernsehen und die Alkoholprobleme von Detective Fallon ins Spiel. So ist dann "Scherenschnitte" ein Buch mit ein wenig Übergewicht, eine im Grunde runde Sache, der es an wenig fehlt, an Spannung durchaus nicht und ebensowenig an Humor. Es sind nur ein bisschen zu viele Zutaten hineingeraten, und die hat Satterthwait ein wenig zu lange gekocht.


Jonathan Lethem: "Der kurze Schlaf". Roman. Aus dem Amerikanischen von Biggy Winter. Überarbeitet von Michael Zöllner. Tropen Verlag, Köln 2003, 336 Seiten, gebunden, 19,80 Euro

Walter Satterthwait: "Scherenschnitte". Roman. Aus dem Amerikanischen von Gunnar Kwisinski. Goldmann Verlag, München 2003, 475 Seiten, Taschenbuch, 9,90 Euro