Efeu - Die Kulturrundschau

Aus dem Unhörbaren

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21.02.2019. In der NZZ schildert der Schriftsteller Murat Uyurkulak den erbitterten Kampf türkischer Autoren gegen Zensur und Repression. Die Filmkritiker sind sich uneins über Adam McKays Dick-Cheney-Porträt "Vice": Meisterhaftes "Gemälde einer verlogenen Kaste", meint die NZZ, zu oberflächlich, findet die taz. Die SZ schaut auf den Fotografien von Katie Wilson ins finstere "Herz der britischen Gesellschaft" und verfällt der Magie des serbisch-französischen Geigers Nemanja Radulović.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.02.2019 finden Sie hier

Film

Gerüche, Klänge, Fantasien: Fatih Akins "Der Goldene Handschuh"


In "Der Goldene Handschuh", Fatih Akins Verfilmung von Heinz Strunks gleichnamigem Roman über den Serienmörder Fritz Honka, "verschiebt sich die Aufmerksamkeit von der defekten Psyche auf die defekte Physis", schreibt Lukas Foerster im Film Bulletin und verteidigt den auf der Berlinale reichlich geschlachteten Film: Die Vehemenz der Ablehnung erklärt er sich so, dass wohl "alle, die in der alten Bundesrepublik (...) aufgewachsen sind, ganz egal wie weit entfernt von St. Pauli, in den Bildern und Tönen des Films mehr wiedererkennen, als ihnen lieb ist, weil wir alle auf die eine oder andere Art verstrickt sind in die Texturen, Empfindungen, Gerüche, Klänge und Fantasien, die Akin vor uns ausbreitet." Unsere Kritik zum Film hier.

Machtmensch: Christian Bale als Dick Cheney in "Vice"
In George W. Bushs Präsidentschaft hatte eigentlich Vizepräsident Dick Cheney die Hosen an, lautet die Quintessenz aus Adam McKays Polit-Satire "Vice", für den sich Christian Bale als Titelfigur verkleidet hat. Für taz-ler Fabian Tietke zeigt sich hier im Zusammenhang mit Jason Reitmans "Der Spitzenkandidat" ein neuer Hunger nach Politiker-Porträts "als Katalysator für politische Frustrationen". Allerdings belasse es "Vice" bloß bei der Polemik und kratze damit lediglich an der Oberfläche. Björn Hayer überschlägt sich derweil in der NZZ vor Begeisterung: Dieses "gestochen scharfe Gemälde einer verlogenen Kaste" steht unbedingt unter Meisterwerksverdacht. Der Film "offenbart mit seinen zumeist ironischen-doppelbödigen Montagen eine Ästhetik des Politikers zwischen gesellschaftlicher Rolle und perfidem Geschacher von Partikularinteressen" und zeuge darüberhinaus "von großem Mut und aufklärerischem Selbstbewusstsein." Für den Tagesspiegel hat Andreas Busche mit dem Regisseur gesprochen.

Weitere Artikel: Ein bisschen zu oft fühlte sich Artechock-Kritiker Rüdiger Suchsland in unseren Berlinale-Pressespiegeln als Wüterich dargestellt, schreibt er und bekräftigt seine harsche Abrechnung mit dem Festival: "Kritik zu üben, hat mit schlechter Laune nichts zu tun, sondern eher mit enttäuschter Liebe." In der taz empfiehlt Fabian Tietke den Berlinern den vierten Teil der Reihe "Rekonstruktion: Filmland Rumänien" im Zeughauskino. Hanns-Georg Rodek wirft für die Welt einen Blick in die Glaskugel und verrät uns schon mal die Oscargewinner. NZZ-Kritikerin Marion Löhndorf freut sich derweil schon auf die Dankesreden. Für die Berliner Zeitung hat Patrick Heidmann mit Christoph Waltz geplaudert.

