Essay

Die vertauschten Opfer

Von Pascal Bruckner
23.02.2015. Der Begriff der Islamophobie verfolgt drei Ziele: Er erklärt Kritik an Religion zu Rassismus. Er will die Diskriminierung von Muslimen dem Antisemitismus gleichstellen. Und er pocht auf einen Status der Singularität, den er dem Holocaust neidet.
"Etwas Neues war im Gange: eine neue Intoleranz zog auf. Sie verbreitete sich über den Erdball, doch niemand wollte es wahrhaben. Ein neues Wort war erfunden worden, um den Blinden ihre Blindheit zu lassen: Islamophobie. Die militanten Misstöne im gegenwärtigen Gepräge dieser Religion zu kritisieren, war Bigotterie. Phobische Menschen hatten extreme und irrationale Ansichten, also waren sie schuld und nicht das Glaubenssystem, das sich mehr als einer Milliarde Anhänger weltweit rühmen konnte."
(Salman Rushdie, "Joseph Anton", zitiert nach der deutschen Ausgabe, C.Bertelsmann Verlag, Seite 393)


Im Jahr 1910 veröffentlichte Alain Quellien, französischer Mitarbeiter im Kolonialministerium die Schrift "La politique musulmane dans l"Afrique Occidentale"1. Das an Fachleute gerichtete Werk ist eine moderate Lobrede auf die "praktische und nachgiebige" Religion des Korans, die von den Eingeborenen besser angenommen werde als das Christentum, das "zu kompliziert, zu abstrakt, zu streng für die schlichte und materialistische Mentalität des Negers" sei. Der Autor stellt fest, dass der Islam die europäische Herrschaft durch seine zivilisierende Art begünstigt, die Völker "vom Fetischismus und unwürdigen Praktiken" abbringt und möchte darum dem Vorurteil ein Ende bereiten, das diesen Glauben der Barbarei und dem Fanatismus gleichsetzt. So geißelt er die "Islamophobie", die unter dem kolonialen Personal grassiere: "Loblieder auf den Islam zu singen ist ebenso einseitig wie ihn geradewegs zu verunglimpfen". Man müsse ihn im Gegenteil tolerieren und unvoreingenommen behandeln. Alain Quellien spricht hier als ein um die öffentliche Ordnung besorgter Beamter. Scharf kritisiert er den europäischen Hang, einen Glauben zu verteufeln, der den Frieden im Kolonialreich aufrechterhält, was auch immer er sich für - in seinen Augen unbedeutende - Verfehlungen zu schulden kommen lasse, darunter Sklaverei und Polygamie. Da der Islam der beste Verbündete des Kolonialismus sei, müsse man die Gläubigen vor dem unheilvollen Einfluss moderner Ideen schützen und ihre Art zu leben wie auch ihre Überzeugen respektieren.

Ein anderer Kolonialbeamter, der in Dakar lebende Maurice Delafosse, schrieb zur gleichen Zeit: "Was auch immer diejenigen behaupten mögen, die Islamophobie als ein Prinzip unserer Verwaltung ansehen, Frankreich hat von den Muslimen in Westafrika nicht mehr zu fürchten als von den Nicht-Muslimen... Die Islamophobie hat in Westafrika also keine Berechtigung, während Islamophilie, das heißt die Bevorzugung von Muslimen, zu Misstrauen bei den nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppen führen würde, die nun mal viel größer sind."2 Die Begriffe existierten wahrscheinlich bereits, bevor die beiden Kolonialbeamten sie verwandten, sonst hätten sie sie nicht mit solcher Selbstverständlichkeit benutzen können. Dennoch wurden sie abgesehen von einigen Forschern bis zum Beginn der achtziger Jahre selten gebraucht, als sie sich nach der islamischen Revolution von 1979 in Teheran nach und nach in ein politisches Instrument verwandelten. In seiner Bedeutung schwankend, auf der Suche nach seinem Sinn, kann der Begriff der "Islamophobie" zwei verschiedene Dinge meinen: Entweder Kritik am Islam oder die Diskriminierung der Anhänger des Korans. Ein Wort gehört nicht demjenigen, der es zuerst gebraucht hat, sondern denen, die es neu erfunden haben, um seinen Gebrauch populär zu machen. Als Neuankömmling auf dem semantischen Feld des Antirassismus will dieser Begriff einen dreifachen Ehrgeiz befriedigen: das Prinzip der Unantastbarkeit, das Prinzip der Äquivalenz und das Prinzip der Austauschbarkeit.


