Im Kino

Juvenil lockend

Die Filmkolumne. Von Kamil Moll
27.03.2024. Chantal, bekannt aus den "Fack Ju Göhte"-Filmen, muss noch nicht ganz erwachsen werden, sondern darf in Bora Dagtekins neuem Streich "Chantal im Märchenland" als Fantasieprinzessin reüssieren. Das Ergebnis ist ein Film, der, kleineren pädagogischen Anwandlungen zum Trotz, mit vulgärer Freude auf das schlechte Benehmen von Twentysomethings blickt.

Dafür braucht es im deutschen Kino wohl bis aufs Weiteres ein Märchenland: Entließ der dritte "Fack Ju Göhte"-Film (2017) die von Jella Haase gespielte Schülerin Chantal Ackermann mit der Androhung einer soliden Berufsperspektive, so gestattet ihr Bora Dagtekin zu Beginn des Spin-offs "Chantal im Märchenland" noch einmal eine Verlängerung der Halbstarken-Verweigerung über die Schulzeit hinaus. Während ihre beste Freundin Zeynep (wieder wundervoll als Sidekick, dem man eine tragende Rolle wünscht: Gizem Emre) sich durch die Bewerbungsschreiben-Vorhölle kämpft, verbringt Chantal ihre Zeit immer noch in einem Jugendzentrum und versucht sich als Micro-Influencerin auf Insta: Gelingt der Duckface-Look mit Sekundenkleber? Für eine solche heroische Drop-out-Existenz gibt es nicht viele Schutzräume, Zuflucht findet sie längst nur noch in der Imagination: Durch einen Spiegel gelangen die beiden Freundinnen in eine Fantasiewelt, wüst zusammengestellt aus dem halb erinnerten Fundus deutscher Märchengeschichten. In so einem Traumland wird Chantal, die kaum den Unterschied zwischen Realität und popkulturellem Spiel kennt, für die Harvey Weinstein und Michael Myers die gleiche Welt bevölkern und ein Pentagramm wie ein Peace-Zeichen aussieht, nur allzu folgerichtig alsbald Prinzessin, eine Regentin ihrer selbst.

In der deutschen Filmbranche des letzten Jahrzehnts ist Dagtekin ein Solitär: ein im jahrelangen Entwickeln von Stoffen für Fernsehserien geübter Drehbuchschreiber, der über eine eigene Filmadaption seiner prämierten Vorabendserie "Türkisch für Anfänger" zum konstant erfolgreichsten Kinofilmregisseur der Dekade avancierte. Das hängt womöglich damit zusammen, dass durch seine Produktionen eine Vielzahl junger Schauspieler*innen (Florian David Fitz, Elyas M'Barek, Jella Haase - aber auch Karoline Herfurth orientierte sich durch "Fack Ju Göhte" als Komödiendarstellerin neu) für den Mainstream entdeckt wurden. Wohl aber auch damit, dass er, die misslungene Boulevardkomödie "Das perfekte Geheimnis" (2019) ausgenommen, einer der wenigen im deutschen Kino arbeitenden Regisseure ist, die bevorzugt für Teenager konzipierte Filme drehen - ein Publikum gemeinhin, das durch die aktuell dominierenden Spielweisen des deutschen Genre-Kinos kaum noch angelockt wird.

Anders als in Sönke Wortmanns eher einem wohlfeilen Social-Engineering-Ethos verpflichteten Schulfilmen wie "Frau Müller muss weg!" (2015) und "Eingeschlossene Gesellschaft" (2022), in denen die deutsche Highschool durch Lehreraugen als zu bewältigende Konfliktzone gesehen wird, beobachtet Dagtekin in seiner "Fack Ju Göhte"-Trilogie, allen pädagogischen Tendenzen zum Trotz, mit vulgärer Freude Jugendliche, deren schlechtes Benehmen nicht als ausschließlich korrigier- und therapiebedürftig überdeterminiert wird. Ein emphatisch-gewitzter Blick, den er in "Chantal im Märchenland" nun auch auf Twentysomethings wirft.


Als größte diesjährige Blockbuster-Produktion von Constantin ist der Film dabei Teil einer momentanen Rückwärtsorientierung des Produktionsstudios: Wie zuvor "Manta Manta - Zwoter Teil" und im kommenden Jahr "Das Kanu des Manitu" setzt Constantin an der Schwelle des Leitungswechsels von Martin Moszkowicz zu Oliver Berben bevorzugt eigene Filmstoffe und Franchises fort, die einstmals Kassenerfolge waren oder über die Jahre an popkulturellem Wiedererkennungswert gewonnen haben. Fraglich bleibt jedoch bislang, wie sehr diese teils mehrere Dekaden zurückreichende Eigenbezüglichkeit noch ein neues, jüngeres Publikum zum Ticketkauf animieren soll. Auch "Chantal im Märchenland" gelingt dies, obwohl die "Fack Ju Göhte"-Reihe kaum zehn Jahre zurückreicht, bisweilen nur schwer: Nicht erst, wenn Jasmin Tabatabai als Hexe Jasmin auftaucht und bereits der verschmunzelte Umgang mit der Nennung des Namens das Wiedererkennen der Schauspielerin garantieren soll, kann man sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass hier insbesondere ein zunehmend älter werdendes Publikum zurückgeholt werden soll. In seiner übersteigerten kulturellen Referenzlastigkeit wirkt es gar mitunter, als wolle sich der Film weniger an die der Adoleszenz entwachsenden Zoomer-Zuschauer der ursprünglichen Reihe wenden, als auf die parodistischen Komödien der Nullerjahre zurückverweisen; insbesondere auf deren krude Anverwandlung von Populär- und Märchengeschichten (nirgends besser zu studieren wie in den Filmen Sven Unterwaldts, "7 Zwerge - Der Wald ist nicht genug" beispielsweise).

Und dennoch, Chantal Ackermann ist möglicherweise die einzige originäre Popkinofigur, die dem deutschen Film im 21. Jahrhundert bislang eingefallen ist und nicht bloß als Reboot oder reine Parodie aus bestehenden Stoffen abgeleitet wurde: eine kontemporäre Großstadtgestalt der mittleren Zehnerjahre, die nicht wie in Detlev Bucks "Bibi & Tina"-Franchise immer wieder aufs Neue mühsam aktualisiert werden muss und deren karikaturhaften Züge sich auch anders als bei vergleichbaren, dem Stand-up entlehnten Figuren wie Erkan und Stefan nicht in Klamotten und Sprachgestus erschöpfen. Für zwei Stunden lässt Bora Dagtekin Chantal noch einmal ein glückseliges, ewig pubertär verbleiben wollendes arrested development zelebrieren, bevor sie am Ende des Films letztlich doch beschließt, Erzieherin zu werden - und somit auch leider anschlussfähig wird für andere, weniger juvenil lockende Filmgeschichten.

Kamil Moll

Chantal im Märchenland - Deutschland 2024 - Regie: Bora Dagtekin - Darsteller: Jella Haase, Gizem Emre, Mido Kotaini, Max von der Groeben, Maria Ehrich, Nora Tschirner, Frederick Lau, Alexandra Maria Lara, Jasmin Tabatabai - Laufzeit: 123 Minuten.