Besprochen werden Volker Schlöndorffs auf Heimmedien wiederzuentdeckender Film "Mord und Totschlag" von 1967, der zur Freude von taz-Kritiker Ekkehard Knörer eher in die Richtung Lemke und Thome führt als in die seines übrigen Werks (taz), Jonas Akerlunds Black-Metal-Film "Lords of Chaos" (Standard), Marielle Hellers "Can You Ever Forgive Me" mit Melissa McCarthy (SZ), Joel Edgertons "Der verlorene Sohn" (taz, Standard), Neil Burgers "Ziemlich beste Freunde"-Remake "Mein Bester & Ich" (taz, Standard, Tagesspiegel) und die Netflix-Serie "Matrjoschka" (ZeitOnline).
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Literatur

Während der deutsche Buchmarkt gerade zu zersplittern droht, boomt in der Türkei das Verlagswesen, erfahren wir von Constanze Letsch in der NZZ. Eitel Sonnenschein herrscht für die türkischen Literaten dennoch nicht, im Gegenteil: Zensur und Repression feiern seit dem gescheiterten Putschversuch fröhliche Urständ'. "Es ist nicht leicht, in Zeiten der immer härteren Autokratie, des wieder eskalierenden Kurdenkonflikts und zunehmender Repressionen Worte zu finden. 'Ganze Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht, Justiz und Gerechtigkeit existieren nicht mehr', sagt der Autor Murat Uyurkulak. 'Es passieren so viele Dinge, die einen sagen lassen: Das ist zu viel, das ertrage ich nicht. Aber der Literatur dürfen die Worte nicht ausgehen, im Gegenteil! Sie müssen schärfer und härter werden.' Von der Obrigkeit verordnete Maulkörbe müsse man erst recht ignorieren und Strafe regelrecht provozieren. 'Man muss sie der beschämenden Lächerlichkeit aussetzen, dass sie ein Buch vor Gericht zerren', so Uyurkulak."

Weitere Artikel:  Mit großem Interesse liest Bernd Noack in der NZZ Bertolt Brechts Tagebücher aus seinem Kuraufenthalt in Bad Steben. In der NZZ gesteht Paul Jandl, einen vor 46 Jahren ausgeliehenen Edgar-Wallace-Roman nie zur Bibliothek zurückgebracht zu haben.

Besprochen werden unter anderem Tanja Maljartschuks "Blauwal der Erinnerung" (Berliner Zeitung), Mishimas erstmals direkt aus dem Japanischen ins Deutsche übersetzte "Bekenntnisse einer Maske" (SZ), Ulrich Woelks "Der Sommer meiner Mutter" (ZeitOnline), Clemens Setz' Erzählband "Der Trost runder Dinge" (Tagesspiegel) und Bücher von James Baldwin und John Okada (FAZ).
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Kunst

Katie Wilson, Bedrooms of London-Edward, 2017 © Katie Wilson
Einen "unerträglichen" Blick ins "Herz der britischen Gesellschaft" verdankt Cathrin Kahlweit in der SZ den derzeit unter dem Titel "Bedrooms of London" im Londoner Foundling Museum ausgestellten Bildern der Fotografin Katie Wilson, die im Auftrag von Childhood Trust zwei Jahre lang Aufnahmen von Sozialwohnungen gemacht, mit denen Vermieter "Ämter und Arme abzocken": "Die Fotos von Katie Wilson sind eine Sozialstudie in Bildern: stumme Zeugen der Not. Sie sind zurückhaltend, respektieren die Intimsphäre der Bewohner, rücken den Kindern, deren Umfeld sie zeigen, nie zu nahe. Menschen sind nicht zu sehen, oft sind nicht einmal Bilder oder Kinderzeichnungen an den Wänden der Zimmer, in denen sich die Fotografin bewegt - als hätten die Bewohner ihre Identität mit dem Verlust der Privatheit abgelegt, die eine eigene, sichere, warme Wohnung bedeutet."

Weitere Artikel: In der taz porträtiert Bettina Maria Brosowsky den Bauhaus-Fotografen Umbo, dessen Werk derzeit im Sprengel-Museum in Hannover ausgestellt wird und der als Autodidakt zur Fotografie fand: "Technisch eher dilettantisch, dafür mit ungewohnten Ausschnitten und Nahaufnahmen, Mehrfach- oder Überbelichtungen, konzentrieren sich etwa seine frühen Porträts auf suggestive Details wie Augenpartie, stark geschminkten Mund oder eine kapriziös das Kinn stützende Hand seiner weiblichen Modelle." Sehr zufrieden ist Christiane Meixner im Tagesspiegel mit dem mit einer Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste verbundenen Käthe Kollwitz-Preis für Hito Steyerl, die in ihren filmischen Arbeiten  "die Verstrickungen zwischen Waffenhandel, Krieg und Kunst" analysiere. Von dem Dilemma der Londoner National Portrait Gallery, die sich entweder gegen eine Spende der Sackler-Pharmadynastie oder gegen eine geplante Nan-Goldin-Ausstellung - die gegen Sackler protestiert - entscheiden muss, berichtet Gina Thomas in der FAZ.

Besprochen werden die Rembrandt-Ausstellung im Amsterdamer Rijks-Museum (FR) und die Ausstellung "Bruno Gironcoli. Prototypen einer neuen Spezies" in der Frankfurter Schirn (Dlf, FAZ)
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Musik

Nemanja Radulović hat das Zeug zum neuen David Garrett, schreibt Helmut Mauró in seinem SZ-Porträt des serbisch-französischen Geigers, der sich vom reinen Show-Appeal derzeit allerdings zu emanzipieren versucht: Seine Aufnahmen bleiben dem Kitsch fern, Radulović "agiert unerhört sensibel mit seinem Ensemble und zaubert dabei das zarteste, sanglichste Flageolett hin. Dieses halblaut oktavierte Spiel, vergleichbar dem Überblasen einer Flöte, nur leiser, kommt bei ihm aus dem Nichts, aus dem Unhörbaren, bahnt sich seinen Weg in den Raum und zieht als weicher Klangnebel vorüber wie ein Sekundentraum. So klingt Magie." Wobei magische Klangnebel den Kitschverdacht vielleicht nicht völlig ausräumen können.

Weitere Artikel: Die FAS hat Florentin Schumachers Gespräch mit der Austro-Pop-Band Bilderbuch über deren neues (im Standard besprochenes) Album online nachgereicht. In ihrem Song "Europa 22" beschwören sie die europäische Einigung als zu wahrendes Projekt - "ein Song, um die Vorteile unserer Gesellschaft a bisserl bewusster zu erleben."



Besprochen werden Efdemins "New Atlantis" (Pitchfork), Bob Moulds neues Album "Sunshine Rock" (Standard) und ein Auftritt von Joan Baez (FAZ).
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Bühne

Nicht viel anfangen kann Julia Spinola in der NZZ mit dem "Retro-Trend" an Opernhäusern, der uns neben Neuinszenierungen alter Produktionen auch Wiederaufnahmen aus dem Repertoire, etwa Stücke von Ruth Berghaus an der Berliner Staatsoper beschert: "Spricht daraus der Wunsch nach bleibenden Werten in politisch unsicheren Zeiten? Oder will man vielmehr an die Aufbruchsstimmung der 1960er und 1970er Jahre anknüpfen, als man mit Kunst noch etwas bewirken wollte, als das Regietheater noch die Kraft hatte, Skandale auszulösen, und das Musiktheater eine Dringlichkeit gewann, der gegenüber manche Neuinszenierung heute blutleer wirkt? Oder muss man die Retro-Manie, genau umgekehrt, als erzreaktionären Rückzug ins Unpolitische deuten? Gehen den Regisseuren von heute die Ideen aus? Kann es sein, dass das Potenzial des Kernrepertoires mit seinen immergleichen Stücken tatsächlich 'ausinszeniert' ist?"

Weitere Artikel: Nach der Uraufführung von Anno Schreiers Inszenierung von John Fords Oper "Schade, dass sie eine Hure war" an der Deutschen Oper am Rhein ist Karl Heinrich Kohrs in der FAZ überwältigt: "Große Oper zersplittert sich dabei in eine Fülle von visuellen und vor allem musikalischen Allusionen und Zitaten, so als wolle die Oper noch einmal über all ihre Möglichkeiten nachdenken."

Besprochen wird Eun-Me Ahns Tanzperformance "Let Me Change Your Name" am Staatstheater Wiesbaden (FR).
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