1. Das Prinzip der Unantastbarkeit

Bei einem Istanbuler Treffen im Oktober 2011 fordert die OIC, die Organisation für Islamische Zusammenarbeit, die durch Hillary Clinton und Catherine Ashton vertretenen westlichen Länder auf, dem Grundrecht der Meinungsfreiheit Grenzen zu setzen, sofern es den Islam und seine negative Darstellung als einer Religion betrifft, die Frauen unterdrücke und einen aggressiven Bekehrungseifer an den Tag lege. Finanziert von einem Dutzend Staaten, die selbst ungeniert Juden und Christen verfolgen, will die Organisation Kritik am Islam zu einer international von den höchsten Instanzen anerkannten Straftat machen. Erstmals 2001 in Durban aufgebracht, wurde diese Forderung beinahe jedes Jahr erneuert. 2007 erklärte der UN-Sonderberichterstatter über den Rassismus, Doudou Diene, in seinem am 14. September dem Menschenrechtsrat in Genf vorgelegten Bericht die Islamophobie zu einer der "schwerwiegendsten Formen der Diffamierung von Religionen" überhaupt. Im März 2007 hatte der Menschenrechtsrat diese Art der Diffamierung schlicht und einfach dem Rassismus gleichgesetzt und gefordert, jede Verächtlichmachung von Propheten und religiösen Symbole zu verbieten, und den Zionismus als eine Form der rassistischen Diskriminierung und der Apartheid zu verurteilen. Doppelter Ehrgeiz also: Zunächst den Westen zum Schweigen bringen, der sich dreier Hauptsünden schuldig gemacht hat: des Kolonialismus, der Laizität und der Gleichheit von Mann und Frau. Vor allem aber ein Werkzeug schmieden, um die liberalen Muslime im Innern unter Kontrolle zu bringen, die es wagen, ihren Glauben zu kritisieren und eine Reform der Familienpolitik verlangen. Und die eine ganze Reihe von Forderungen stellen: Gleichheit zwischen den Geschlechtern, Recht auf Apostasie und Konversion, Recht, nicht an Gott zu glauben, nicht am Ramadan teilzunehmen, nicht den Ritualen zu folgen.

Diese Renegaten will man gegenüber ihren Mitgläubigen anprangern, sie als von kolonialer Ideologie verblendet darstellen, um jede Hoffnung eines Aufstands in der Welt des Korans zu verhindern. Und all das mit den Weihen der nützlichen Idioten von links und rechts, die stets auf der Pirsch nach einem neuen Rassismus sind und glauben, mit dem Islam das letzte unterdrückte Subjekt der Geschichte gefunden zu haben. Seit zwanzig Jahren sehen wir der Fabrikation eines neues Meinungsdelikts zu, das dem der "Volksfeinde" in der einstigen Sowjetunion gleicht. Und man will jene jungen Frauen stigmatisieren, die sich vom Schleier befreien und mit bloßem Haupt und ohne Scham durch die Straßen gehen wollen, die den Mann heiraten wollen, den sie lieben, und nicht den, der ihnen aufgezwungen wird. Man will jene Franzosen, Deutschen und Engländer türkischer, pakistanischer, maghrebinischer, afrikanischer Herkunft mundtot machen, die für sich das Recht religiöser Gleichgültigkeit in Anspruch nehmen und ihr Leben ohne bedingungslose Ergebenheit gegenüber der Ursprungsgemeinschaft führen wollen. Kurz gesagt, das Problem wird von einer intellektuellen, individuellen oder theologischen auf die Ebene des Strafrechts verlegt, jeder Einspruch oder Vorbehalt kann geahndet werden. Der Bann triff auch die universitäre Welt, wie der Streit zwischen dem Mediävisten Alain de Libera und dem Historiker Sylvain Gouguenheim beweist, der als "islamophober Gelehrter" gehandelt wurde, weil er in seinem Werk die Rolle der Araber bei der Überlieferung des antiken Wissens als minimal bezeichnet hatte.3 Was eine schlichte fachliche Meinungsverschiedenheit hätte bleiben müssen - für den Laien schwierig bis in die Tiefe zu verfolgen -, verwandelte sich in Inquisition, Kabale und Hexenjagd. Und natürlich wurde Gouguenheim beschuldigt, aus der extremen Rechten zu stammen und einen ungeheurlichen Rassismus an den Tag zu legen, indem er den Anteil der Muslime an der Entstehung des europäischen Geistes geringschätzte.


