Efeu - Die Kulturrundschau

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10.04.2024. Die Filmkritik hat wenig Freude an Woody Allens neuestem Streich - die FAZ würde "Ein Glücksfall" am liebsten ins Museum verbannen. Die taz verteidigt die Antilopen-Gang und die ratlose Traurigkeit ihrer Antisemitismuskritik. Die SZ fragt sich, warum Jenny Erpenbeck im englischsprachigen Ausland gefeiert wird - in Deutschland jedoch nicht. In den Aufnahmen des Modefotografen Paolo Roversi verblühen und verglühen Farben, bewundert die FAZ. Die Welt feiert postmigrantisches Theater jenseits von Verzichtsethik im Berliner Gorki Theater. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.04.2024 finden Sie hier

Film

Wirkt wie im Museum und wurde zum Teil auch in einem solchen gedreht: "Ein Glücksfall" von Woody Allen

Woody Allen hat auch schon lange kein Meisterwerk mehr gedreht - und ob der 88-Jährige noch eines in sich trägt, daran haben die Filmkritiker erhebliche Zweifel. Auf seinen neuen, diesmal in Paris gedrehten Film "Ein Glücksfall" reagieren sie jedenfalls gelangweilt: "Schon in den Anfangsszenen" merkt FAZler Andreas Kilb, dass diese Story über zwei junge Erwachsene, die sich lange nach der Schulzeit zufällig auf der Straße treffen und sich prompt ineinander verlieben, "nicht von einem Franzosen stammt". Zwar inszeniert Allen routiniert, doch "die handwerkliche Perfektion dreht im leeren Raum. Der Regisseur, der kein Französisch kann, habe den Schauspielern die größtmögliche Freiheit bei den Dialogen gelassen, heißt es. Das sieht man, denn sie sprechen ihre Sätze nicht zueinander, sondern vor sich hin, und wenn sie etwas Wichtiges zu sagen haben, blicken sie in den Himmel über der Kamera, als hingen dort die Scheinwerfer eines alten Hollywoodfilms. Die Ausstattung tut ein Übriges: Sie ist so pariserisch wie ein Dekorationsentwurf für ein Museum."

"Allens Leidenschaft für das Filmemachen ist erloschen", seufzt Andreas Busche im Tagesspiegel. "Die Paris-Bilder von Kameramann Vittorio Storaro sind flach und fernsehtauglich ausgeleuchtet, die Einblicke in die Gepflogenheiten der Pariser Oberschicht, die ihre Wochenenden mit Jagdausflügen verbringt, lassen Allens scharfe Beobachtungsgabe vermissen. Und alle Überlegungen über die unvorhersehbaren Wege des Schicksals, die die Figuren anstellen, bleiben eine merkwürdige Behauptung in einem Film, dessen Geschichte dermaßen konstruiert ist." Immerhin sieht Busche Melvil Poupaud und Lou de Laâge gerne bei ihrem Spiel zu und Kira Taszman vom Filmdienst hat etwas Freude am "soliden Drehbuch", das diesem "kurzweiligen Thriller" zu Grunde liegt. Die NZZ hat mit Allen gesprochen.

Weitere Artikel: Esther Buss resümiert in der Jungle World den diesjährigen Diagonale-Schwerpunkt mit Filmen über die ersten Gastarbeiter-Generationen in Deutschland und Österreich. Carola Schwarz spricht für die taz mit der Schauspielerin Jella Haase, die aktuell mit "Chantal im Märchenland" (unsere Kritik) im Kino zu sehen ist. Andreas Hergeth wirft für die taz einen Blick aufs Programm des Filmfestivals Achtung Berlin. Nils Minkmar erinnert in der SZ an Wolfgang Menge, der vor 100 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden Ali Asgaris und Alireza Khatamis Episodenfilm "Irdische Verse" über die iranische Diktatur (taz, FD), Alice Rohrwachers "La chimera" (taz, FD), Ryusuke Hamaguchis "Evil Does Not Exist" (NZZ), Soleen Yusefs "Sieger sein" über Fußball spielende Mädchen im Berliner Wedding (SZ, FD), Sam Taylor-Johnsons Biopic "Back to Black" über Amy Winehouse (TA, FD) und die vierte Staffel der ARD-Serie "Charité" (FAZ).
Archiv: Film

Kunst

Joseph Beuys - mit Fahrrad auf den Stufen des Haupteingangs der Kunstakademie Düsseldorf © Hans Lachmann, Lizenz: CC BY-SA 2.0 DEED

