Efeu - Die Kulturrundschau

Die klügsten Thesen der Neuzeit

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31.07.2023. Große Gefühle, Momente der Wahrheit und gewaltigen Blödsinn erlebt Zeit Online in Locarno in der Retrospektive des mexikanischen Kinos. Die SZ bejubelt in Bayreuth Tobias Kratzers "Tannhäuser"-Inszenierung als szenisches Wunder. Die FAZ schwebt sich mit einer Aufnahme des Ensembles Les Arts Florissants in den siebten Händel-Himmel. Außerdem billert und walsert es.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.07.2023 finden Sie hier

Film

Bunte Plakata, schwarzweiße Filme: Die Retrospektive des Filmfests Loccarno (Collage: Filmfest Locarno)

Die von Olaf Möller kuratierte Retrospektive des Filmfestivals Locarno widmet sich in diesem Jahr dem populären Kino Mexikos der Dreißiger- bis Sechzigerjahre. Diesem fiel die Aufgabe zu, ein Land, in dem der Analphabetismus noch vorherrschte, kulturell zu einigen, schreibt Georg Seeßlen auf Zeit online. So entstanden "ganz eigene Geschichten, eigene Stilrichtungen, eigene Genres, die unvergleichlich sind und noch heute beim Sehen oder Wiedersehen das Herz jeder Cineastin und jedes Cineasten entflammen können: das Kino als populäre Kunst, die sich vor nichts fürchtet, nicht vor großen Gefühlen, nicht vor gewaltigem Blödsinn, nicht vor kindlichen Fantastereien, nicht vor Pathos und nicht vor Momenten der Wahrheit." Als Beispiel nennt Seeßlen unter anderen "Fernando de Fuentes und Roberto Gavaldón ('Días de otoño', 1963), die in ihren Melodramen stets auch nach einer 'mexikanischen Seele' suchten, zu der beides gehörte: eine magische, surreale und poetische Erregung und die harte Realität des Lebens in den wachsenden Städten und auf dem kargen Land. Es waren Filme wie 'Maria Candelaria', die das weiße und das indigene Mexiko zusammenbrachten."



Weitere Artikel: Das haben wir am Samstag vor lauter Martin Walser nicht berücksichtigt: Die Zeit hat Katja Nicodemus' Reportage aus Hongkong online nachgereicht, für die sie sich mit zahlreichen Filmschaffenden getroffen hat, die wachsenden Unmut über die Lage des Hongkong-Kinos unter Chinas Einflussnahme äußern. Andreas Scheiner zeigt in der NZZ mit Blick auf den großen Doppel-Streik in Hollywood sehr viel Verständnis für die Lage der Studios und nur sehr beiläufig solches für die Streikenden, denen er zwar auch keine Ausbeutung wünscht, ihnen aber schon eher vom Streik abrät, denn: "Realitätssinn gehört nicht zur Kernkompetenz eines Schauspielers." In der FAZ gratuliert Maria Wiesner dem Regisseur John N. Smith zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Emanuele Crialeses "L'immensità" mit Penélope Cruz (Standard, mehr dazu hier), Taylor Sheridans Serie "Special Ops: Lioness" (Zeit) und die Netflix-Serie "Glamorous" (taz).
Archiv: Film

Literatur

Nachgereichtes zum Tode Martin Walsers (unser Resümee): In der SZ erinnert Lothar Müller daran, wie sehr Walser neben Grass und Enzensberger "für den Take-off des modernen Literaturbetriebs seit den späten Fünfzigerjahren" standen. Für beide fand Literatur nicht lediglich zwischen Buchdeckeln statt, sondern war ein öffentliches Medium, das Geltung in der Gesamtgesellschaft beanspruchen konnte. ... Beide waren deutlich älter als der Kern der 68er-Generation, beide trugen bei zur medialen Infrastruktur und zu den intellektuellen Ressourcen, auf welche die Jüngeren zurückgreifen konnten. Walser beobachtete 1964 den Frankfurter Auschwitzprozess, sein Essay, der 1965 in Enzensbergers Kursbuch erschien, enthielt den Satz: 'Was Auschwitz war, wissen nur die 'Häftlinge'.' ... Walser, Enzensberger und Grass, aber auch Uwe Johnson, Ingeborg Bachmann, Max Frisch, Thomas Bernhard und andere wurden auch deshalb zu herausgehobenen Figuren, weil das mediale Dreieck von Buchverlagen, Zeitungen und Zeitschriften und Rundfunk zu einem Gewicht der Literatur in der allgemeinen Öffentlichkeit beitrug."

