Magazinrundschau - Archiv

La vie des idees

168 Presseschau-Absätze - Seite 3 von 17

Magazinrundschau vom 01.06.2021 - La vie des idees

Janine di Giovanni schrieb neulich in The Atlantic, dass Handyvideos ein Hauptmaterial sein werden, um die Verbrechen Baschar al-Assads zu dokumentieren (unser Resümee). Flankierend lässt sich Cécile Boëx' Artikel lesen, der den Syrienkrieg von vornherein auch als einen Krieg der Bilder beschreibt. Auffällig sei zum Beispiel, dass Schergen des Diktators ihre Untaten oft selbst mit ihren Handys filmten und ins Netz stellten - von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkt: "Es wurden keine Maßnahmen ergriffen, um diese weit verbreitete Filmpraxis innerhalb des Repressionsapparates zu kontrollieren. Die begrenzte Sichtbarkeit dieser verschiedenen Videos, die die Missbräuche des Regimes dokumentieren, ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass es sich um 'schlechte' Bilder handelt: Die Auflösung ist oft schlecht, die Kamerabewegungen sind ruckartig, es fehlen Hinweise zur Kontextualisierung und nur wenige Videos sind übersetzt. Kaum nachvollziehbar für ein externes Publikum und meist auf eine syrische 'Öffentlichkeit' beschränkt, tragen diese Videos dazu bei, das Klima der Straflosigkeit und des Schreckens zu verbreiten."

Magazinrundschau vom 11.05.2021 - La vie des idees

Ausführlich unterhält sich Florent Guénard mit der Rechtsprofessorin und Spezialistin für internationales Strafrecht Rafaëlle Maison über den Ruanda-Bericht der Commission Duclert, die auf Weisung Emmanuel Macrons die französische Mitverantwortung am Genozid an den Tutsis untersuchte. Und man muss sagen, dass dieser tausendseitige Bericht nichts beschönigt (obwohl die Autoren laut Maison manchmal ein wenig durch die Blume sprechen). Die Juristin scheut sich nicht von Komplizenschaft zu sprechen, die eine rassistische Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern einschloss. Der Bericht ist laut Maison aber auch schonungslos in der Beschreibung französischer Funktionseliten, wie sie sich in einer absolut gleichgeschalteten, zugleich pompösen wie feigen diplomatischen Hierarchie zeigte. "Die Kommission wirft einen harten, ja erschreckenden Blick auf die Kultur der Verwaltungsspitze und der staatlichen Eliten..., nachdem sie auf dieser Ebene in den Archiven nur auf eine 'winzige Anzahl von Akteuren der französischen Geschichte in Ruanda' gestoßen ist, die 'klare Positionen' vertreten haben. Der Bericht weist darauf hin, dass kritische Äußerungen, die 'als gegen die Interessen Frankreichs gerichtet beurteilt wurden', manchmal zu Sanktionen oder 'Karriereverzicht' geführt haben. Unter den Empfehlungen finden sich auch einige, wenn auch diskrete Empfehlungen, die darauf abzielen, diese Gehorsamskultur (der Begriff wird von der Kommission nicht verwendet) abzubauen."

Magazinrundschau vom 20.04.2021 - La vie des idees

Die Soziologin Isabelle Sommier ist eine Spezialistin für politische Gewalt. In La Vie des Idées fasst sie ihre Forschungsergebnisse zur Gewaltstruktur von K-Gruppen zusammen, die es auch in Frankreich gab. Sie beschreibt sie als sektenartige Organisationen, die sich mit brutaler Intensität gegen die Einsicht in die eigene Absurdität wehrten, bis sie mit einem traurigen Rülpser um 1980 implodierten. Die Parteien waren extrem machistisch: "Die Beschwerden linker Frauen sind vielfältig und darüber hinaus allen politischen Organisationen gemeinsam, ob sie als Parteien organisiert oder Protestbewegungen waren. Die Dreifachbelastung (Aktivismus, berufliche Belastung, Hausarbeit) wurde ignoriert. Die Aufgaben wurden nach Geschlechtern aufgeteilt und führten zur Abwertung der Frauen. Es gab symbolische sexuelle Gewalt (die Aufforderung, 'befreit' zu sein und sich dem männlichen Begehren zu fügen) und manchmal auch reale Gewalt (Vergewaltigungen oder sexuelle Belästigung bei der trotzkistischen Partei LCR oder 'Révolution')."