Nicola Kuhn macht sich im Tagesspiegel Gedanken über Joseph Beuys. Anlass ist eine dem Künstler gewidmete Sammlungspräsentation im Berliner Hamburger Bahnhof. Beuys gehört, führt Kuhn aus, "zu den Hausheiligen des Museums", Besucher können nun zum Beispiel das beziehungsreiche Hauptwerk "Straßenbahnhaltestelle" entdecken. Wie aber blicken wir von der Gegenwart aus auf den Künstler? "Die Ausstellung erinnert an eine der großen Figuren der Kunst des 20. Jahrhunderts und verleugnet trotzdem nicht, dass mit Beuys' Tod die Strahlkraft seines Werks, zumindest seiner Botschaft von einer radikal demokratischen Gesellschaft verloren ging. Unter die aktuellen Kommentare von Claudia Roth bis Peter Raue, denen in einer Audiostation gelauscht werden kann, mischen sich viele skeptische Stimmen: Den einen gefällt die Stofflichkeit nicht mehr, die anderen fordern eine Aufarbeitung seiner NS-Vergangenheit."

Außerdem: Michael Wurmitzer porträtiert im Standard ein neues Museum in Niederösterreich: die Albertina Klosterneuburg. Die Münchener Pinakothek der Moderne versteht keinen Spaß - und bestraft einen Angestellten, der ein eigenes Bild in den Räumlichkeiten aufgehängt hatte. Ursula Scheer rekonstruiert den Vorfall für die FAZ, auch der Guardian berichtet.

Besprochen werden eine dem Schweizer Fotografen René Groebli gewidmete Schau im Wiener Westlicht (Standard), die Schau "Kunst als Beute. 10 Geschichten" im Berliner Humboldt Forum (monopol; "gut verdaubare Häppchen-Form"
Archiv: Kunst

Bühne

Sesede Terziyan in "Unser Deutschlandmärchen", Gorki Theater Berlin. © Ute Langkafel MAIFOTO

"Das 'postmigrantische Theater' hat endlich wieder einen Hit", freut sich Jakob Hayner in der Welt. Und zwar zeigt das Berliner Gorki Theater eine Bühnenfassung des autofiktionalen Romans "Unser Deutschlandmärchen", für den Dinçer Güçyeter letztes Jahr den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hatte. Der Regisseur Hakan Savaș Mican "und seinem Ensemble haben aus dem Buch einen witzigen und berührenden Abend gemacht, der vom Premierenpublikum minutenlang mit stehendem Applaus gefeiert wird. (...) 'Unser Deutschlandmärchen' verlässt sich darauf, das Publikum mit einer guten Erzählung zu begeistern, anstatt mit politisch halbgaren Botschaften abzuspeisen. Und in Zeiten, in denen wieder der persönliche Verzicht fürs große Ganze gepredigt wird, erinnert der Popschlachtruf 'I want more' daran, dass manche immer schon verzichten mussten."

Weitere Artikel: Clemens Haustein beleuchtet in der FAZ das Erbe des Komponisten und Dirigenten Alexander Zemlinsky, der in den 1910er und 1920er Jahren in Prag tätig war, sowohl am Neuen Deutschen Theater als auch an der Staatsoper. Lilli Uhrmacher spricht in der taz Nord mit Libuše Černá, Leiterin des Bremer Kulturfestivals "So macht man Frühling" über ein Gastspiel des tschechischen "Husa Na Provázku"-Theaters. Michael Kube sucht auf nmz nach "Verbindungslinien zwischen Bach, Mozart und der 'Zauberflöte'". Tilman Krause bespricht für die Welt eine neue Dürer-Biografie.

Besprochen werden die Kinderoper "Hamed und Sherifa" am Theater an der Wien (Standard) und Antonio Salieris "Kublai Khan" am Musiktheater an der Wien (NZZ; "das Publikum gähnt").
Archiv: Bühne

Design

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Ein Beitrag geteilt von Palais Galliera Musée de la Mode de Paris (@palaisgallieramuseedelamode)


