Außer Atem: Das Berlinale Blog

Küss mir die Schuhe: Nicolas Wackerbarths 'Casting' (Forum)

Von Anja Seeliger
12.02.2017. Nicolas Wackerbarts "Casting" ist ein brillante Reflexion über die Machtverhältnisse bei Fernsehen und Film in Deutschland. Und über unsere Existenz als ältliche Zwerge auf den Schultern des ewig jungen Riesen Fassbinder.
(Die Überrsicht über alle bisher besprochen Filme der Berlinale finden Sie hier.)




Andrea Sawatzki als Petra von Kant

Bislang der beste Film auf dieser Berlinale. Regisseur Nicolas Wackerbarth wagt sich aufs Eis, wo die anderen bestenfalls einen Uferspaziergang machen. Es geht um die eigene Profession, um kreative Prozesse und um die Macht- und Arbeitsverhältnisse, die diese Prozesse prägen.

Die Konstellation ist folgende: Ein Produzent mit guten Drähten zu den Öffentlich-Rechlichen hat Regisseurin Vera ausgewählt, für einen Fernsehsender "Die bitteren Tränen der Petra von Kant" neu zu verfilmen. Das war das Originellste, was ihm zum 75. Geburtstag Fassbinders einfiel. Wenige Tage vor Drehbeginn kann Vera sich immer noch nicht entscheiden, wer die Petra von Kant spielen soll. Immer wieder legt sie beim Casting die Stirn in Falten, sagt Sätze wie "Ich muss fasziniert sein. Wie soll ich hier fasziniert sein?", guckt schwer ausatmend zur Seite und erklärt am Ende: Wir melden uns.

Das Team fängt an sauer zu werden, keiner will schuld sein, wenn der Film in die Binsen geht. Irgendwann spricht jemand das Wort "unprofessionell" aus. Dabei versucht Vera sich nur klarzuwerden, was sie will, wo sie den Film doch eigentlich gar nicht drehen wollte - wer braucht schon eine zweite Version eines Meisterwerks, fragt sie einmal -, aber nun steckt sie drin. Sie ist Mitte vierzig und dies ist erst ihr drittes Projekt. "Da haben Sie spät angefangen", sagt spitz eine der Bewerberinnen und empfiehlt heißes Wasser für die kalten Hände Veras.

Darum geht es in diesem Film, selbst eine SWR-Produktion, die ganze Zeit: den anderen in die Ecke drängen, klein machen, Terrain besetzen. Die Hierarchie muss immer wieder neu ausgelotet werden. Schlägt die Berühmtheit einer Schauspielerin die Autorität der Regisseurin? Ab welchem Punkt kann das Team ungefährdet gegen die Regisseurin rebellieren? Wieviele Demütigungen erträgt Gerwin, der Anspieler für die potenziellen Hauptdarstellerinnen, der sich im Laufe des Films Hoffnung auf die männliche Hauptrolle macht?

Nur eine steht über allem, das ist die Redakteurin des Fernsehsenders, die den Film beauftragt hat. Einmal schwebt sie ein, um die Huldigungen für ihr "großes Engagement" entgegenzunehmen, dann ist sie auch schon wieder weg, und das Fußvolk - alles "Freie", versteht sich - kämpft weiter um jeden Zentimeter Handlungsmacht.

Es ist ganz sinnlos, seine Sympathien auf eine Figur zu setzen, denn das Machtgefüge verändert sich ständig: Mal ist der eine obenauf, mal der andere. Und die, die gerade noch verzweifelt waren, werden, sobald sie obenauf sind, sofort selbst zu Arschlöchern. Der Film führt das ohne Zynismus vor. Er zeigt vielmehr, dass auch der Prozess zwischen Drehvorbereitungen und Film fließend ist. Nachdem Vera von dem Produzenten zusammengestaucht wurde, sitzt sie in ihrer Garderobe, nur Gerwin, der Anspieler, ist bei ihr und tröstet sie. Er will nett sein, aber er will auch die Rolle des Karl (ohne das zu zeigen), sie braucht den Trost (weiß aber natürlich genau, dass er die Rolle will). Unter seinen Schmeicheleien taucht sie langsam auf aus ihrer Niederlage und wird zur grausamen Königin des Moments, während er aus der lässig-überlegenen Pose desjenigen, der eh mit dem Schauspielerberuf abgeschlossen hat, in die Rolle des Bettlers abgleitet, der alles tun würde für die Rolle des Karl. "Küss mir die Schuhe", sagt sie, Vera und Petra von Kant zugleich, und er tut es, wieder und wieder. Die reale Situation ist unmerklich in eine Probe geglitten. Man sieht beides: den realen und den fiktiven Machtkampf der beiden.

