Efeu - Die Kulturrundschau
Triumph des Ensembles
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Film
Für den Tagesspiegel haben sich Andreas Busche und Christiane Peitz mit der neuen Doppelspitze der Berlinale, Carlo Chatrian und Marianne Rissenbeek, zur Lagebesprechung zusammengesetzt. Als künstlerischer Leiter spricht sich Chatrian für eine Loslösung vom Weltpremierendruck aus: Zwei der im Wettbewerb gezeigten Filme liefen zuvor bereits auf US-Festivals. Der festivaltypische "Ehrgeiz darf sich nicht gegen die Filme wenden", sagt er. "Für eine Regisseurin wie Eliza Hittman ist es ungemein wichtig, dass sie am Sundance-Festival teilnimmt. Warum sollte ich ihrem Film schaden und sagen, wir nehmen ihn nur, wenn er dort nicht läuft? Festivals sind für die Filme da, nicht umgekehrt." Aber kommt das nicht dem Abschied vom A-Status des Festivals gleich?

Alle Hände voll zu tun haben die Kritiker, im Fall von Roman Polanskis nach einer Vorlage und einem Drehbuch von Robert Harris entstandenen Film "Intrige" über die Dreyfus-Affäre Werk und Autor zu trennen oder auch nicht - zumal Polanski, dem seine Vergewaltigung einer Minderjährigen in den Siebzigern zuletzt wieder häufiger vorgeworfen wurde, sich in Interviews selbst in den Kontext der Dreyfus-Affäre gerückt hatte, solche Äußerungen aber wieder zurückgezogen hat. Diverse "Drehbuch-Bonmots verkomplizieren" die Lage noch, meint Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche und auch dass Polanski sich die Schlagzeile 'J'accuse' zumindest im Originaltitel des Films aneignet, mache es nicht einfacher: "Polanski dienen die historischen Begebenheiten nur als Vorwand für eine persönliche Abrechnung. Indem sich Polanski implizit mit Dreyfus als unschuldig verfolgtem Juden vergleicht, wird auch der Antisemitismus im Film instrumentalisiert." In der SZ rollt Kathleen Hildebrand die französischen Debatten um Polanskis Film auf.
Dennoch: "Man sollte diesen Film sehen, sehen können, nicht boykottieren, ganz egal, wie man zur Person Polanski steht", ruft Dominik Kamalzadeh im Standard, der es mitunter ironisch findet, "dass Polanski das Lied eines Patrioten anstimmt, der für die justiziable Gerechtigkeit kämpft. Als Film, der von der Beschädigung rechtsstaatlicher Institutionen durch Verschwörer erzählt, liefert 'J'accuse' viel Anschauungsmaterial, wie man die Demokratie beschädigt." In der taz staunt Barbara Schweizerhof über die lakonisch-trockene Virtuosität des Films, der "dem Staunen Tür und Tor öffnet", was die dünne Beweislage der Dreyfuss-Gegner betrifft. Dennoch liegt auch für sie über dem Film der Schatten des Regisseurs und dessen Taten - ein zumindest kleineres Dilemma: "Die größere Schuld wäre nicht, es zuzulassen, dass Polanski Ende Februar Preise für einen guten, notwendigen Film bekommt, sondern dass man es ihm damals durchließ, die Vergewaltigung einer Minderjährigen kleinzureden."
Andreas Kilb hält in der FAZ allen Mutmaßungen darüber, ob Polanksi hier nicht etwa seine eigene Geschichte verklausuliert habe, entgegen, dass Polanskis Filme - mit Ausnahme von "Der Pianist" - noch nie autobiografisches Kino darstellten, sondern vor allem gediegenes Genrekino nach Buchvorlagen. Auch diesem Film gelinge - nicht zuletzt dank der Hilfe von Kameramann Paweł Edelman - so manches Kunststück, "dass man gar nicht merkt, wie einen der Film mit seinen Bildern einseift. Dieselbe abgebrühte Virtuosität spricht aus fast allen Filmen Polanskis, und sie markiert auch hier die Grenze seines Könnens. Eine Geschichte, die uns wirklich ergreift wie die des 'Pianisten', wird er wohl nicht mehr erzählen. Stattdessen setzt er die Tradition des französischen Qualitätskinos fort, das alle Angriffe der Nouvelle Vague überlebt hat."
Kunst

Das Fotografie Forum Frankfurt zeigt die Sammlung der Fotografin Donata Pizzi mit 150 Arbeiten ihrer italienischen Kolleginnen. Dass viele der Namen unbekannt sind, versteht sich sozusagen von selbst, meint Katharina J. Cichosch in der taz, es sind eben alles Frauen: "Terrorbräute, Mafia, italienisches Dolce Vita. Riten und Religion, die in Italien so stark mit dem Unheimlichen und dem Volksglauben verknüpft scheinen, wie in Marialba Russos rätselhaft eingefangenem Ritual eines nackten Jungen, der durch die Luft gehoben wird. Immer wieder wird man in dieser Ausstellung auf das eigene Italien-Bild gestoßen, das sich hartnäckig festsetzt wie wenige andere - denn natürlich hat die Italia-Sehnsucht vieler Menschen auch mit dem Bild einer homogenen Gesellschaft zu tun, in der selbst bitterste Armut noch schwer romantisch anzumuten vermag."
Weiteres: Max Hoppestedt erzählt in der SZ recht fröhlich, dass es dem Künstler Simon Weckert gelungen sein könnte, mit einem Bollerwagen voller Smartphones Googles Stauanzeige durcheinanderzubringen.
Besprochen werden die große Schau "Untold Stories" des Fotografen Peter Lindbergh im Düsseldorfer Kunstpalast (FAZ), eine Ausstellung zu Modell-Naturen in der zeitgenösssichen Fotografie in der Alfred-Erhardt-Stiftung (Tsp), die surrealistische "Theater Collection" des amerikanischen Außenseiters Robert Anton in der Galerie Capitain Petzel (Berliner Zeitung).
Bühne

