Efeu - Die Kulturrundschau

Wenn man schick darüber grübeln kann

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.12.2023. Die FAS beobachtet in der Fondation Louis Vuitton, wie lange Mark Rothko brauchte, um in den Himmel der abstrakten Farbwolken aufzusteigen. ZeitOnline blickt mit sanftem Unbehagen auf Greta Gerwigs Barbie-Kinojahr zurück: Vollendet sich hier der Ausverkauf des Netzfeminismus? Die taz verzweifelt an der schier grenzenlosen Palästina-Solidarität im englischsprachigen Pop. Und die FAZ läutet das Kafkajahr 2024 mit einem Dossier ein.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.12.2023 finden Sie hier

Kunst

FAS-Kritikerin Tal Sterngast lässt sich in der Fondation Louis Vuitton von Mark Rothkos "Farbwolken" umhüllen, die dort in einer großen Retrospektive zu sehen sind. Spannend findet die Kritikerin aber vor allem, dass die Ausstellung die lange Entwicklung zeigt, die Rothko durchlief, bis er die figurative Malerei und "das Unterirdische und das Unbewusste verlassen" konnte und "in den Himmel der Abstraktion" aufstieg, wie Sterngast beobachtet: "Rothko brauchte mehr als zwanzig Jahre, um sich von Figuren, Linien und Körpern zu befreien und die radikale Auflösung der Bildgrenzen und die metaphysische Abstraktion vibrierender Farbflächen zu erreichen, für die er später berühmt wurde. Die chronologisch konzipierte Ausstellung, die sich über vier Stockwerke und elf Säle erstreckt, lädt dazu ein, nachzuvollziehen, an welchem Punkt es Rothko gelingt, dass, wie er es ausdrückte, die Malerei 'Wunder vollbringt'...Auf dem Weg durch den vierten und fünften Saal - etwa Mitte der 1950er-Jahre - beginnen sich die Farbwolken in den Gemälden zu verdichten. In den meisten Gemälden sind zwei oder mehr mit dem Pinsel aufgeriebene Farbblöcke oder -streifen mit subtil variierendem Glanz übereinander angeordnet, der Kontrast zu ihrem Hintergrund trennt sie voneinander. Die Farbe erfüllt den Raum."

Frans Hals, 'The Lute Player', before 1623-4. Musée du Louvre, Paris © RMN-Grand Palais (musée du Louvre) / Mathieu Rabeau 


So lebensnah erscheinen Welt-Kritiker Boris Pofalla die Figuren von Frans Hals, dass er glaubt, ihr Lachen in den Sälen der National Gallery in London widerhallen zu hören. Spezifisch für das Werk des niederländischen Maler ist, weiß der Kritiker, dass er nicht nur angesehene Bürger malte, sondern sich auch in den schummrigeren Ecken der Gesellschaft umsah: "Recht bekannt ist sein Bild 'Malle Babbe'...Es zeigt aller Wahrscheinlichkeit nach eine geistig behinderte Frau, die in Haarlem stadtbekannt war. Wie malte nun Frans Hals diese Person, die am unteren Ende der sozialen Leiter stand? Mit genau derselben Individualität und Hingabe wie seine Auftragsporträts. Die Eule auf ihrer Schulter kann für das niederländische Sprichwort stehen, betrunken wie eine Eule zu sein, oder aber für Weisheit (eindeutig lesbare Symbole sind selten bei Hals). Das Lachen der 'verrückten Barbara' ist auf dem Bild direkt assoziiert mit dem geöffneten Zinnkrug, aus dem sie eben noch getrunken zu haben scheint."

Besprochen werden die Ausstellung Juergen Teller: "I need to live" im Grand Palais Éphémère Paris (FAS) und die Ausstellung "James Gillray: Charakters in Caricature" im Gainsborough's House in Sudbury (FR).