Bleibt ein Mysterium: Die Wandlung von Religion in Rasse, denn die erneute neue Einteilung der Welt in Rassen scheint nach einem halben Jahrhundert das wohl verblüffendste Resultat der Kämpfe gegen Diskriminierung, die stets von neuem das Unheil schaffen, von dem sie sich befreien wollen. Die Operation ist heikel, steht aber kurz vorm Gelingen: Eigentlich dachten wir, dass universelle Religionen wie der Islam oder das Christentum viele Völker umfassen und sich nicht auf eine Ethnie beschränken lassen. Nun aber stellt der Begriff der Islamophobie eine Verschmelzung zwischen einem Glaubenssystem und seinen Gläubigen her. Ein Angriff auf den Islam entwürdigt also die Muslime, Kritik am Christentum entwürdigt die Christen.

Doch Gehorsam zu verweigern, Dogmen abzulehnen, die man für absurd oder falsch hält, ist die Basis jedes intellektuellen Lebens: Müsste man dann nicht auch von einem antikapitalistischen Rassismus sprechen, einem antiliberalen, einem antimarxistischen? In einer demokratischen Ordnung haben wir das Recht, einen Glauben in seiner Gesamtheit abzulehnen, ihn als irreführend, rückwärtsgewandt und verdummend zu beurteilen. Schlagendes Gegenbeispiel: Obwohl die christlichen Minderheiten in der islamischen Welt verfolgt, getötet, zum Exodus getrieben werden, spricht niemand von Christianophobie, wie es Mitarbeiter der Uno vorgeschlagen haben. Als täuschten uns die Sinne: Es fällt uns schwer, uns das Christentum nicht als eine Religion der Eroberung und der Intoleranz vorzustellen, dabei ist sie heute, zumindest im Nahen Osten und bis Pakistan, eine der Märtyrer. Man kann in Frankreich, dem Land antiklerikaler Tradition, Moses, Jesus und den Papst lächerlich machen, sie in allen, selbst den groteskesten und obszönsten Posen zeigen, aber man darf nicht über den Islam lachen, will man nicht den Zorn eines Volkstribunals auf sich ziehen.4 Unter allen großen Religionen soll allein der Islam von Spott und Schmähung ausgenommen sein. Was für eine Anmaßung.

Und hier kommt der befremdlichste Aspekt der ganzen Geschichte ins Spiel: Ein Teil der amerikanischen und europäischen Linken hat sich zur Verteidigung dieses rückwärtsgewandten Islams mobilisieren lassen. Man könnte das die neobolschewistische Bigotterie der verirrten Anhänger des Marxismus nennen. Die Linke, die alles verloren hat, die Arbeiterklasse und die dritte Welt, klammert sich an diese Illusion: Der Islam, zur Religion der Armen erhoben, wird für die desillusionierten Kämpfer zur letzten Utopie, zum Ersatz für Kommunismus und Entkolonialisierung. In der Kategorie des Subjekts der Geschichte treten die Muslime, Mudschaheddin oder Dschihadisten an die Stelle der Proletarier, Verdammten dieser Erde, Guerilleros. Die Staffelübergabe trug sich wohl im Jahr 1979 zu, als der Sturz des Schahs Intellektuelle wie Michel Foucault oder Jean Baudrillard zu enthusiasmierten Kommentaren inspirierte. Die Rückkehr Gottes auf die Bühne der Geschichte entwertete die marxistischen und antikolonialistischen Schemata. Schluss mit den mühsamen Analysen über Klassenkampf und antiimperialistische Schlachten. Der Glaube mobilisierte die Massen stärker als die Ablehnung des Kapitalismus oder die Hoffnung auf den Sozialismus. Von nun an verkörpert der Korangläubige die Sehnsucht nach Gerechtigkeit auf Erden. Nun stellt er sich gegen die Ordnung der Dinge, überschreitet Grenzen, weitet den Horizont. Karl Marx" Opium fürs Volk wird zur unerlässlichen Zutat für die Erneuerung des Menschengeschlechts.