Das Palais Galliera in Paris zeigt Fotografien von Paolo Roversi, darunter dessen zahlreiche Modefotografien für namhafte Häuser - wobei Roversis ästhetisch avancierte Arbeiten auf ihren Eigensinn pochen: "Die Technik ist hier bloß Mittel zum Zweck", schreibt Marc Zitzmann in der FAZ, und "dieser lautet: Verfremdung, Verwandlung, Verzauberung. Roversis Modefotografien - für Häuser wie Alaïa, Armani, Jean Paul Gaultier, Yves Saint Laurent, vor allem jedoch Romeo Gigli, Yohji Yamamoto und Comme des Garçons - fokussieren nicht auf Outfits. Sie schaffen vielmehr poetische Visionen, suggestive Traumgesichte, die selbst kompromisslos radikale Kreationen wie jene von Rei Kawakubo mit einer Aura von Verführung und Fragilität umgeben. In diesen Aufnahmen verschwimmen Konturen, vervielfachen sich Schatten, verblühen oder verglühen Farben, reizt die Linse gleich Vermeers Pinsel das Spiel zwischen fokussiertem Vorder- und flauem Hintergrund aus."
Archiv: Design

Architektur

Schon sehr bald muss sich entscheiden, was mit der Galeries Lafayette in der Berliner Friedrichstraße passiert, berichtet Nikolaus Bernau im Tagesspiegel. Das Kaufhaus, das bisher die Räume nützt, schließt früher als geplant, nämlich bereits im Sommer. Die von Kultursenator Joe Chialo ins Gespräch gebrachte Nutzung durch die Zentral- und Landesbibliothek (ZLB) wird nach wie vor diskutiert. Zu klären sind unter anderem Fragen des Urheberrechts. Bernau selbst ist nach wie vor äußerst angetan von der Idee: "Ein wesentlicher Reiz des Projekts ZLB in den Galeries Lafayette ist, dass es eben keine großen Umbauten braucht. Das Gebäude sehe, wie der Direktor der Zentralbibliothek, Volker Heller, immer wieder sagt, mit den offenen Etagengrundrissen, den auf Massenverkehr angelegten Fluchtwegen, der auf große Traglasten angelegten Konstruktion und den Mitarbeiterbüros schon jetzt aus wie eine Bibliothek." Die Alternative, ein Umbau mit anschließender Büronutzung, wäre für Bernau hingegen "ein urbanistisches Desaster".

Die ETH Zürich hat einen Vortrag des französischen Architekten und Aktivisten Léopold Lambert abgesagt, der sich mit "Siedlerkolonialismus" in Palästina auseinandersetzen sollte (unser Resümee). Als Grund wird unter anderem genannt, dass Lambert nicht bereit war, "sich glaubhaft und genügend explizit von Gewalt zu distanzieren". Lambert hatte unter anderem die Geiselnahmen der Hamas gerechtfertigt. Warum wurde der Mann überhaupt eingeladen? Wie Lucien Scherrer in der NZZ berichtet, passt es zur Stimmung am Architekturinstitut: "Eine ETH-Gastprofessorin schreibt regelmäßig für Léopold Lamberts Magazin Funambulist. Ein Postdoktorand feierte in einem inzwischen gelöschten Tweet den 7. Oktober, auf Instagram attestierte er den 'Zionisten' einen 'tiefen Durst nach palästinensischem Blut' und einen 'Eifer zur Massenvernichtung'. Den Entscheid der ETH-Schulleitung, den Vortrag von Lambert zu canceln, kommentierte er so: 'Du kannst deine Meinung frei äußern, solange wir mit dir einverstanden sind.' Lambert hat auf der Website seines Magazins 'Funambulist' einen offenen Protestbrief an die ETH lanciert, in dem er von 'Zensur' spricht und der ETH vorwirft, sie habe sich dem Druck von 'rechten' Medien wie der NZZ gebeugt."
Archiv: Architektur

Literatur

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Im hiesigen Literaturbetrieb kriegen es nur wenige mit, aber "die bedeutendste lebende Schriftstellerin deutscher Sprache" ist offenbar Jenny Erpenbeck, informiert Marie Schmidt in der SZ. Warum? Auf Erpenbecks Name stößt man regelmäßig in Buchläden im englischsprachigen Ausland, die US-Literaturkritik handelt sie bereits für den Literaturnobelpreis, einmal hat sie den International Booker Prize bereits gewonnen, fünfmal war sie dafür bereits nominiert - so nun auch in diesem Jahr, für die Übersetzung ihres Romans "Kairos" von 2021, der die Literaturkritik damals zwar begeisterte, bei den wichtigen deutschen Buchpreisen allerdings unter dem Radar blieb. Interessanter als dies zu kritisieren, findet es Schmidt jedoch, den Gründen dafür nachzuforschen, "warum Jenny Erpenbecks Vermittlung in die anglophone Welt so erfolgreich ist." Dass sie "die 'Last der Geschichte' in ihrer Literatur Schicht um Schicht abträgt, nicht selten in Form materieller Erinnerungsstücke, mag den Vorstellungen einer amerikanischen Leserschaft vom alten Europa, vielleicht besonders von Berlin, entgegenkommen. ... Zugleich betonen ihre englischsprachigen Leser, dass es keine toten, verstaubten Geschichtszeichen seien, mit denen Erpenbeck umgeht, alles sei mit persönlicher Erfahrung gesättigt."