Archiv: Kunst

Literatur

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Im Standard spricht Daniela Strigl über die von ihr herausgegebene Werkausgabe der österreichischen Schriftstellerin Marlen Haushofer, um deren Werk sich viele Missverständnisse ranken, etwa das der "'Frauenliteratur' im schlechtesten Sinn" und das der "schreibenden Hausfrau". Dabei ist sie "mit allen Wassern der feministischen Theorie und Literatur gewaschen, aber sie hat das kaschiert. Sie hat sich durch das Zurückgenommensein wohl mehr Möglichkeiten erhofft. ... Es gibt zwei frühe Bücher, die verschollen sind, von denen man aber aus dem Briefwechsel mit ihrem Förderer Hans Weigel weiß. Er hat ihr davon abgeraten, sie zu publizieren. Der erste dieser Romane handelte von einem Mord von mehreren Frauen an einem widerwärtigen Mann. Weigel sagte, es sei ein tolles Buch, aber so unmoralisch, dass man es dem Publikum nicht zumuten könne. Das Bedrohliche für das Patriarchat steckt in den Büchern - man sieht das aber auch daran, dass die bedrohlichsten Dinge in Rezensionen damals nicht thematisiert wurden. Dass in der 'Wand' der einzige Mann von der Protagonistin umgebracht wird, ist in den Berichten nie vorgekommen."

Die Epaper-Beilage "Bilder und Zeiten" der FAZ läutet das Kafkajahr 2024 mit einem großen Dossier ein: Kafka war "jedwede Pathosformel fremd", schreibt Jürgen Kaube in seinem Editorial. "Er stellte sich 'eine Gesellschaft von lauter Niemand' vor und hätte sich vermutlich auch gegenüber den Steigerungen, ein nichtentfremdetes Leben sei wünsch- oder sogar greifbar, distanziert verhalten. ... Vielleicht ist es das, was ihn, hundert Jahre nach seinem Tod, mit uns verbindet. Wir sind der Sprüche leid, die uns unerreichbare Zukünfte in Aussicht stellen. Wir wissen längst, dass es keine paradoxiefreie Welt gibt. Wir glauben nicht, dass uns die Kunst, die Moral, die Politik oder die Liebe über all das Unglück hinwegtragen werden, das mit unserer Existenz einhergeht. Kafka, der Surrealist, war ein Realist."

Andreas Platthaus durchleuchtet die Literatur des 20. Jahrhunderts nach Kafkas Einfluss darauf und ist sich sicher: "Kafka wird auch der große klassische Schriftsteller für das aktuelle gequälte Jahrhundert sein." Friederike Wißmann erklärt, wie Kafka, selbst kein allzu großer Musikhörer, zu einem großen Einfluss für Komponisten des 20. Jahrhunderts wurde. Hubert Spiegel beleuchtet das Verhältnis zwischen Kafka und dem Theater. Jan Wiele widmet sich dem Einfluss Kafkas auf die Popmusik. Matthias Alexander beschäftigt sich mit der Darstellung von Architektur in Kafkas Werken. Tilman Spreckelsen überprüft, inwiefern Kafkas Texte ein junges Lesepublikum erreichen. Andreas Kilcher spricht über die von ihm herausgegebene Edition mit Kafkas Zeichnungen. Dass diese mehr sind als bloße Werksillustrationen, bekräftigt Stefan Trinks. Und Maria Wiesner holt die BluRay von Orson Welles' Kafka-Adaption "Der Prozess" aus dem Regal.

Außerdem: In der taz erzählt die Schriftstellerin Anne Rabe, deren Debütroman "Die Möglichkeit von Glück" 2023 Bestandteil der großen Debatte über das Verhältnis der Literatur zur DDR war, von ihren Eindrücken bei ihrer Lesereise, bei der sie oft auf Schweigen im Publikum stieß, wenn es um Gewalterfahrungen in der DDR ging. Leonie Gubela durchstreift für die taz die insbesondere in Booktok-Sphären gepushte Welt der boomenden "Romance", also Liebesromanen für "junge Erwachsene zwischen 18 und 30, die sich zwischen Selbstfindung und Einstiegsjobs das erste Mal so richtig prickelnd verlieben". In seiner Proust-Reihe für den Tagesspiegel wirft Gerrit Bartels einen Blick auf Marcels Liebe für Adeline in der "Recherche". Und das Team der FR empfiehlt Bücher aus dem Backkatalog, mit denen man sich für 2024 wappnen kann. Etwas Ähnliches versuchen auch wir mit unserem Büchertisch "24 Bücher um das Jahr 2024 zu verstehen".