Weg mit dem Feminismus, der Gleichheit von Mann und Frau, dem rettenden Zweifel, dem kritischen Geist, mit allem, was traditionell zu einer fortschrittlichen Position gehörte. Diese Haltung bringt eine unerschütterliche Ehrfurcht für alle muslimische Rituale und Praktiken mit sich, besonders für den islamischen Schleier, der buchstäblich vergöttert wird, so dass für einige Kommentatoren eine Muslimin, die sich aus Überzeugung nicht verschleiert, nur eine Verräterin sein kann, eine Harkie, die sich an die Kolonialbehörden verkauft hat.5 Man könnte sich hier noch länger mit der islamfreundlichen Linken befassen, der Hoffnung einer revolutionären Randgruppe auf den Islam als Speerspitze eines "heiligen Kriegs" gegen den globalen Kapitalismus, wie einst in Baku 1920, als die bolschewistischen Führer, darunter Sinowjew, an der Seite der Panislamisten zum Dschihad gegen den westlichen Imperialismus aufriefen.6 Nehmen wir zum Beispiel diese Überlegung eines Philosophieprofessors: Es sei "statistisch erwiesen, dass rassistische, xenophobe, islamophobe Meinungen unter Weißen weiter verbreitet sind als unter Nicht-Weißen ... Man muss auch wissen, dass die muslimischen Befragten deutlich progressiver eingestellt sind als der Rest der Bevölkerung, was Fragen des Sozialstaats, der Verteilung von Reichtum, des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit betrifft, und dass schließlich 93 Prozent der Muslime in Frankreich bei den Wahlen im Mai 2012 für den sozialistischen Kandidaten gestimmt haben".7 Seltsame Reflexion die selbst ins rassistische Klischee führt, denn sie verknüpft politische Meinungen mit Hautfarben oder Religionen.


2. Das Prinzip der Äquivalenz

1978 erinnerte Edward Said in seinem "Orientalismus"-Buch an Karikaturen der westlichen Presse nach dem Krieg von 1973, die Araber mit Hakennasen an Zapfsäulen darstellten: "Eindeutig Semiten". Die verbreitete antisemitische Abneigung sei still und heimlich von den Juden auf die Araber übergegangen, daher glichen sich die Bilder.8 Die Islamfeindlichkeit des christlichen Abendlands sei mit dem Antisemitismus gleichgezogen und speise sich aus der selben Quelle. Der Philosoph Enzo Traverso erklärte, dass "die Islamophobie für den neuen Rassismus die Rolle spielt, die einst dem Antisemitismus zukam": die Ablehnung des Einwanderers, der seit der Zeit des Kolonialismus als der Andere wahrgenommen wird, als Eindringling und Fremdkörper, der sich nicht in die nationale Gemeinschaft fügt - und das Gespenst des Terrorismus ersetzt das des jüdischen Bolschewismus. "So gesehen schreibt sich die Islamophobie gänzlich in das ein, was wir die antijüdische Gedächtniskammer nennen könnten ... ein ganzes Repertoire aus Stereotypen, Bildern, Orten, Vorstellungen und Stigmatisierungen, das eine Wahrnehmung transportiert, einen stabilen, in sich homogenen Diskurs erzeugt. Diese Diskurspraxis ist also fähig zu einem Objekt-Transfer: Antisemitismus hat sich in Islamophobie verwandelt."9 Weitere Symbole: Bereits 1994 gingen junge Muslime auf die Straße, um gegen das Verbot des islamischen Kopftuchs zu protestieren: Sie trugen eine Armbinde, die gelb auf schwarzem Grund den islamischen Halbmond zeigte und eine offenkundige Anspielung auf den gelben Stern war, den die Juden während der Besatzung tragen mussten. Damit einher ging die Frage: Wann sind wir an der Reihe? Und als islamistische Aktivisten, die der Sympathie für die algerischen FIS verdächtigt wurden, im Sommer 1994 in einer Kaserne im Norden Frankreichs festgesetzt wurden, brachten sie an den Mauern des Gebäudes sofort ein Transparent an, auf dem "Konzentrationslager" stand.