Magazinrundschau vom 16.03.2021 - La vie des idees

Die Russlandexpertin Françoise Daucé zieht im Gespräch mit Florent Guénard und Jules Naudet  eine sehr nüchterne Bilanz der politischen Lage in Russland. Auf die Frage, warum keine wirkliche Opposition zustande kommt, verweist sie einerseits auf Proteste in der Provinz, die durchaus mal reüssieren können wie in Chabarowsk im fernen Osten. Zugleich aber erklärt sie die immer wieder einkehrende Friedhofsruhe schlicht mit der Angst der Bürger vor der Repression. Unter Putin funktioniert vieles nicht - auf die staatliche Repression aber ist noch Verlass, so Daucé: "Es sollte auch beachtet werden, dass neben der sichtbaren Polizeigewalt auf der Straße der Zwang oft an Mittelsleute weitergereicht wird. Universitäten können gegen mobilisierte Lehrer oder Studenten vorgehen, öffentliche Verwaltungen gegen ihre Angestellten und neuerdings werden auch die Eltern aufgefordert, für das gute Benehmen ihrer pubertierenden Nachkommen zu sorgen. Es wird also eine Form der Delegation von Kontrolle innerhalb der Gesellschaft ausgeübt."

Magazinrundschau vom 23.02.2021 - La vie des idees

Das Beispiel Polen zeigt, dass autoritäre Regimes keineswegs besser in der Lage sind, eine Krise wie die Pandemie zu bewältigen, schreibt die Politologin Jolanta Kurska. Polen ergriff zwar früh drastische Maßnahmen, aber da sei es darum gegangen, den schlechten Zustand des Gesundheitswesens zu kaschieren. Das Virus habe dann in der Folge die national-populistischen Tendenzen noch verstärkt, wie man beim Abtreibungsgesetz sehen konnte, das "mitten im Lockdown aus dem Gefrierfach gezogen" wurde. Administrativ habe die Bekämpfung des Virus nur Durcheinander ausgelöst. Und "die Liste plötzlicher und unüberlegter Entscheidungen ist lang. Entstanden ist daraus ein kommunikatives Chaos und die Überzeugung, dass die Behörden auf die Schnelle agieren und eher Partei- und politischen Interessen folgen als denen der Bürger. Zugleich wurden Informationsrechte über die Pandemie eingeschränkt, wodurch man Raum für Zweideutigkeiten und und Zweifel ließ. Und die Statistiken auf nationaler und kommunaler Ebene sind ebenfalls unklar: Die nationalen Zahlen liegen oft unter den addierten Zahlen aus den Kreisen." Aber eine klare Zahl weiß Kurska zu nennen: Die Übersterblichkeit liegt in Polen, vergleichen mit den Jahren 2016 bis 19, bei 40 Prozent.