Besprochen werden unter anderem Joy Williams' Erzählungsband "Stories" (Intellectures), Sofia Andruchowytschs "Die Geschichte von Uljana" (FR), Marlen Pelnys "Warum wir noch hier sind" (taz), Paul Lynchs "Prophet Song" (taz), Nathan Hills "Wellness" (Presse), Zadie Smiths "Der Betrug" (SZ) und Lutz Rathenows "Trotzig lächeln und das Weltall streicheln" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Architektur

Nick Reimer hat sich für die taz in der Wiener "Seestadt" auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Wien Aspern umgesehen. Seit 2003 entstehen hier Wohnhäuser nach "möglichst ökologischen Kriterien", weiß Reimer: "Im Zentrum des Zukunftsquartiers liegt nicht das Rathaus, der Marktplatz oder ein Kaufhaus, sondern ein künstlich angelegter Baggersee - so groß wie 76 Fußballfelder und bis zu zehn Meter tief. Das Wasser ist kristallklar und bevölkert von Fischschwärmen, es wachsen Pflanzen und am Rand ein Schilfgürtel...Gleich daneben thront das 'HoHo', mit 84 Metern ist es das zweithöchste Holzhaus der Welt. In seinem Inneren befinden sich Büroräume, ein Hotel mit angeschlossenem Restaurant, ein Bäcker und ein Fitnessstudio. Häuser aus Holz haben den Vorteil, dass sie viel  Kohlendioxid speichern, während der Bau mit Beton sehr viel davon freisetzt." Auch hier ist nicht alles perfekt, so Reimer, so entbehrt die "Stadt der Zukunft" bisher einem innovativen Konzept zur Nutzung von Solarenergie. Trotzdem wandelt man hier durch ein "urbanes Reallabor" mit viel Potential, freut sich Reimer.
Archiv: Architektur

Film

Greta Gerwig vor zehn Jahren noch in Schwarzweiß in "Frances Ha"

2023 war das Kinojahr von Greta Gerwig, die in den letzten rund 15 Jahren eine ziemlich beachtliche Karriere hingelegt hat, wie Julia Lorenz auf Zeit Online erzählt: Als Schauspielerin begann sie in Lowest-Budget-Indie-Filmen, deren Zusammenhang man rasch Mumblecore nannte, fand dann rasch in größeren Indie-Produktionen wie "Frances Ha" (unsere Kritik) ihren Platz, als Regisseurin wurde sie 2023 mit "Barbie" (unsere Kritik) die kommerziell erfolgreichste Filmemacherin Hollywoods - und prägte in dieser Zeit ganz nebenbei zahlreiche Millennials und gab der Gegenwartsgeschichte des Feminismus ein Gesicht: "Sehr vieles an 'Barbie' zeigt, wie sich die Bildsprache des Mainstreamfeminismus im Jahrzehnt seit 'Frances Ha' verändert hat, was schiefgelaufen ist und was beinahe richtig: Frauen dürfen nun auch in Hochglanzproduktionen am Leben im Patriarchat verzweifeln, nur sind solche Darstellungen heute eher Teil des Verkaufsspektakels als Rebellion. ... 'Barbie' steht nun da als Monolith in der Welt, das Film gewordene Dilemma des längst gut durchkritisierten Anything-goes-Feminismus der Zehnerjahre, der von der Frauensportgruppe bis zur Botoxbehandlung alles als feministisch begreift, was den weiblichen Leidensdruck auch nur für kurze Zeit lindert. Wer ein wenig politische Sozialisation durchlaufen hat und genau in sich hineinhört, dürfte hier und da schon noch auseinander bekommen, was wirklich lebenserhaltend ist und was eine legitime, aber bequeme Kapitulation vor dem berühmten male gaze. Doch wer will das schon, wenn man so schick darüber grübeln kann?"