Tariq Ramadan, der fundamentalistische Prediger aus der Schweiz und ehemalige Berater von Tony Blair, erklärte, dass die Situation der Muslime in Europa jener der Juden in den dreißiger Jahren gleiche. Welche Koinzidenz: 2014 ist 1933. Kritik am Islam, mangelnder Respekt für seine liturgische Integrität sind schon erste Schritte in der Vorbereitung eines neuen Holocaust. Und Wissenschaftler wie James Pasto, Jonathan M. Hess und Gil Anidjar versuchen, die Konstruktion des "jüdischen Problems" und des "muslimischen Problems" zusammenzudenken: Das christliche Europa, betont Gil Anidjar, konstruierte seinen Feind aus dem Araber und dem Juden, das heißt aus dem Verhältnis, das Europa zugleich zu Arabern und Juden unterhält"10. Ernest Renan machte Edward Said zufolge beim Aufbau der orientalistischen "Wissenschaft" die semitischen Thesen stark, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts vom Historiker August Ludwig von Schlözer eingeführt wurden. Laut Said enthalten Renans Arbeiten über die semitischen Sprachen geradezu "eine Enzyklopädie der rassischen Vorurteile gegenüber Semiten (das heißt gegenüber Muslimen und Juden)"11. Zwischen dem Aufbau Europas und der Islamophobie bestehe also ein ähnlicher Zusammenhang wie einst zwischen der politischen Judenfeindlichkeit und dem Aufbau der Staatsnationen in Europa. (Shlomo Sand)12. Das entstehende Europa stößt demnach die Muslime als Fremdkörper aus und verweigert ihnen jegliche Legitimität und Gleichheit.

Woher dieses leidenschaftliche Bemühen, Antisemitismus und Islamophobie auf die gleiche Stufe zu stellen? Oder anders gefragt: Warum will heute jeder Jude sein, sogar und vor allem die Antisemiten? Um über diese Phantasmagorie den Status des Unterdrückten zu erlangen, denn in Europa haben wir ein christliches Bild von den Juden, das aus ihnen die Gekreuzigten par excellence macht. Und natürlich will man die kleinsten Konflikte auf das Niveau eines neuaufgelegten Kampfes gegen den Nazismus erheben und die kleinste Kritik an den Muslimen dem Rechtsextremismus gleichstellen. So versuchen Fundamentalisten für ihren Glauben den Passierschein immerwährender Immunität zu erlangen. Ganze Gruppen verbarrikadieren sich in einer Festung der Identitäten, um die mangelnde Integration zu rechtfertigen. So wie der Antisemitismus sein Objekt überlebt, indem er mangels jüdischer Präsenz zur Not auch "Goi" zu Juden erklärt, so stellen sich manche Völker, Gruppen oder Minderheiten mit ihrer Sehnsucht, Juden anstelle der Juden zu sein, in eine scharfe Konkurrenz um das Privileg der Auserwähltheit. In der Regel unterscheidet man zwei größere Typen des Antisemitismus: den religiösen, der sich aus dem Christentum speist und dem jüdischen Volk vorwirft, Christus getötet zu haben und trotz der Offenbarung des Evangeliums in seinem Irrglauben zu verharren; und den nationalistischen, der die staatenlosen Minderheiten als Ferment der Unreinheit anprangert, an dem das Wohlergehen des Volkes Schaden nehmen könnte.

Diesen beiden klassischen Vorurteilen muss man seit 1945 eine dritte, überraschende Spielart an die Seite stellen: den Neid auf die Juden als Opfer, seit der Shoah Inbegriff des Unglücks. Vorbild und Hemmnis zugleich, besetzen sie eine Position, die von Rechts wegen den Afrikanern, Schwarzen, Palästinenser, Arabern, Russen zusteht. Das jüdische Leid ist zum Richtmaß geworden und die Shoah das Urereignis, von dem aus Verbrechen gegen die Menschlichkeit gedacht und verurteilt werden. Doch den Genozid sehen diese neuesten Bewerber auf den gelben Stern in einem krassen Widerspruch nicht als Gipfel der Barbarei, sondern als Gelegenheit, sich durch Unglück auszuzeichnen und einen ewigen Anspruch auf Immunität zu erwerben. Daher die ungeheure Karriere des Begriffs: sich selbst zum Opfer eines neuen Holocausts zu erklären, heißt vor allem, das grellste Licht auf sein eigenes Schicksal zu lenken, aber es heißt auch, sich das größtmögliche Unglück unter den Nagel zu reißen, sich zu seinem einzigen legitimen Eigentümer zu erklären und die anderen Menschen auszuschließen.