Frauke Steffens gibt in der FAZ ein Update zu den Auseinandersetzungen bei dem US-Kulturmagazin Guernica, das seit der Kontroverse um Joanna Chens zunächst auf der Plattform veröffentlichten, dann aber hurtig gelöschten Essay "From the Edges of a Broken World" über die Lage in Israel (hier steht der Text mittlerweile online, außerdem hier unser Resümee der Ereignisse) in einen Quasi-Schneewittchenschlaf verfallen war, während reihum Redakteure auf Twitter wutschnaubend ihren Ausstieg verkündeten. Eine angekündigte Stellungnahme zur Löschung ist bislang nicht erschienen. Nun "gab es doch ein Lebenszeichen: Jina Moore, Chefredakteurin des Blattes, erklärte ihren Rücktritt. Sie habe 'From the Edges of a Broken World' publiziert, weil der Text genau das tue, wofür Guernica immer gestanden habe: in aller Komplexität einzufangen, wie Gewalt normalisiert werde. Die Redaktion stehe hinter der Löschung von Chens Essay - sie, Moore, aber nicht. Guernica werde ohne sie weitermachen. Bislang schien es so, als habe sich das Blatt angesichts des Konflikts selbst zerlegt. Aber vielleicht haben sich nur diejenigen durchgesetzt, die keinerlei Empathie mit Israelis dulden."

Weiteres: Noemi Hüsser stellt im Tagesanzeiger die japanische Schriftstellerin Sayaka Murata vor, die als Writer-in-Residence Zürich besucht. Besprochen werden unter anderem Karen Köhlers "Himmelwärts" (FR), Philipp Felschs Biografie über Jürgen Habermas (NZZ), George Saunders' Storyband "Tag der Befreiung" (SZ) und Elias Hirschls Dystopie "Content" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Musik

In der taz verteidigt Dirk Knipphals das Antilopen-Gang-Stück "Oktober in Europa" vor den Vorwürfen, die gestern unter anderem auch in der taz selbst laut wurden (unser Resümee). Es handelt sich zunächst einmal um "einen traurigen Song über das erneute Aufkommen des Antisemitismus und einen verfehlenden Umgang damit", hält er fest und bestätigt dann auch die von uns gestern stark gemachte Lesart, dass die Zeile "Schutzschild der Nachfahr'n der Juden-Vergaser" als Teil einer Auflistung verschiedener Milieus zu verstehen ist und also nicht als Bekräftigung der vorangegangenen Zeile ("Zivilisten der Gaza sind Schutzschild der Hamas"). "Das ganze Lied wird aus einer Perspektive vorgetragen, der bewusst ist, aus einer postarischen Gesellschaft zu stammen. Die Intervention richtet sich ja gerade gegen Menschen, die das vergessen. ... Dass die Zivilisten in Gaza als Entschuldigung für Antisemitismus in Deutschland herhalten und in diesem Sinne 'Schutzschild der Nachfahr'n der Juden-Vergaser' sein müssen, ist ein harter und auch diskussionswürdiger Vorwurf. Doch diese Lyrics stammen nicht aus einem Thesenpapier, sondern einem Rapsong. Sie intervenieren in eine konkrete gesellschaftliche Lage. Wer diesen Vorwurf kritisiert, sollte ihm direkt ins Auge sehen und ihn keineswegs dazu benutzen, die ratlose Traurigkeit und den mit ihr verbundenen konkret kritischen Impuls dieses Songs zu delegitimieren."

Außerdem: Nick Joyce plaudert für den Tagesanzeiger mit Roger Glover von Deep Purple, Alex Samuels spricht für die taz mit Anastasia Schmidt und Martin Fuller, die an der neu gegründeten Academy for Subcultural Understanding im Berliner Club Tresor insbesondere Clubgründer aus kleinen und mittelgroßen Städten coachen. Besprochen werden Elias Stemeseders und Christian Lillingers Album "Antumbra", das laut FR-Kritiker Hans-Jürgen Linke "eine siebzehnteilige Gegenwart" bietet, ein Konzert von Scooter (BLZ) sowie neue Alben der Black Keys (SZ), von Vampire Weekend (Standard) und Khruangbin (Pitchfork). Wir hören rein:

Archiv: Musik