Außerdem: Marc Hairapetian plaudert für die FR mit Sofia Coppola über deren "Priscilla"-Biopic. Für die FAS spricht Mariam Schaghaghi mit Willem Dafoe über dessen Rolle in Yorgos Lanthimos' neuem Film "Poor Things". Patrick Holzapfel schreibt im Filmdienst einen Nachruf auf den georgischen Autorenfilmer Otar Iosseliani. Das Team der Presse nennt seine Highlights des Kinojahres 2023.

Besprochen werden Andrew Legges Zeitreise-Film "L.O.L.A." (Standard, mehr dazu hier), Olivier Nakaches und Éric Toledanos "Black Friday for Future" (online nachgereicht von der FAZ), Zack Snyders "Rebel Moon" (Presse, vom TA für die SZ online nachgereicht, unsere Kritik), die im Ersten gezeigte Serie "Power Play" (FAZ, FR) und die von Arte online gestellte Serie "Haus aus Glas" (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Wie kann man überhaupt mit einem so großen Erbe, wie dem von Pina Bausch umgehen, fragt Lilo Weber in der NZZ. Die "schwere Aufgabe" liegt nun auf den Schultern des französischen Choreografen Boris Charmatz, Intendant des Tanztheaters Wuppertal. Mit seinen ersten Aufführungen zeigt er sich ihr gewachsen, findet Weber: "Neben dem Werk hat Boris Charmatz die Wuppertaler Tänzer geerbt. Auch wenn nicht mehr viele Mitglieder des Ensembles selbst mit Pina Bausch gearbeitet haben, unterscheiden sie sich noch heute von Tänzern anderer Kompanien. In Charmatz' 'Liberté Cathédrale' wälzen sie sich mit den Gästen aus seinem früheren Umfeld am Boden, rennen durch den Raum des Mariendoms in Neviges, schwitzen, kämpfen sich ab - so hat man Bausch-Tänzer noch nie tanzen sehen. Insbesondere die älteren, Aida Vainieri, Michael Strecker, Julian Stierle, wachsen förmlich über sich hinaus - die jüngeren ohnehin. Gleichzeitig bringen sie eine Theatralik und eine Emotionalität in diese stets wechselnden Menschenflächen hinein, die sich in tiefere psychologische Schichten graben - wie man das umgekehrt auch in einem Charmatz-Stück noch nie gesehen hat. Das hat Potenzial. Zum Scheitern, aber auch für Höhenflüge. Die ersten hat man gerade erlebt."
Archiv: Bühne

Musik

Ziemlich ernüchtert und enttäuscht blickt tazler Julian Weber auf das Popjahr 2023 zurück, in dessen letztem Quartal gefährliches Halbwissen und eine diffuse Protesthaltung sich insbesondere im englischsprachigen Raum zu einer unguten Melange verbanden: "Mit dem Angriff der Hamas wurden Falschinformationen zur harten Pop-Währung", hält er fest. "Es ist mühselig geworden, auf fragwürdige politische Meinungsäußerungen von Popstars hinzuweisen, es sind schlicht zu viele, man kann daran verzweifeln, oder man sitzt es einfach aus. Oder sollte man es einfach nicht so ernst nehmen? Macht das die Dinge besser? In der angloamerikanischen Popsphäre ist die Solidarität mit den Palästinensern grenzenlos." Und "warum schweigt Popengland dann beim Bürgerkrieg im Sudan, einer Spätfolge der britischen Kolonialherrschaft in Ostafrika? Englands Kolonialpolitik in Ägypten und dem britischen Mandat von 'Palästina' haben ebenfalls mit zur Lage der Palästinenser beigetragen. Aber darum geht es nie im gegenwärtigen Protest."

Außerdem: Die Kritiker des Tages-Anzeigers küren ihre Lieblingssongs 2023. In der FR gratuliert Christina Mohr den Violent Femmes zum 40-jährigen Bestehen. Jakob Biazza liefert in der SZ das in diesen Tagen wahrscheinlich zehnte Joan-Baez-Gespräch in den deutschen Feuilletons. Besprochen wird ein Auftritt der Crucchi Gang in Berlin (Tsp).
Archiv: Musik