Efeu - Die Kulturrundschau

Pathologische Evergreens

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27.06.2023. Die Welt hört in Dresden die Lebenskurve der Gefühle bei der Urauffühung von Detlev Glanerts "Prager Sinfonie". Die FAZ  hört liebenswert freche Petitessen in 22 Takten bei den Schostakowitsch-Tagen in Gohrisch. Die Jungle World bestaunt die Obsessionen der Reichen mit Schönheit, Ruhm, Prominenz, Sex, Konsum und Social Media in der HBO-Serie "The Idol". Die NZZ stellt die nigrische Architektin Mariam Issoufou Kamara vor. Die taz besucht eine Ausstellung über die Kultur der Samen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.06.2023 finden Sie hier

Musik

In Dresden fand die deutsche Urauffühung von Detlev Glanerts "Prager Sinfonie" statt, die mit Textfragmenten von Franz Kafka durchsetzt ist und sich musikalisch an Hans Werner Henze und Gustav Mahler orientiert, wie Manuel Brug in der Welt informiert. Die Arbeit "erweist sich als ein erstaunlich fluides, subtiles, die Aufmerksamkeit fesselndes Gebilde, in das sich die beiden Solisten - sie mit hellem, durchdringenden Mezzo, er mit markantem, aber auch fein parlierendem Bariton, zwei gut balancierte, nicht übergroße Stimmen - engagiert hineinwerfen. ... Allmählich zeichnet sich eine Lebenskurve der Gefühle ab: Euphorie, Zweisamkeit, Isolation, Depression, Sterben: die vokalen Äußerungen von Frau und Mann verschmelzen zu einer Persönlichkeit."

Michael Ernst berichtet in der FAZ ganz entzückt von den Schostakowitsch-Tagen in Gohrisch, die sich in den 16 Jahren ihres Bestehens zu einer von ihrem Stammpublikum überaus geschätzten Perle des Konzertbetriebs entwickelt hat. Auch Trouvaillen aus Moskauer Archiven werden hier ur- oder erstaufgeführt, berichtet er. In diesem Jahr etwa "eine liebenswert freche Petitesse, deren Titel 'Murzilka' sowohl auf eine russische Kinderzeitschrift als auch für deren Zeichenfigur hinweisen soll. Yulianna Avdeeva kitzelte das Schelmische aus dieser Miniatur von nur 22 Takten heraus. ... Höhepunkt ihres Soloabends war jedoch Beethovens 'Hammerklaviersonate', deren gedankliche Fülle Avdeeva mit akribischer Hingabe entfaltete, um deutlich zu machen, wie viele Linien zwischen Schostakowitsch und Beethoven hin- und zurückführen."

Außerdem: Die großen Stars wie Beyoncé und Bruce Springsteen umschiffen auf ihren aktuellen Touren allesamt überaus auffällig Berlin, stellt Nadine Lange im Tagesspiegel fest und informiert, dass dies an den mangelnden Terminen im Olympiastadion liegt, dem einzigen Berliner Spielort mit für Stars dieses Kalibers ausreichender Kapazität. Dazu passend gibt ein sich amüsierender Micky Beisenherz in der SZ Taylor Swift Tipps, was diese in ihren fünf Tagen Pause nach ihrem Gelsenkirchen-Konzert im Juli 2024 alles vor Ort erleben kann: Der Popstar könne ja zum Beispiel "das Schiffshebewerk in Henrichenburg an der Grenze zu Datteln" besuchen. Nick Joyce plaudert für den Tages-Anzeiger mit den Pop-Metal-Urgesteinen von Def Leppard. Jan Faktor hört und liebt die Musik von Rammstein weiterhin, teilt der Schriftsteller in der FAZ mit. Besprochen wird ein von Anna Rakitina dirigiertes Konzert des Rundfunk Sinfonieorchesters Berlin (Tsp).
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Film

Überaffirmativ zur Kenntlichkeit verzerrt: The Weeknd und Lily-Rose Depp in "The Idol" (HBO)

Schon seit Monaten kündigt sich Sam Levinsons HBO-Serie "The Idol" als Skandalaufreger der Saison an. Darin spielt Lily-Rose Depp den von der Branche nach Strich und Faden drangsalierten und ausgebeuteten, aufstrebenden Teenie-Star Jocelyn nach Britney-Spears-Art. Daneben gibt der Popstar The Weeknd einen Nachtclubbesitzer als sardonisch-düstere Gestalt. Chris Schinke zeigt sich in der Jungle World trotz einiger Schwächen von der Serie fasziniert: "Zu tief scheinen die Phänomene, die den Kulturbetrieb derzeit umtreiben, die Serie zu prägen. All die Obsessionen mit Schönheit, Ruhm, Prominenz, Sex, Konsum und Social Media werden hier satirisch verhandelt. Nicht im Modus negativer Kritik, sondern vielmehr in einer durchgehend überaffirmativ anmutenden Ästhetik, die ihren Gegenstand bis zur Kenntlichkeit verzerrt und in satte, betörende Bilder übersetzt. Als Grundgefühl der Serie bleibt eine gewisse Abgestumpftheit zurück, eine numbness, die ihren Ausdruck auch in Jocelyns leerem, gleichgültigem Gesichtsausdruck findet, während sie eine Zigarette nach der anderen wegraucht. Sam Levinsons 'The Idol' ist keine Serie, die gemocht werden will. Darin steckt vielleicht ihre größte Anziehungskraft."