Ersan Mondtag hat in seiner Opernregie Franz Schrekers "Schmied von Gent" in Antwerpen auf die Bühne gebracht. Zwar verhaken sich in der Inszenierung mitunter Ambition und Metaphorik, wie Joachim Lange in der taz einräumt, aber das mindert für ihn nicht die ästhetische Stimmigkeit, mit der Mondtag belgische Kolonialgeschichte zeigt: "Wie aus der Geisterbahn auf dem Rummel. Gefletschte Zähne und einen Säugling in der Kralle. Himmel und Hölle auf Erden. Die fantasievollen Kostüme mäandern durch die Zeiten und Kulturen und ignorieren fröhlich den Geschlechterdresscode. Dazu eine choreografisch ausgefeilte Personenregie für ein fabelhaftes Ensemble. Am Pult sorgt Alejo Pérez für die suggestive Klangfülle und den ganz eigenen Sound zum Parlando, die die bewusst gesuchte Volkstümlichkeit im Orchestergroßformat so faszinierend machen."
Weiteres: Dorion Weickmann begutachtet für die SZ die Schäden, die Johannes Öhmann und Sasha Waltz mit der Aufkündigung der gemeinsamen Leitung beim Staatsballett angerichtet haben: "Betrieben hat sie Johannes Öhman, beschädigt ist Sasha Waltz. Aber Kosten und Langzeitfolgen trägt das Staatsballett." Der Standard meldet, dass Künstler in Wien das Theater Brut besetzt haben, um seinen Auszug zu verhindern.
Besprochen werden Leoš Janáčeks Oper "Die Sache Makropulos" in dessau (die Roland Dippel in der NMZ als "Triumph des Ensembles des Anhaltischen Theaters und vor allem der Sopranistin Iordanka Derilova" feiert) Virginie Despentes' "Vernon Subutex" als Dreiteiler im Frankfurter Stalburg Theater (wie "einfach, lässig und ungemein kompakt alles wirkt", staunt Judith von Sternburg in der FR), Katie Mitchells Blaubart-Projekt an der Staatsoper in München (FR), Modest Mussorgskis "Boris Godunow" an der Staatsoper Stuttgart (FAZ) und Mozarts "Figaros Hochzeit" in St. Pölten (Standard).
Architektur

Mit ihrem Antritt hat Boris Johnsons Regierung eine "Building Better, Building Beautiful commission" ins Leben gerufen, die für schönes und gutes Bauen in Britannien sorgen soll. Ach ja, stutzt Rowan Moore im Guardian, ist ja interessant: "Nicht einmal zwei Wochen später gab derselbe Robert Jenrick den Weg frei für ein milliardenschweres Entwicklungsprojekt namens Westferry Printworks in den Londoner Docklands, gegen die starken Einwände seines eigenen Planungsinspektors. Dieser, David Prentis, erklärte, die fünf Hochhäuser, von denen eines 44 Stockwerke hoch werden soll, zerstöre das Setting rund um die Tower Bridge und das Unesco-Weltkulturerbe von Greenwich. Das Projekt gefährde den Character und das Erscheinungsbild des Gebiets. Die Einbeziehung von 282 Sozialwohnungen bei insgesamt 1524 Wohneinheiten erreiche nicht den größtmöglichen vernünftigen Anteil."
Literatur

Weiteres: Für den Standard wirft Michael Wurmitzer einen Blick in Klassiker-Ausgaben, die in einfache Sprache umgeschrieben wurden. Besprochen werden unter anderem Bov Bjergs "Serpentinen" (ZeitOnline), die Wiederveröffentlichung von Ronald M. Schernikaus "Legende" (SZ), die wiederentdeckten Manga von Shigeru Mizuki (NZZ), Sam Byers' "Schönes Neues England" (NZZ), Christoph Braendles "Aus den Augen" (Standard) und Marion Messinas "Fehlstart" (FAZ).
Musik
Weitere Artikel: Für die NZZ wirft Christoph Wagner einen Blick in die prosperierende Musikszene in Manchester, die sich rund um das Label Gondwana Records mit seinem Fokus auf Jazz, Soul und Electronica gebildet hat. Sebastian Leber reist für den Tagesspiegel ins schwäbische Bietigheim-Bissingen, aus dem Rapper wie RIN, Shindy und Bausa stammen.
Besprochen werden das neue Album von Devendra Banhart (NZZ) und neue Popveröffentlichungen, darunter die EP "Texas Sun" des Instrumental-Trios Khruangbin mit dem Soulsänger Leon Bridges: "Für die texanische Landschaft mit ihren schnurgeraden Highways ist das quasi die optimale Fahrstuhlmusik", meint SZ-Popkolumnistin Annett Scheffel. Wir hören rein: