Efeu - Die Kulturrundschau

Perversion eines Teppichs

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27.09.2023. Die SZ freut sich, dass Intendant Anselm Weber am Frankfurter Schauspiel diese Saison ausschließlich Frauen inszenieren lassen will. Die FAZ wüsste allerdings gern, warum er dann Jessica Glauses Inszenierung von "Orlando" verstümmelt hat. Der russische Oligarch Roman Abramowitsch besitzt Kunst für rund eine Milliarde Dollar, aber wo ist sie, fragt Zeit online. Der KI-Film "The Creator" reißt die FAZ zu Kubrick-Vergleichen hin. Die Zeit unterhält sich mit dem Jazzmusiker Henry Threadgill, der sich vom menschlichen Herzschlag inspirieren lässt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.09.2023 finden Sie hier

Film

Erstklassig anarmorphotisch: "The Creator" von Gareth Edwards

Gareth Edwards' Science-Fiction-Blockbuster "The Creator" hat den FAZ-SF-Spezialisten Dietmar Dath mit seiner Geschichte über den Krieg der Menschheit gegen ein KI-System mehr als überzeugt, zumal der Stoff um ein Roboterkind, das sich als tödliche Waffe entpuppen könnte, auf der Höhe der Zeit inszeniert wurde. Vorbilder dafür gibt es reichlich, doch der Film "übertrifft an Schönheit wie an Weisheit Spielberg, Lemire und Nguyen, weil Edwards erstens ambivalenteres Material aufbietet und es zweitens schlüssiger verdichtet. Dazu dienen ihm Aufnahmen, die er in acht südostasiatischen Ländern mit (klassizismushalber) erstklassigen anamorphotischen Kameralinsen unternommen hat. Die filmnarrativen Formen, die er zur Bändigung der Eindrucksfülle in Anspruch nimmt, kennt er sichtlich in- und auswendig; er hat vermutlich sowohl die Schauplatzverwandten zwischen Coppolas 'Apocalypse Now' (1979) und Kubricks 'Full Metal Jacket' (1987) als auch die nötigen bildnarrativen Inspirationen, allen voran 'Kozure Ôkami' ('Okami - Das Schwert der Rache', 1972) von Kenji Misumi, aufmerksam studiert. Das alles eignet er sich auf eine Weise an, für die man mit einer Metapher aus der Physik das Wort 'Piezoelektrik' wählen könnte. Denn das bezeichnet die Erzeugung einer elektrischen Spannung in einem Festkörper durch elastische Verformung desselben." Weitere Besprechungen in Tagesspiegel und NZZ.

Weitere Artikel: Die iranische "Kostümbildnerin und Setdesignerin Leila Naghdipari sitzt seit dem Jahrestag von Jina Mahsa Aminis gewaltsamem Tod im Gefängnis", meldet Christiane Peitz im Tagesspiegel, nachdem Jafar Panahi auf den Fall aufmerksam gemacht hatte. Susan Vahabzadeh schreibt in der SZ zum Tod des Schauspielers David McCallum.

Besprochen werden mit "Emile - Erinnerungen eines Vertriebenen" und "A Boy's Life - Kind Nummer B2826" zwei neue Dokumentarfilme über Holocaust-Überlebende (Standard) und die auf Arte gezeigte, französische Comedyserie "Unter Kontrolle" (taz).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus "Orlando" in Frankfurt. Foto: Jessica Schäfer


Sandra Kegel läutet in der FAZ die Alarmglocken: Das Schauspiel Frankfurt ist in Nöten, und verantwortlich ist in ihren Augen ganz klar der Intendant, Anselm Weber. Der hat nun, führt sie aus, eine "Orlando"-Premiere in den Sand gesetzt, die eigentlich von der Regisseurin Jessica Glause hätte inszeniert werden sollen. Daraus wurde nichts, so Kegel, weil Weber sich einmischte, wie dieser "schmunzelnd" der Presse erzählte: "Nach seiner Operation blieb nichts übrig von dem Abend: Erst habe er das Bühnenbild entsorgt, dann die Schauspielerinnen und Schauspieler umbesetzt, dann die Kostüme in den Fundus getragen, dann die Textfassung weggeworfen - um dann der Regisseurin aufzutragen, im Angesicht des Scherbenhaufens noch einmal bei null anzufangen. Dem sei Jessica Glause nicht nachgekommen, das gesamte Regieteam vielmehr geschlossen zurückgetreten." Weber übernahm selbst und musste in kürzester Zeit ein komplett neues Konzept erarbeiten. Das Ergebnis: Geschlechterfluidität, Zeitreisen, und so weiter - alles abwesend. "Eine schiere Zumutung: für das Publikum und für das Ensemble gleichermaßen. Denn der selbst ernannte Feuerwehrmann, der einer Produktion im Entstehen beschied, sie brenne so lichterloh, dass er nur mit vollständigem Abbruch reagieren könne, hatte selbst nichts Hilfreiches im Angebot." Lediglich für das Schauspielensemble findet die Kritikerin lobende Worte.