Die SZ sammelt neben Erinnerungen von Theo Waigel an seine gemeinsame Freundschaft mit Walser auch Stimmen aus dem Literaturbetrieb, unter anderem die von Maxim Biller: "Wenn Herr Walser einen Roman schrieb, fielen die überschweren Worte sofort wieder hinten raus, die er vorn hineinstopfte. Und wenn er öffentlich nachdachte, war er nie ein Denker, sondern immer nur ein taumelnder Ideologe. Erst Kommunist, dann Nationalist, und gegen Juden hatte er sowieso immer etwas. Dafür brauchte er nicht den tieftraurigen Ignatz Bubis oder den entschlossenen Frank Schirrmacher, die es ihm ins Gesicht sagten und schrieben, worauf es noch teutonischer aus ihm herauspolterte. Deutschnationale Publizisten und Schriftsteller hatten es schon immer sehr leicht bei uns." Die Welt sammelt weitere Stimmen, außerdem schreibt Thomas Schmid einen Nachruf. In der FAZ erinnern sich der Schweizer Antiquar Heribert Tenschert und die Literaturwissenschaftlerin Susanne Klingenstein an ihre Freundschaft mit Walser.

Auf Facebook hat Maxim Biller außerdem seine aktuelle Zeit-Kolumne (vom Blatt verpaywallt) online gestellt, in der er ziemlich mit dem Kultur- und Literaturbetrieb abrechnet: Er sieht die Vernunft an ihr Ende gekommen, da die "postlinken Spießer" übernommen haben. "Wie in den öden Zeiten des sozialistischen Realismus, als Romane und Gedichte die Beipackzettel zur Rosskur des totalen gesellschaftlichen Umbaus sein sollten, schwappen Frauenkitsch à la Annie Ernaux, James Baldwins christliche Befreiungsprosa oder Joan Didions einschläfernde Sozialreportagen an die Oberfläche des riesigen Buch-Ozeans, während bei uns ausgerechnet die Autoren untergehen, die zwischen Bismarcks Frankreich- und Hitlers Weltkrieg in ihren oft verdammt genialen Romanen die Aufklärung, den Zweifel als Tugend und das moderne Menschenrecht eines jeden auf eine anständige Depression besungen haben. Opfer dieses zweiten Vergessens - um das erste Vergessen haben sich im Mai 1933 die Studenten der Humboldt-Uni bemüht - sind auffällig oft jüdische Schriftsteller und Emigranten." An einer Wiederentdeckung wichtiger jüdischer Autoren will Joshua Cohen arbeiten, der in Amerika von Randomhouse den Schocken Verlag gekauft hat - in der FAS führt Anna Prizkau ein Gespräch mit ihm.

Weitere Artikel: Gerhard Strejcek erinnert im Standard an Arthur Schnitzlers Reise nach St. Moritz vor 100 Jahren. Arno Widmann (FR) und Tilman Spreckelsen (FAZ) gratulieren Cees Nooteboom zum 90. Geburtstag. Besprochen werden Kim Koplins Berlin-Thriller "Die Guten und die Toten" (taz), die deutsche Erstausgabe von Alphonse Daudets "Jack" aus dem Jahr 1897 (Standard), Éric Vuillards "Ein ehrenhafter Abgang" (Intellectures) und Cees Nootebooms "In den Bäumen blühen Steine" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Joachim Sartorius über Cees Nootebooms "Und heute Nacht":

"Und heute Nacht, in der steinernen Stille
meines Zimmers, im Haus auf der Insel ..."
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Bühne

Szene aus "Tannhäuser" bei den Bayreuther Festspielen. Foto: Enrico Nawrath. 

Ein "szenisches Wunder" jubelt SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck bei den Bayreuther Festspielen auch im vierten Jahr von Tobias Kratzers "Tannhäuser"-Inszenierung. Die größte Sensation ist diesmal aber die Orchesterführung von Natalie Stutzmann, ruft der euphorische Kritiker: "Von Anfang an macht Stutzmann im 'Tannhäuser' ihre ästhetische Position klar. Sie liebt wunderschöne und immer flexible Linien, sie atmet mit jeder Stimme, sie achtet auf jedes Detail, sie meidet trotz zügiger Tempi alles Rigide. Die warm klingenden Streicher liegen ihr besonders am Herzen, die Bläser domestiziert sie, verlangt ihnen Mystisches und Herbes ab, lässt sie leuchten. Sodann bevorzugt Stutzmann das Leise, sie lässt das Orchester immer wieder Kammermusik machen. So gerät auch das Septett der Männerheldensänger, gern als Brüllorgie von Alpha-Egos aufgeführt, als ein feines sommerliches Stimmengespinst." Auch Joachim Lange ist in der nmz rundum glücklich mit dieser Inszenierung und hebt besonder die gesangliche Leistung von Klaus Florian Vogt als Tannhäuser hervor.