Hier wird ein symbolischer Kampf um einen heiß begehrten Markt ausgefochten: den des Antirassismus. Oder anders formuliert: Der Antisemitismus nährt sich aus seiner eigenen Zurückweisung, er flammt nicht trotz des jüdisches Leidens immer wieder auf, sondern gerade wegen dieses Leidens, um es sich so oder so anzueignen. Es sieht ganz so aus, als wollte man den Juden das Privileg auf Vernichtung streitig machen und ausrufen: "Auschwitz, das sind wir!" Daher die Ambivalenz der Holocaustleugnung, die die Shoah den Juden nur wegnimmt, um sie anderen Gruppen, anderen Völkern zuzuschieben, die sie mehr verdienen: den Afrikanern, den Palästinensern, den Muslimen. Die Toten werden ausgetauscht, nicht das Ereignis.


3. Das Prinzip der Austauschbarkeit


Die Shoah ist zu einem monströsen Objekt der Begierde geworden: Nicht als Abscheulichkeit schlägt sie alle in den Bann, sondern als ein perverser Schatz, aus dem sich jeder nach Belieben bedienen zu können glaubt. Statt die Öffentlichkeit für eine ungeheure Schandtat zu sensibilisieren, haben wir eine perverse Metaphysik des Opfers alimentiert. Daher der Eifer, dem Club anzugehören und diejenigen zu vertreiben, die sich bereits darin befinden. So forderte etwa Sir Iqbal Sacranie, bis 2006 Generalsekretär des Muslimischen Rats in Großbritannien, den (der Shoah vorbehaltenen) Holocaust Memorial Day durch einen Genocide Day zu ersetzen: "Die Botschaft des Holocausts, das "Nie wieder!", ist nur dann von Nutzen, wenn sie umfassender wird. Sie darf nicht eine Diskriminierung des menschlichen Lebens bedeuten. Die Muslime fühlen sich verletzt und ausgeschlossen durch die Tatsache, dass ihr Leben nicht denselben Wert haben soll wie diejenigen, die ihres im Holocaust verloren haben."13 Kurz: Es ist Zeit für einen Opferaustausch. In der Weltmeisterschaft der Opfer sollen die Muslime die Juden ersetzen, zumal letztere nicht nur ihr Anrecht auf den Titel verloren haben, sondern mit der Gründung des Staates Israel auch noch zu Kolonialherren geworden sind.

Die Idealisierung der Juden nach dem Krieg bereitete ihrer späteren Verunglimpfung den Weg, oder anders gesagt, mit der Stilisierung der Muslime als den neuen Juden ging automatisch die Stilisierung der Israelis als die neuen Nazis einher. Es gibt den guten Juden des Gestern, ewig verfolgt und in der Diaspora, sowie den bösen Juden, den herrischen und rassistischen im Nahen Osten. Wie es Enzo Traverso so treuherzig zum Ausdruck brachte: Einst kämpften Juden und Schwarze als Verbündete zusammen gegen Faschismus und Kolonialismus, doch dann verließen die Juden die "Linien der Farbigen" und wurden "Weiße", also Unterdrücker!14 Der wahre Jude trägt heute Kefije und spricht Arabisch, der andere ist nur ein Hochstapler, der sich einen Titel anmaßt, doch "die moralische Erhabenheit des Märtyrers" (Peguy) schon lange verloren hat. Um noch ein Zitat zu bringen, eines von Hunderten oder Tausenden, ein Interview, das der frühere Diplomat Stéphane Hessel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Januar 2011 gegeben hat: "Die deutsche Besatzung war, wenn man sie zum Beispiel vergleicht mit der heutigen Besetzung von Palästina durch die Israelis, eine relativ harmlose, von Ausnahmen abgesehen wie den Verhaftungen, Internierungen und Erschießungen, auch vom Raub der Kunstschätze." Wenn also Juden unterdrücken oder besetzen, dann verwandeln sie sich nicht nur sofort in Nazis, sondern sie agieren auch noch schlimmer als die Nazis, keine halbe Sachen! Wenn erst einmal das Prinzip der Äquivalenz von Judäophobie und Islamophobie durchgesetzt ist, kann man auch das Prinzip der Entsorgung angehen: eine subtile, aber effektive Methode der symbolischen Enteignung. Jetzt sind wir an der Reihe, sagen die Fundamentalisten. Auf diese Art kann sich der Islam als Gläubiger der gesamten Menschheit präsentieren: Wir sind ihm etwas schuldig für die erlittenen Qualen seit den Kreuzzügen, die Erniedrigung des Kolonialismus, die Besetzung Palästinas durch die Zionisten und schließlich für das schlechte Image, unter dem die Religion des Propheten leidet.15 Bei ihm müssen wir die moralische Schuld abtragen, die wir bis dahin den Juden erbracht haben.