Es gibt mehrere solcher Szenen. Vor allem natürlich mit den Schauspielerinnen, die sich den Proben für die Hauptrolle unterziehen: Ursina Lardi, Marie-Lou Sellem, Corinna Kirchhoff, Victoria Trauttmansdorff und Andrea Sawatzki. Die Creme der deutschen Schauspielkunst, die ihre erste Niederlage schon erlitten hat, bevor sie den Raum betritt. Denn dass sie, die Berühmtheiten, überhaupt vorspielen müssen, verweist sie in den Augen aller Beteiligten in die unteren Ränge der Abhängigen.


Vera (Mitte) und ihre beiden Assistentinnen

Würde natürlich nie jemand sagen. Die latente Aggressivität wird immer mit einem Lächeln überspielt, einer lässigen Pose und der unvemeidlichen Wasserflasche in der Hand, die signalisiert: Ich leiste hier Schwerstarbeit. Kannst du von deiner Verletzung erzählen, fragt Vera eine Kandidatin, die unvorsichtig genug war, während der Probendiskussion eine zerbrochene Liebesbeziehung zu erwähnen. Kannst du hier ganz persönlich, ungeschliffen sein? Also, soll ich jetzt hier meine Privatsachen ausbreiten, fragt die Schauspielerin verunsichert. Das entscheidest du, antwortet Vera der Frau, die die Rolle schon lange verloren hat.

Jede Schauspielerin, die hier antritt, hat ihre eigene Methode, mit der demütigenden Castingsituation umzugehen. Wackerbarth hat seinen Schauspielern viel Freiheit gelassen, erzählt er in den Produktionsnotizen. Das Drehbuch wurde Tag für Tag weitergeschrieben, es gab viel Raum für Improvisation. Einen großartigen Auftritt hat Andrea Sawatzki, die ihre Zurückweisung Münze für Münze heimzahlt, indem sie für eine Szene der Petra von Kant Vera zum Anspieler degradiert. Direkt ihr ins Gesicht, so dass Vera nicht ausweichen kann, sagt sie: "Ich lieb dich so sehr. Warum bist du so gemein zu mir, Karl? Oh scheiße, ich kann nicht ohne dich. Ruf mich doch an wenigstens, lass mich doch wenigstens deine Stimme hören" und streicht ihr mit der Hand leicht über die Wange. Für einmal ist es die Regisseurin, die nicht weiß, wo sie hingucken soll. Neben allen anderem ist dieser Film auch eine wunderbare Lektion in Sachen Schauspielkunst.

Man hält es manchmal kaum aus. Wahrscheinlich war es bei Fassbinder noch viel schlimmer, aber die waren alle so jung damals. Judith Engel, die Darstellerin der Vera, ist 47 Jahre alt. Da war Fassbinder schon zehn Jahre tot. Vera dreht ihren dritten Film, Fassbinder hinterließ 44. So gesehen versteht man plötzlich auch, warum "Casting" nicht im Wettbewerb läuft: Nicolas Wackerbarth ist 43 Jahre alt. Der Altersdurchschnitt der Regisseure im Wettbewerb liegt bei 55. Da muss er noch gut zehn Jahre warten.

Casting. Regie: Nicolas Wackerbarth. Mit Andreas Lust, Judith Engel, Ursina Lardi, Corinna Kirchhoff, Andrea Sawatzki, Milena Dreissig, Nicole Marischka, Stephan Grossmann, Marie-Lou Sellem. Deutschland 2017, 91 Minuten (Vorführtermine)