Szene aus "Nathan der Weise" mit Valerie Tscheplanowa. Foto: Monika Rittershaus. 

Uneinig sind sich die Kritiker bei Ulrich Rasches Inszenierung von Lessings "Nathan der Weise" bei den Salzburger Festspielen. Egbert Tholl bewundert in der SZ die kurzfristig eingesprungene Valerie Tscheplanowa in der Titelrolle, die mit einem einzigen "Nein" den Facettenreichtum der Hauptfigur aufblitzen lässt: "Sie erzählt mit dem Klang des einen Worts - ein Klang schillernd wie ein bunter Opal am Grunde eines glitzernden Bachs - von Nathans Selbstbewusstsein und seinem Stolz, seiner Bescheidenheit und dem Wissen um die eigene Klugheit, mischt als Farbe ein wenig Angst hinein, ein Lauern und Zögern, ein bisschen List." Einen "imposanten Abend" hat FR-Kritikerin Judith von Sternburg erlebt. Dabei nimmt Rasches Inszenierung dem Stück zwischenmenschliche Töne, zum Blühen kommen stattdessen "die klügsten Thesen der Neuzeit", die dem Publikum "entgegengerufen, entgegengeschrien" wurden.

In der FAZ ist Simon Strauß voll des Lobs für Tscheplanowas "Nathan", die Inszenierung hinterlässt bei ihm jedoch einen bestenfalls zwiespältigen Eindruck: Einerseits werde Lessings Stück "mit viel technischem und musikalischem Aufwand zur monumentalen Parabel auf den menschlichen Hass aufgedonnert. Wird nicht nur die unübersichtliche Handlung des Dialogstückes vergegenwärtigt, sondern auch noch der verkappte Antisemitismus mancher Aufklärer mit eingeschobenen Zitaten angeprangert. Andererseits bietet die Inszenierung zu wenig sinnliche Haltepunkte, um dem rhythmisch vorgetragenen Text über die lange Strecke zu folgen." Ähnlich geht es nachtkritikerin Gabi Hift, die die "monotone, extrem verlangsamte Sprechweise" beklagt: Über vier Stunden sei das "extrem anstrengend und teilweise quälend".

Besprochen wird außerdem Krzysztof Warlikowskis Inszenierung von Verdis "Macbeth" (FR, FAZ, tsp, NZZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Besprochen werden die Ausstellung "Das, was nicht geerbt werden kann / Aquilo que não se herda" mit Werken von Daniel Lie und Juliana dos Santos im Kunstverein Braunschweig (taz) und die Ausstellung "Die Augen der Roxana Halls" im Haus Mitte Kunst (tsp).
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Stichwörter: Lie, Daniel, Halls, Roxana

Musik

FAZ-Kritikerin Anja-Rosa Thöming befindet sich mit einer neuen Aufnahme von Händels "L'Allegro, il Penseroso ed il Moderato" (nach zwei Gedichten von John Milton) durch das Ensemble Les Arts Florissants unter der Leitung von William Christie im Siebten Himmel: Diese CD ist "für die einsame Insel". Sie lobt Händels "Imaginationskraft", die sich diese Einspielung "völlig zu eigen macht und ihr heutiges Leben einhaucht. Eine beflügelnde Aufnahme, in der jede Phrase, jeder Klang nicht nur von Sorgfalt, sondern geradezu von der Liebe der Mitwirkenden für die Musik und die Poesie spricht. ... Wo Milton seine gebildeten Leser in mythologische Allegorien entführt, komponiert Händel eine mit Oboen angereicherte Arie, die in ihrer ländlichen Gestik so unbeschwert und frisch aufspielt, dass man auch ohne vertieftes Textverständnis dem jungenhaften Optimisten gerne folgen mag." Hier eine Kostprobe:



Weitere Artikel: Frederik Hanssen vom Tagesspiegel ist gespannt auf Jan Voglers Cello-Meisterkurs Anfang August auf Schloss Neuhardenberg. Besprochen werden ein Konzert von Iron Maiden (FR) und ein Auftritt von Rainald Grebe (Tsp).
Archiv: Musik