David Graeber, David Wengrow

Anfänge

Eine neue Geschichte der Menschheit
Cover: Anfänge
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022
ISBN 9783608985085
Gebunden, 672 Seiten, 28,00 EUR

Klappentext

Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm, Henning Dedekind und Andreas Thomsen. David Graeber und David Wengrow entfalten in ihrer Menschheitsgeschichte, wie sich die Anfänge unserer Zivilisation mit der Zukunft der Menschheit neu denken und verbinden lässt. Über Jahrtausende hinweg, lange vor der Aufklärung, wurde schon jede erdenkliche Form sozialer Organisation erfunden und nach Freiheit, Wissen und Glück gestrebt. Graeber und Wengrow zeigen, wie stark die indigene Perspektive das westliche Denken beeinflusst hat und wie wichtig ihre Rückgewinnung ist. Lebendig und überzeugend ermuntern sie uns, mutiger und entschiedener für eine andere Zukunft der Menschheit einzutreten und sie durch unser Handeln zu verändern.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 23.03.2022

Rezensent Arno Widmann lernt mit David Graebers und David Wengrows enthnografisch und archäologisch versierter, mit allerhand Archiv- und Bibliotheksfunden ausgestatteter Weltgeschichte Wissenswertes über unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und darüber, wie eine Zukunft überhaupt möglich ist. Die Autoren bringen es laut Widmann auf den Punkt, wenn sie die Geschichte als ein dauerndes "Ausprobieren" von Begriffen, Geräten, Techniken, Herrschaftsstrukturen und Geschlechterverhältnissen und als Parallelgesellschaften mit unterschiedlichen Regeln deuten. Dass die alten Griechen bereits die Dampfmaschine kannten, sie aber sozusagen nur als Effektmaschine nutzten, gehört laut Widmann zu den eindrücklichen Befunden des Bandes. Weltgeschichte als Bricolage und Tanzschritt - mal vor, mal zurück.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 14.03.2022

Rezensent Nikolaus Nützel gewinnt mit dem Band von David Wengrow und David Graeber einen "ganz anderen Blick" auf die Vergangenheit und die Gegenwart der Menschen. Die beiden Forscher stellen eine neue Menschheitsgeschichte dar, die keineswegs so linear und konsequent verlief, wie es ihrer Ansicht nach andere glauben machten, resümiert der Rezensent. Beginnend in der Barockzeit und dem später irreführenden Gedankenexperiment Rousseaus, liefern der Archäologe und der Anthropologe eine fast schon "überbordende Detailfülle" an Erzählungen der Zivilisationsformen von vor hunderttausend Jahren von Südamerika bis Asien, staunt Nützel. Dabei hinterfragen die Autoren immer wieder zahlreiche für unumstößlich gehaltene Erkenntnisse und haben so auch ein "kapitalismuskritisches Buch" geschrieben, meint der Rezensent. Allein von der deutschen Edition ist er enttäuscht, der er eine geduldigere Übersetzung und ein besseres Korrektorat gewünscht hätte.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 04.02.2022

Rezensent Eike Gebhardt bricht eine Lanze für den verstorbenen Anthropologen David Graeber und dessen Co-Autor David Wengrow. Ihr Anliegen - eine "neue Geschichte der Menschheit" zu schreiben, sei zwar alles andere als bescheiden, doch Bescheidenheit ist in diesem Fall vielleicht auch gar nicht angebracht. Geht es doch darum, die seit Jahrhunderten vorherrschende Fortschrittslogik in der Entwicklungsgeschichte menschlicher Zivilisation infrage zu stellen, und zwar ohne eine Alternative anzubieten, so der Rezensent. Denn das ist der Clou, die These, die die Autoren sehr anschaulich belegen: Es existiert keine einheitliche Entwicklungslogik, kein gerader Weg, der von allen Zivilisationen beschritten wurde bzw. werden muss. Damit ist auch der gegenwärtige Zustand unserer von Ungleichheit geprägten Gesellschaften alles andere als alternativlos, stellt Gebhardt fest. Kein Wunder also, dass die Autoren von allen Seiten angegriffen werden, meint der Kritiker. Sie ignorierten historische Fakten, wird ihnen vorgeworfen. Dabei sind es offensichtlich jene Anhänger der Fortschrittsteleologie, lesen wir, die die Fakten ignorieren bzw. als unwichtige Ausnahmen abtun, wie Graeber und Wengrow anhand zahlreicher Beispiele deutlich machen. Wem das dominante Geschichtsmodell nützt? Diese Frage kann sich jeder nach der Lektüre von "Anfänge" selbst beantworten, so der überzeugte Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.01.2022