NZZ-Kritiker Daniel Haas vermisst die Haltung: "Die Serie zitiert in notorisch-koketter Weise die pathologischen Evergreens der Entertainmentgeschichte. ... Fragt sich nur, ob die Serie nicht selbst in jene Falle tappt, die sie den Unrechtsverhältnissen und deren Akteuren stellen will. Aus welcher Perspektive wird 'The Idol' eigentlich erzählt? Wie ist die moralische Agenda verfasst, die jede schlüssige (Film-)Narration implizit bewegen und lenken muss? Bekommen wir Jocelyns Entwicklungsroman zu sehen, der den Wandel vom Medienopfer zum Sinn- und Schaffenssouverän über die eigenen Werke nachzeichnet? Oder doch wieder die Krankengeschichte eines Talents, die die Grausamkeit des Business glamourös bestätigt?"

Weiteres: Kurt Sagatz plaudert für den Tagesspiegel mit dem Schauspieler Tom Wlaschiha. Besprochen werden James Mangolds "Indiana Jones und das Rad des Schicksals" (Tsp, mehr dazu hier), die auf Disney+ gezeigte Serie "About Sasha" über eine intersexuelle Jugendliche (eine der "sehenswertesten und erstaunlichsten Serie der vergangenen (mindestens) anderthalb Jahre", schwärmt Patrick Heidmann in der taz), Tuki Jencquels "Jackie the Wolf" (Filmdienst), Kamila Andinis "Before, Now & Then" (Filmdienst) und der auf Netflix gezeigte Animationsfilm "Nimona" nach dem gleichnamigen Comic (Tsp).
Archiv: Film

Bühne

News from the Past. Foto © Judith Buss


Geradezu zukunftsweisend im Umgang mit Erinnerung findet FAZ-Kritikerin Kerstin Holm das Berliner Festival "Performing Exiles", bei dem unter anderen Doku-Stück "News from the Past" des Kiewer Regisseurs Stas Zhyrkov aufgeführt wurde. Das an den Münchner Kammerspielen  in Kooperation mit der KZ-Gedenkstätte Dachau entwickelte Stück zeigt, "wie sich das sowjet-totalitäre und das NS-deutsche Regime während der Dreißiger- und Vierzigerjahre eng verzahnt entwickelten und dass Russlands derzeitiger Vernichtungskrieg gegen die Ukraine auf gewisse Weise eine Fortsetzung der damaligen Politik ist." So "vergegenwärtigt ein deutsch-ukrainisches Schauspielerquartett in einer Art szenischem Geschichtsseminar Schlüsselereignisse jener Zeit. Während auf der Bühne des Heimathafens Neukölln Jahreszahlen aufleuchten, erklingen - Deutsch und Ukrainisch übertitelt - Texte über Pogrome in Deutschland, die Hungersnot Holodomor und Terrorwellen in der Sowjetukraine, aber auch Augenzeugenberichte aus Butscha."

Besprochen werden außerdem Barbora Horákovás Inzenierung von Georg Friedrich Haas' Kammeroper "Thomas" an der Staatsoper Berlin (Tsp, BlZ) und - in einer Doppelbesprechung - Niels Niemanns Inszenierung von Andrea Bersconis Oper "L'huomo" und Marshall Pinkoskys Inszenierung von Marc-Antoine Charpentiers Barockoper "David et Jonathas" (nmz).
Archiv: Bühne

Literatur

In Kiew fand am letzten Wochenende die erste Buchmesse nach Kriegsbeginn statt. Das Motto lautete zwar "When everything matters", berichtet Gerhard Gauck in der FAZ, "und das wurde auch gut durchdekliniert: Emotionen zählen, Demokratie zählt, jedes Wort zählt. Aber am Ende zählte vor allem eines: Fast alles drehte sich um Krieg, um den Krieg im Buch, um das Buch im Krieg. Und um den Autor zwischen beiden. Ein großes Echo fand die Präsentation des Tagebuchs des Lyrikers und Kinderbuchautors Wolodymyr Wakulenko: 'Ja peretworjujus' (Ich verwandele mich; erschienen im Vivat-Verlag, Charkiw). Wakulenko hatte seine Notizen aus der Besatzungszeit bei Charkiw rechtzeitig in seinem Garten vergraben, ehe russische Uniformierte ihn abführten. Monate später, nach der Befreiung seines Ortes durch die ukrainische Armee, wurde sein von zwei Pistolenkugeln getroffener Leichnam aus einem Massengrab geborgen und durch DNA-Analyse identifiziert."