Magazinrundschau vom 16.02.2021 - La vie des idees

Ein Buch französischer Autoren, die den Kapitalismus verteidigen - das lässt aufhorchen. Dominique Guellec bespricht die Studie "Le Pouvoir de la destruction créatrice" von Philippe Aghion, Céline Antonin und Simon Bunel, die überzeugt sind, dass sich die großen Herausforderungen der Menschheit - besonders der Klimawandel - nur mit, nicht gegen den Kapitalismus bewältigen lassen. Allerdings durch einen gezähmten Kapitalismus, dem staatliche Vorgaben gemacht werden müssen. Nur so lassen sich Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt, die durch "schöpferische Zerstörung" angerichtet werden, abfedern. Eine weitere spannende Frage ist, ob China innovativ sein kann: "Die Autoren betonen, dass die großen Innovationen des letzten Jahrhunderts alle in demokratischen Staaten realisiert wurden. Der Grund dafür ist, dass Innovation die Möglichkeit des Vorantastens und der Vielfalt braucht, Charakterzüge, durch die sich Diktaturen normalerweise nicht auszeichnen. Daraus könnte man schließen, dass China nicht innovativ ist: aber alle Indikatoren zeigen das Gegenteil, sowohl im Gebiet der Technologie als auch der Wissenschaft und des gesellschaftlichen Lebens. Es ist noch nicht auf dem Niveau der avanciertesten Länder, aber auf dem besten Wege, und die Frage ist, ob sein politisches System bremst, bevor es eine bestimmte Grenze erreicht. Chinesische Politiker sind sich des Themas wohl bewusst und zeigen großen Erfindungsreichtum, um das Monopol politischer Macht mit Konkurrenz in wirtschaftlichen Dingen zu verbinden."
Stichwörter: Kapitalismus, Klimawandel, Celine

Magazinrundschau vom 05.01.2021 - La vie des idees

La Vie des Idées, dieses schöne Aushängeschild des Collège de France, gerät leider auch immer mehr in den Bann der Social Justice Theorien und ihrer Programmatik. Rückhaltlos begeistert vollzieht Naïma Hamrouni die Zirkelschlüsse Magali Bessones nach, die sich in ihrem Buch "Faire justice de l'irréparable" für postkoloniale Reparationszahlungen stark macht. Das Argument, dass heute weder die Opfer noch die Täter mehr leben, werde von der Philosophin entkräftet. Denn Sklaverei und Kolonialismus wirkten in der heutigen Republik ungemindert und unentrinnbar fort: "In der Tat zeigt sie in einem Kapitel, das die Zeit von der Abschaffung der Sklaverei bis zur Dekolonisierung im Detail untersucht, dass die juristische, ökonomische und soziale Struktur Frankreichs nicht nur durch die koloniale Expansion und die Versklavung von Millionen möglich gemacht wurde, sondern dass Frankreich auch heute noch rassistische Ungleichheiten produziert. Anders als in philosophischen Lehrbüchern, die die Apologie der Aufklärung betreiben, und von gewissen Intellektuellen und Politikern behauptet, waren Sklavenhandel und Sklaverei keine Anomalien oder Anachronismen, die den Werten und Idealen der Republik widersprachen, sondern diese ist aus ihnen entstanden, theoretisiert und gerechtfertigt von ihren größten Philosophen."

Magazinrundschau vom 13.10.2020 - La vie des idees

Das Massaker von Oradour sur Glane, bei dem die SS-Division "Das Reich" knapp 700 Menschen ermordete, ist das schlimmste Ereignis dieser Art, das in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs stattgefunden hat. Oradour wird bis heute als Gedenkstätte erhalten. Der Historiker Geoffrey Koenig setzt das Massaker in den Kontext, zeigt, dass es auch in Frankreich nur ein Massaker von vielen ist und schildert die grauenhaften Details der Ermordungen: Die Männer wurden erschossen, 450 Frauen und Kinder in eine Kirche gedrängt, in die dann Erstickungs- und Handgranaten geworfen wurden. Und doch ist auch dieses Ereignis noch in einen weiteren Kontext zu setzen: Frankreich wurde zum Bloodland. "Das Erhängen Dutzender Zivilisten mitten in der Stadt wie in Tulle ist ein Echo der Ausschreitungen gegen die Bevölkerung von Charkow oder Kiew, wo genauso verfahren wurde. Die Umzingelung eines Dorfes, die Hinrichtung seiner Bewohner, gefolgt von der Zerstörung durch Feuer, ist eine Methode, die schon in Lidice in Böhmen, in den weißrussischen Regionen Witebsk und Minsk und andernorts eingeübt wurde. 'Das Reich' handelte in Frankreich also nicht innovativ. Im Gegenteil, man handelte genauso wie im Osten, nur dass man das Ausmaß nicht erreichte."