Zunächst ist der hier rezensierende Ethnologe Karl-Heinz Kohl beeindruckt, wie selbstbewusst der Archäologe David Wengrow und der Ethnologe David Graeber sich in ihrem Buch gegen herkömmliche Entwicklungstheorien wenden. So seien etwa die Jäger-Sammlerhorden gar nicht so egalitär organisiert gewesen wie gedacht, und die ersten Siedlungen völlig ohne administrative Strukturen ausgekommen, liest Kohl. In den Begründungen der Thesen findet er dann aber doch zunehmend Ungereimtheiten und Kurzschlüsse unter der "geschickten" Rhetorik der Autoren - so würden etwa die Aussagen des Huronen-Häuptlings Kondiaronk "für bare Münze" genommen, ohne dessen Sprechersituation kritisch zu hinterfragen. Auch Graebers und Wengrows Rousseau-Lektüre scheint ihm etwas schlampig. Ein Buch, das auch bei den benachbarten Disziplinen der Theologie und Mediävistik auf Widerspruch stoßen dürfte, vermutet der Kritiker.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 27.01.2022

Etwas zögerlich folgt Rezensent Lars Weisbrod den Überlegungen des Archäologen (Wengrow) und des Ethnologen (Graeber), die mit "Anfänge" eine "neue Menschheitsgeschichte" schreiben wollten, in deren Kern das Verständnis von Freiheit steht. Der Rezensent erfährt von Hinweisen auf egalitäre Strukturen an frühzeitlichen Ausgrabungsorten auf der ganzen Welt, der Fokus liege aber auf indigenen Gruppen Nordamerikas. Nicht das damals alles Gold gewesen wäre, aber zu bestimmten Zeiten waren bestimmte Gruppen einfach flexibler, als andere, die sich streng hierarchisch aufbauten, lernt Weisbrod. Er liest von "Spielkönigen", die abgesetzt wurden, sobald man ihrer überdrüssig war und von Gruppen, die mal Königshof spielen und dann wieder gleichberechtigt auf die Jagd gehen. Das ständige Infragestellen und Verändern sozialer Strukturen ist für die Autoren wahrer Ausweis von Freiheit, meint Weisbrod. Auch von daher ist "Anfänge" für ihn ein wahrhaft libertäres Buch, weil es an die menschliche Willensfreiheit glaubt.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.01.2022

Bernd Scherer hat als Intendant des Berliner Hauses der Kulturen der Welt die postkoloniale Wende in den deutschen Kulturinstitutionen mit am aktivsten vorangetrieben - er ist auch Unterzeichner des "Weltoffen"-Aufrufs, der eine Öffnung der Institutionen für Positionen der Israelboykottbewegung BDS fordert. Sein zusammen mit seinem Kollegen Anselm Franke verfasster Artikel über das letzte Buch des früh verstorbenen David Graeber und seines Koautors David Wengrow liest sich wie ein Manifest. Das Buch stellt für Scherer und Franke eine kopernikanische Wende dar, und es wird, wie sie hoffen, zu einer Selbstaufklärung des überheblichen Westens beitragen. Die Aufklärung, so stellt sich in diesem Buch nämlich heraus, verdankt sich wesentlich dem Gespräch, das Mönche, Kleriker und andere Reisende mit indigenen Völkern, besonders in Amerika führten: Diese hätten ihnen durch ihre radikale Kritik an Eigentum und Hierarchie die Idee der Aufklärung erst eigentlich eingepflanzt. Die indigene Kritik war es, die die " revolutionäre Durchsetzung von bürgerlichen Freiheitsrechten in Europa zur Folge" hatte, so Scherer und Franke. Aber für diese Idee ihrer selbst revanchierten sich die Aufklärer, indem sie die Indigenen diskursiv in den "Naturzustand" zurückversetzen, um sich selbst zum letzten Glied der evolutionären Kette zu stilisieren, müssen die Rezensenten konstatieren, die am Ende ihres Artikels ankündigen, im Haus der Kulturen der Welt eine Tagung zu diesem Buch unter dem Titel "Die Zivilisationsfrage" abhalten zu wollen.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 13.01.2022

Rezensent Markus Schär lässt sich von dem Anthropologen David Gräber und dem Archäologen David Wengrow spannende Erzählungen der Menschheitsgeschichte voller Hoffnung erzählen. Dem Rezensenten zufolge widersprechen die beiden Forscher den bekannten "Gründungsmythen der modernen Gesellschaft" nach Rousseau und Hobbes und weisen lieber zahlreiche Beispiele alternativer zivilisatorischer Entwicklungen auf. Interessiert erfährt Schär etwa von der Bevölkerung im mexikanischen Reich Teotihuacán, die keinen Anführer brauchte, um ihr Miteinander gerecht zu organisieren. Letztendlich sieht der Rezensent die Frage, wie es dazu kam, dass aus so vielen verschiedenen Gesellschaftsentwürfen sich nur ein einziger durchsetzte, unbeantwortet, dafür begnügt er sich mit einer "faszinierenden Fundgrube an Möglichkeiten", die ihn zu weiterem kritischen Nachdenken anregen.

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