Ganz anders liest sich das derweil bei Christiane Lutz in der SZ. Die stellt in ihrem Artikel gleich das Gesamtkonzept Webers vor, der am Schauspiel Frankfurt diese Saison ausschließlich Frauen inszenieren lässt, wie sie ausführlich beschreibt. Dass es dazu bei "Orlando" ja nun nicht gekommen ist, wischt sie kurzerhand zur Seite: "Jessica Glause sei aus persönlichen Gründen von der Regie zurückgetreten, sagt Weber, so übernahmen kurzfristig er und die Dramaturgin Katrin Spira. Das merkt man der Inszenierung nicht an, diese Romanadaption ist herrlich verspielt und schafft es, aus der über 400 Jahre umfassenden 'Biografie' Orlandos, die bei Woolf nicht unbedingt dramaturgische Bögen spannt, einen Abend zu machen, dem man gebannt folgt."

Weiteres: Die Spannung steigt - heute wird bekanntgegeben, wer bei der Berliner Staatsoper Daniel Barenboims Nachfolge antritt. Christiane Peitz berichtet im Tagesspiegel. Atif Mohammed Nour Hussein wünscht sich auf nachtkritik mehr Krimis auf Theaterbühnen. Besprochen wird die Richard-Strauss-Inszenierung "Die Frau ohne Schatten" an der Oper Köln (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

In die Debatte um Charlotte Gneuß' Roman "Gittersee" hat sich "eine augenfällige Unausgeglichenheit der Vorwürfe" geschlichen, beobachtet Marie Schmidt von der SZ. Schon die FAZ-Schlagzeile "Die Akte Gneuß' erweckte einen "Eindruck, auf den die Autorin im Interview erneut anspielte: 'Es ist fast schon perfide, wenn ausgerechnet ein Roman, der sich mit der Tätigkeit der Staatssicherheit beschäftigt, durch eine weitergereichte Liste mit angeblichen Fehlern beschädigt werden soll.' Solche Parallelisierungen des Vorgangs mit Stasi-Methoden wirken ungleich gravierender als das, worum es bei Schulzes Anmerkungen geht: Ob man in der DDR 'lecker' oder 'passt schon' gesagt hätte, ob es 'Plastebeutel' oder 'Plastiktüte' hieß, und ob man in der Elbe baden konnte. Ihre aus der DDR kommenden Eltern, sagt Charlotte Gneuß, haben in der Elbe gebadet: 'Nur weil alle in einem Land gelebt haben, teilen sie nicht dieselben Erfahrungen.' Ein Gespräch über die Verschiedenheit der Erfahrungen in der DDR stünde unbedingt an."

Weiteres: Der Dlf unterhält sich mit Judith Hermann, die in diesem Jahr den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis erhält. In seinem in der NZZ veröffentlichten Kriegstagebuch aus Charkiw wirft Sergei Gerasimow einen Blick auf die Lage ukrainischer Dichter zu Sowjetzeiten.