Magazinrundschau vom 15.09.2020 - La vie des idees

George Eliot, die Autorin von "Middlemarch", hat (neben anderen) auch Spinoza, einen der schwierigsten Philosophen überhaupt, aus dem Lateinischen ins Englische übersetzt. Die Übersetzung der "Ethik" wurde erst jetzt publiziert (bestellen) und ist im Rang den besten bisherigen Übersetzungen ins Englische gleichzusetzen, schreibt Steven Nadler in einer vielleicht etwas spezialistischen, aber faszinierend zu lesenden Besprechung. "Es war uns bekannt, dass die Romanautorin und Dichterin Mary Ann (später Marian) Evans, alias George Eliot sich für das sephardische Judentum interessierte. Daniel Deronda, der Held des gleichnamigen Romans, ist ein britische Jude mit sephardischen Wurzeln. Aber es ist ein weiter Weg von einer Fiktion über einen Proto-Zionisten des 19. Jahrhunderts, der mit seiner Familiengeschichte zu kämpfen hat, bis zum Versuch, einem zeitgenössischen Publikum die Behauptungen, Beweisführungen und Skolien der Ethik nahezubringen." Eliot ging sehr systematisch vor, so Nadler. Zunächst "übersetzte sie einen ganzen Teil der fünf Teile der Ethik, dann revidierte sie die Übersetzung, bevor sie zum nächsten Teil überging. Nach dem ersten Durchgang ging sie nochmal zum Manuskript zurück für weitere Revisionen. Die Revision des ersten Teils vollendete sie in einem Monat, während sie mit George Henry Lewes (ihrem Freund und Liebhaber) durch Deutschland reiste, aber andere Projekte - darunter Artikel über Milton, Mary Wollstonecraft und Thomas Carlyle - verlangsamten ihren Schwung beim Rest des Werks."

Magazinrundschau vom 04.08.2020 - La vie des idees

Der Député Jean-Baptiste Belley, porträtiert von Anne-Louis Girodet im Jahr 1797
Die Aufklärung ist ein Zeitalter der Stereotypisierung und Klassifizierung und damit auch ein Ursprung des Rassismus, lernt Guillaume Mazeau aus Anne Lafonts Band über "L'art et la race - L'Africain (tout) contre l'œil des Lumières". Immerhin, gesteht sie ein, "fördert die Aufklärung zugleich die Entstehung des transatlantischen Sklavenhandels und den Aufstieg antikolonialer Kritik, die Verschärfung der Segregation nach Rassen und den Abolitionismus". Auch war das 18. Jahrhunder ein großes Zeitalter des Porträts, und bei Malern wie Maurice Quentin La Tour waren schwarze Personen keineswegs verdinglicht oder erniedrigt, so Mazeau. "Aber die Lücke ist schmal: Nur einige Gesichter zeichnen sich durch den Nebel der Millionen Gesichtslosen ab, wie zum Beispiel der stolze Abgeordnete Jean-Baptiste Belley, den der Maler Girodet im Salon von 1797 ausstellt oder Yarrow Mamout, gemalt von Charles Willson Peale (1819). Denn Revolutionen sind auch eine Zeit der Unsichtbarmachung von Minderheiten, denen der Bürgerstatus verwehrt wird: Anne Lafont zeigt, wie der afro-indianische Aufständige Crispus Attucks, eines der ersten Opfer des Massakers von Boston von 1770, von Gravuren gelöscht wird. Abgesehen von wenigen Ausnahmen ist der revolutionäre Heroismus der atalantischen Revolution weiß und männlich, wie es auch das Schickal Toussaint-Louvertures bezeugt, dieses 'Helden ohne Bildnis'."