Wie kann man auf diese semantische Erpressung reagieren? Zunächst, indem man sich nicht in der Schuld irrt, die im übrigen nicht zurückzuzahlen, sondern anzuerkennen und als Verantwortung in Erinnerung zu rufen ist. Europa hat eine Schuld gegenüber den Juden, die seine Geschichte seit den Ursprüngen begleitet. Der Islam ist Teil der französischen und europäischen Landschaft, er hat daher ein Recht auf unsere Sympathie, auf die Freiheit des Kultus, den Schutz des Staates, auf anständige Gebetshäuser und auf Respekt. Unter der Bedingung dass er selbst die Regeln der Republik und der Laizität respektiert und für sich weder einen außerordentlichen Status reklamiert noch spezielle Rechte, wie die Befreiung der Mädchen vom Schwimmen und Sport, getrennten Unterricht oder bestimmte Begünstigungen und Privilegien. Schutz der Gläubigen, sicher, aber auch Schutz der Ungläubigen, der Apostaten, Skeptiker; Unterstützung für die Dissidenten des Islams, wie ich es bereits vor zehn Jahren vorgeschlagen habe, und freie Auslegung der Doktrin wie es im Christentum, im Judentum oder im Buddhismus möglich ist. Der Begriff der Islamophobie zielt auf akademische Würden, um einen Status zu erlangen, der den anderen Religionen vorenthalten wird: den Status der Ausnahme. Alle großen Glaubensrichtungen hätten dann Pflichten, ausgenommen der Islam, der das Recht bekäme, bleiben zu dürfen, wie er ist. Er soll in seiner Unveränderlichkeit erstarren, während doch zugleich die arabisch-islamische Welt, zumindest in Tunesien und Ägypten, gegen seine strengen Dogmen und seine Macht rebelliert. Die am wenigsten tolerante Religion fordert zudem das außerordentliche Privileg, nicht in Frage gestellt zu werden, es sei denn, man möchte sich des Rassismus bezichtigen lassen. Religiöse Verfolgung von Muslimen ist selbstverständlich unzulässig und muss bestraft werden. Aber unter der Bedingung, dass dies auch für Christen, Juden, Hindus und Buddhisten in den islamischen Ländern gilt. Soll der Islam auf unserem Boden zur Normalität werden, dann muss er genau den gleichen Status bekommen wie die anderen Konfessionen: weder bornierte Verteufelung (es gibt nichts Dümmeres als den "Apéro mit Wein und Wurst", den die identitären Gruppen verfechten) noch blinde Verehrung. Der Fanatismus spricht stets in der Sprache der Menschenrechte und kleidet sich in das Gewand des Opfers, um seine Forderungen durchzusetzen. Wie das alte Sprichwort sagt: Auch der Teufel zitiert gern die Heilige Schrift.

In dieser Hinsicht befinden sich die großen Religionen seit einem Jahrhundert in Trauer um ihre einstige Größe. Sie sind nur mehr eine unter anderen und machen die schreckliche Erfahrung der Vielfalt. Genau dieses Gefühl beschleicht einen, wenn man in Europa oder den USA in eine beliebige Großstadt kommt und in ihr von einem Stadtteil in den anderen spaziert, an unzähligen Kirchen vorbei, katholisch, evangelisch, baptistisch, an Synagogen, hinduistischen Tempeln und Pagoden, artig aneinandergereiht wie bei einer Parade. Zeichen der Bigotterie? Vor allem eines zivilen Friedens und der stillen Koexistenz der verschiedenen Ausdrucksformen des Göttlichen. "Gibt es nur eine Religion, dann herrscht die Tyrannei; gibt es zwei, herrscht ein Krieg der Religionen; gibt es viele, hält die Freiheit Einzug." (Voltaire) Das Beste, was man sich für den Islam wünschen kann, ist weder die "Phobie" noch die "Philie", sondern die wohlwollende Gleichgültigkeit auf dem Markt der Spiritualität, der allen Gläubigen offen steht. Doch gerade diese Indifferenz wollen die Fundamentalisten nicht. Sie würde bedeuten, dass der Islam ein Monotheismus unter vielen ist, in ihren Augen eine unerträgliche Feststellung. Er sieht sich nicht als Erbe früherer Bekenntnisse, sondern als Nachfolger, der in ihre Rechte tritt. Er will nicht anderen gleichgestellt sein, denn er ist ihnen allen überlegen. Genau das ist das Problem!