Besprochen werden unter anderem Teju Coles Essays "Black Paper" (Intellectures), Melba Escobars "Die Mutter" (FR), eine Neuausgabe von Felix Dörmanns Roman "Jazz" aus dem Jahr 1925 (Zeit), Jarka Kubsovas "Marschlande" (Tsp) und Dirk Schümers "Die schwarze Lilie" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Peyman Rahimi: "Schein". © Peyman Rahimi, Quelle: Oldenburger Kunstverein


Fasziniert berichtet der Schriftsteller Ulf Erdmann Ziegler in der FAZ von Peyman Rahimis Installation "Schein" im Oldenburger Kunstverein. Die komplexe, vielschichtige Installation, führt der Kritiker aus, ist teilweise einem Gefängnis nachempfunden, obwohl der mit 22 Jahren aus dem Iran nach Deutschland geflohene Rahimi die Geister eher auszutreiben suche als zu beschwören. Besonders ein Raum hat Ziegler beeindruckt: "Am Boden liegt ein in etwa 250 geometrische Stücke geschnittener riesiger Spiegel, als Rechteck perfekt in Form wie die Perversion eines Teppichs. Das unwirkliche, grün-blaue Licht kommt von gashaltigen Narva-Lampen, die wie übermächtige Stielaugen von der Decke abgehängt sind. Die Bildergalerie im Spiegel-Tempel ist knapp gehalten. Dominiert wird sie von einem größeren Siebdruck in Schwarz-Weiß, der eine geknebelte Figur mit ausgelöschten Augen zeigt, und zwar gedoppelt und über die Ohren miteinander verschmolzen, ein Hauch von Dada oder Cabaret. Die Figur erinnert an Formen, die der Rorschachtest hervorbringt. Zufällige Symmetrien - 'Schein' - werden von Patienten der Psychiatrie fabulös kommentiert. Es geht um die Schwelle, an der Vorstellungskraft umkippt in haltlose Imagination." Das Resümee: Hoffentlich wird Rahimi bald nicht nur in Oldenburg ausgestellt, sondern überall.

Tobias Timm befasst sich auf Zeit Online mit Spekulationen auf dem Kunstmarkt und dem damit zusammenhängenden Unsichtbarwerden vieler Kunstwerke. Ein besonders anschaulicher Fall ist die Sammlung des russischen Oligarchen Roman Abramowitsch: "Bekannt war, dass Abramowitsch insgesamt mehr als 100 Millionen Dollar für Gemälde von Francis Bacon und Lucian Freud ausgegeben hat", wie eine Recherche mehrerer Medienhäuser zeigt, die "geleakte Unterlagen des zypriotischen Finanzdienstleisters MeritServus analysieren und so bislang Unbekanntes über Abramowitschs Sammlung berichten [konnten]. Fast eine Milliarde US-Dollar sei die Sammlung mit über 300 Werken wert, so die Erkenntnis. Und sie wird - oder wurde - über Trusts mit Namen wie Harmony, Ermine oder Seline verwaltet, die in Zypern oder auf der Kanalinsel Jersey residieren. Die Abramowitsch-Sammlung ist Teil des globalen Offshore-Kunstsystems, und das, was man auf jenem Teil des Kunstmarkts, der sich auch sprachlich an den Aktienmärkten orientiert, eine Blue-Chip-Sammlung nennt. Sie besteht aus extrateuren Werken von den großen Namen der modernen wie der zeitgenössischen Kunst, darunter: Pablo Picasso, Lucian Freud, David Hockney, Kasimir Malewitsch, Peter Doig, Alberto Giacometti, Egon Schiele. Die auf dem Kunstmarkt besonders beliebten deutschen Künstler sind auch dabei, Maler wie Gerhard Richter und Daniel Richter, Fotografen wie Thomas Ruff oder bleischwer arbeitende Bildhauer wie Anselm Kiefer." Zu sehen bekam man die Werke kaum noch, nachdem Abramowitsch sie erworben hatte, was freilich auch daran liegt, dass sie seit dem Ukrainekrieg beschlagnahmt würden. 

Weitere Artikel: FAZ-Kritikerin Gina Thomas freut sich im Schloss Windsor über Artemisa Gentileschis wiederentdecktes und frisch renoviertes Gemälde "Susanna im Bade". Ebenfalls in der FAZ schreibt Stefan Trinks über einen Fall von Kunstdiebstahl und -fälschung im Deutschen Museum München. Die Stiftung des Museums Langmatt verkauft drei Cézanne-Gemälde, um ihren Fortbestand zu sichern, schreibt Philipp Meier in der NZZ. In der FR meldet sich Hans Eichel noch einmal, mit den bekannten Argumenten, in Sachen BDS, Israel und Kunstfreiheit zu Wort.