Außerdem: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Besprochen werden Teju Coles Essayband "Black Paper. Schreiben in dunkler Zeit" (taz), Joy Williams' "Stories" (Zeit), Charles Ferdinand Ramuz' "Sturz in die Sonne" (NZZ), Angelika Overaths "Unschärfen der Liebe" (NZZ), Jan Philipp Reemtsmas Biografie "Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur" (Standard), Xi Xis "Meine Stadt" (Intellectures), Mary Gaitskills "Veronica" (Tsp), Maylis de Kerangals Erzählband "Kanus" (SZ) und der von Curdin Ebneter und Erich Unglaub herausgegebene Band "Erinnerungen an Rainer Maria Rilke" mit Texten von Augenzeugen (FAZ).
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Architektur

Entwurf für das EJS-Center in Monrovia. Abbildung: Ellen Johnson Sirleaf Presidential Center for Women and Development.

NZZ
-Kritiker Andres Herzog stellt das neue Projekt der Architektin und ETH-Professorin Mariam Issoufou Kamara aus Niger vor. Bald beginnen die Bauarbeiten für das Ellen Johnson Sirleaf gewidmete "Presidential Center for Women and Development" in Monrovia in Liberia. Das Zentrum soll für Ausbildungen, Konferenzen, Workshops genutzt werden. Issoufou Kamara baut nach dem Prinzip der "lokalen Intelligenz", so Herzog. Dabei setzt sie zum einen auf Bauweisen und Materialien, die den spezifischen klimatischen Bedingungen angepasst sind. Zum anderen will sie die Menschen vor Ort in den Bauprozess einbinden: "In Monrovia wurden zum Beispiel Korbflechterinnen am Straßenrand dazu inspiriert, die Decken im Zentrum mit geflochtenen Matten zu verkleiden - als moderne Interpretation traditioneller Hütten. Auch andere örtliche Handwerker, Zimmerleute oder Metallarbeiter sind involviert...Architektur wird zum gesellschaftlichen und ökonomischen Katalysator...Die markanten Schrägdächer der Häuser des Zentrums sind Hüttendächern nachempfunden. Damit reagiert die Architektur auf den starken tropischen Regenfall in Liberia, der manchmal so laut sei, dass ein Gespräch unmöglich sei. Die hohen Dächer dämpfen das Prasseln der Regentropfen und unterstützen die natürliche Ventilation."

Weitere Artikel: In der SZ plädiert Gerhard Matzig für klimaneutrales Bauen.
Archiv: Architektur

Kunst

"The 47 Most Wanted Foremothers". Foto: Kunsthaus Hamburg.

Taz-Kritiker Florian Lehmann hat im Kunsthaus Hamburg die Ausstellung "Speaking back. Decolonizing nordic narratives" besucht, die sich mit dem indigenen Volk der Samen und der Teilung ihres Siedlungsgebiets Sápmi auseinandersetzt. Denn auch im globalen Norden wurde kolonisiert, erinnert der Kritiker, Mitte des 19. Jahrhunderts verbot Norwegen die samische Sprache und Kultur. Beeindruckt ist der Kritiker unter anderem von der Arbeit "The 47 Most Wanted Foremothers", mit der die Künstlerin Outi Pieski und die Archäologin Eeva-Kristiina Nylander samische Traditionen wiederaufleben lassen wollen. Die Fotoarbeit "tut das geradezu verspielt und in starker Anlehnung an Pop-Art. Die unabgeschlossene Arbeit zeigt auf 48 C-Prints Exemplare der Frauenkopfbedeckung Ládjogahpir, die bis Ende des 19. Jahrhunderts von Samen in Norwegen und Finnland getragen wurde. Wie auf Andy Warhols Marylin-Monroe-Porträts sind die hochaufragenden und reich verzierten Kappen vor grelle monochrome Hintergründe gestellt. Anders jedoch als bei Warhol handelt es sich nicht um farbliche Varianten der selben Abbildung, sondern um Fotos individuell gefertigter Einzelstücke. Angaben zur Provenienz jeder Kopfbedeckung betonen den dokumentarischen Charakter der Serie. Die fotografische Wiederaneignung ist für die Künstlerin Pieski und die Archäologin Eeva-Kristiina Nylander Teil einer feministischen Praxis, die mit der Forschung zu Herstellungstechniken und Gestaltungsformen einhergeht."

Weitere Artikel: Boris Pofalla besucht für die Welt das Museum des gerade verstorbenen norwegischen Reederei-Erben und Kunstsammlers Hans Rasmus Astrup in Oslo. Und Marcus Woeller war für die Welt dabei, als ein der Ukraine gewidmetes John-F.-Kennedy-Porträt des Künstlers Shepard Fairey in Berlin enthüllt wurde.

Besprochen werden außerdem die Andrea-Büttner-Ausstellung "Der Kern der Verhältnisse" im Kunstmuseum Basel (SZ), die Ulrike-Rosenbach-Retrospektive "Heute ist morgen" im ZKM Karlsruhe (taz), sowie die Ausstellungen "Women at work" im Technischen Museum Wien (tsp), "Secessionen. Klimt, Stuck, Liebermann" in der Alten Nationalgalerie in Berlin (FR) und "Manet - Degas" im Musée d'Orsay in Paris (FAZ).
Archiv: Kunst