Pascal Bruckner

Aus dem Französischen von Thekla Dannenberg

Der Text erschien im Französischen zuerst in der Revue des deux Mondes, Mai 2014, wir danken Pascal Bruckner für die Nachdruckgenehmigung.

1Alain Quellien,la politique musulmane dans l"Afrique occidentale, I9IO, Gallica, BNF

2 Maurice Delafosse, Revue du monde musulman, Jahrgang XI, Nr. V, I9IO, S. 57. Zitiert in Abdellali Hajjat und Marwan Mohammed, Islamophobie, La découverte, 2013, Seite 73 ff.

3Sylvain Gouguenheim, Aristote au Mont Saint Michel. Les racines grecques de l"Europe chrétienne,Le Seuil,2008

4In Frankreich betrafen laut einer Stastitik des Innenministeriums von 2013, die antireligiösen Taten, Schändungen von Friedhöfen und Gotteshäusern, die Beleidigungen und Hakenkreuz-Schmiererein in der Mehrheit die Christen, auch wenn sie proportional gegenüber Juden und Muslimen anstiegen.

5Der "Philosoph" Pierre Tevenain vergleicht das Gesetz von 2004, das den Schleier an Schulen verbietet, mit der von der Ehefrau des französischen Militärkommandanten, Madame Salan, organisierten Zeremonie vom 13. Mai 1958 in Algier, bei der muslimische Frauen auf einem Podium vorgeführt wurden, um als Zeichen der Emanzipation ihren Schleier zu verbrennen. Pierre Tevanian, La haine de la religion. La Découverte, Cahiers Libres, 2013, Seite 116. Die Streiterinnen von "Ni Putes ni soumises" wären demnach den Aushilfstruppen des Algerienkrieges vergleichbar, den einheimischen Truppen im Dienste der französischen Armee!

6Zitiert nach Pierre Tevanian, siehe oben, Seite 115

7Pierre Tevanian, siehe oben, S. 66-67

8Edward Saïd, L"Orientalisme, L"Orient crée par l"Occident, Le Seuil,I980, S. 319

9Enzo Traverso, La fin de la modernité juive, Histoire d"un tournant conservateur

10Zitiert in Abdellali Hajjat, Morwan Mohammed, siehe oben, S. 185. Gil Anidjar, The Jew, The Arab, A History of the ennemy, Stanford University Press 2003

11Zitiert in "Islamophobie", Seite I88. Der Autor selbst distanziert sich von dieser Hyptothese.

12Shlomo Sand, From Juedophobia to Islamophobia, Jewish Quarterly, 2 Juillet 2010, S. 194

13Zu den Opfern des arabisch-islamischen Genozids zählt Sir Iqbal Sacranie die Palästinenser und die Iraker, aber auch die Kurden, die bei den Giftgasangriffen von Saddam Hussein ums Leben kamen. Sir Iqbal Sacranie hat auch nach der Fatwa gegen Salman Rushdie erklärt, dass der Tod eine zu milde Strafe für Rushdie sei und er bis an sein Lebensende gefoltert gehöre.

14Enzo Traverso, Les Juifs et la ligne de couleur. In: De quelle couleur sont les Blancs sous la direction de Sylvie Laurent und Thierry Leclère, La Découverte, Paris, 2013, S. 253-261

15Siehe zum Beispiel die Islamophobia Studies Journal, Herbst 2012, eine Publikation der Universität Berkeley, und darin der Artikel von Ramon Grosfoguel, The multiple faces of islamophobia.