Besprochen werden die Ausstellungen "Raffael. Gold & Seide" im Kunsthistorischen Museum Wien (Standard), "Michelangelo und die Folgen" in der Wiener Albertina (Tsp), "History Tales. Fact and Fiction in History Paintings" in der Wiener Gemäldegalerie (Standard), die Immersions-Schau "In anderen Räumen. Environments von Künstler*innen 1956-1976" im Haus der Kunst München (Zeit Online), sowie eine weitere (nach "It's Pablo-matic") Picasso-Ausstellung in New York (Hyerallergic).
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Architektur

Atelier von Pasztori Simons in der Berliner Torstraße. Foto: Yohan Zerdoun


Niklas Maak weiß in der FAZ Erfreuliches vom Architekturpreis Berlin zu berichten: Die junge Generation kann was. So gut waren die Einreichungen, dass gleich drei Gewinner gekürt wurden. Besonders beeindruckt Maak ein vom Büro Pasztori Simons entworfenes Atelierhaus, das in Berlin-Mitte auf einer schwierig zu bebauenden Restfläche über dem Nord-Süd S-Bahn-Tunnel errichtet wurde: "Der schwierige Ort erforderte eine besondere Bauweise: Eine Stahlrahmenkonstruktion überspannt wie eine Brücke den Tunnel auf einer Länge von zwanzig Metern und ist elastisch gelagert, sodass das Rattern der Züge keine Zitterspuren in der Kunstproduktion hinterlässt. Optisch nimmt sich die Halle zurück. Statt der imperialen Geste eines Kunsttempels gibt sich die zehn Meter hohe Halle von Außen pragmatisch zurückhaltend, selbst die immer gleich großen, viereinhalb mal gut drei Meter großen Aluminiumfenster verraten nicht, was hinter ihnen passiert."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Architekturpreis Berlin

Musik

Maxi Broecking flaniert für die Zeit mit dem Jazzmusiker Henry Threadgill durch New York und spricht dabei mit ihm unter anderem über die Geschichte der Association for the Advancement of Creative Music, zu dessen zweiter Generation Threadgill zählt. Auch um "The Other One", das neue, bei einem Live-Auftritt im Roulette aufgenommene Album des 79-Jährigen geht es. Gewidmet ist es dem Schlagzeuger Milford Graves. Dafür "schuf Threadgill Stücke um den menschlichen Herzschlag herum. Er sei darauf gekommen, weil Graves schwer herzkrank gewesen sei und die Ärzte ihn bereits aufgegeben hätten. Daraufhin habe Graves allerlei ausprobiert, was ihm helfen könnte, auch die heilende Kraft der Musik. Graves habe begonnen, seinem Herzschlag gemäß zu spielen, und nach der Diagnose noch 20 Jahre gelebt. Threadgill hat den Herzschlag einiger Ensemblemitglieder aufgezeichnet und dazu komponiert. Bei dem Auftritt im Roulette hatten sie das Pochen im Kopfhörer." Beim kommenden Jazzfest Berlin ist Threadgil Artist in Residence.



Weitere Artikel: Christiane Peitz (Tsp) und Michael Maier (BLZ) mutmaßen, ob - wie einige Gerüchte besagen - Christian Thielemann auf Daniel Barenboim als musikalischer Leiter der Berliner Staatsoper nachfolgen wird. In der NMZ berichtet Juan Martin Koch vom Kammermusikfestival Regensburg. Das Berliner Scharoun Ensemble feiert sein 40-jähriges Bestehen mit der Aufführung einer Komposition von David Philipp Hefti, berichtet Regine Müller im Tagesspiegel. Gregor Myalski, Linn Vertein und Pascal Beck stürzen sich für die Jungle World in die Warschauer Clubszene. Susanne Lenz erzählt in der Berliner Zeitung die Geschichte von Shlomo Margaliots Klavier, das nun nach Chemnitz zurückkehrt. Die Autoren der Welt bewerben sich auf einen Call for Papers zu einem Taylor-Swift-Symposium.

Besprochen werden Philipp Otterbachs Ambientalbum "The Dahlem Diaries" (taz), ein Konzert des Klangforums Wien (Standard), das neue Tiefbasskommando-Kommando Album "Retox" (taz), das neue Album "Mommy" von Be Your Own Pet (FR), ein Konzert von Aespa in Berlin (Tsp), ein Auftritt von Paul Weller in Wien (Standard) und das neue Album von Chily Gonzales (Standard).

Archiv: Musik