Außer Atem: Das Berlinale Blog

Metapher für Europa: Lampedusa in Gianfranco Rosis 'Fuocoammare' (Wettbewerb)

Von Thekla Dannenberg
13.02.2016. Gianfranco Rosi zeigt das harte Leben auf Lampedusa - für die Einheimischen und für die Flüchtlinge, die es lebend auf die Insel schaffen.


Gianfranco Rosis Film über Lampedusa beginnt mit einem Hilferuf. Ein Boot mit zweihundertfünfzig Menschen an Bord gerät in Seenot, die Fregatte der italienischen Marine versucht die Position des Boots herauszufinden, doch die Frau am anderen Ende der Leitung schluchzt nur noch: Bitte, helfen Sie uns, um Gottes willen, helfen Sie uns. Dann bricht der Kontakt ab. Später wird im Radio von dem Unglück berichtet, mindestens 34 Tote wurden aus dem Mittelmeer geborgen.

Dagegen geschnitten sind die Bilder des 12-jährigen Samuele, Sohn eines Fischers auf Lampedusa. Er schnitzt sich Schleudern aus dem harten Holz von Pinien oder Olivenbäumen und erklärt seinem Freund, wie man Vögel jagt: "Dafür brauchst Du Leidenschaft." Mit Samuele streift der Film über die Insel, über schroffe Felsen, an der steilen Küstenlinie entlang, auf das Fischerboot des Vaters, eines verbrauchten Mannes. Viele Jahre ist er zur See gefahren, monatelang hat er nichts als Himmel und Meer gesehen: "Das war ein hartes Leben, kein schönes", sagt er mit erschütternder Nüchternheit. Wenn Samuele erzählt, das ihm auf dem Schiff bei hohem Seegang schlecht wird, rät ihm der Vater, bei starker Brandung demnächst auf den Bootssteg zu gehen, um den Magen abzuhärten. Die Großmutter erzählt, wie ihr Mann in Kriegszeiten zum Fischen aufs Meer gefahren ist. Damals brannte Feuer auf dem Meer, erzählt sie. Fuoco a mare. Später wünscht sich Tante Maria im Radio ein Lied mit diesem Titel für ihren Sohn. Auf Lampedusa sind alle Seeleute.

Der Arzt Pietro Bartolo berichtet von unvorstellbarem Leid. Von Männer mit verätzten Leibern, von schwangeren Frauen, die während des Schiffbruchs vor Schock und Angst niederkommen, dabei sterben und mit dem nicht abgenabelten Säugling tot im Meer treiben. Ein großer Teil der stehenden Ovationen bei der anschließenden Presskonferenz galt diesem wackeren Mann, der seit 1991 auf Lampedusa arbeitet, tausende von Menschen vor dem Tod bewahrt hat, vielen hundert nicht mehr helfen konnte, aber, wie er selbst etwas erschöpft anmerkte, bestimmt schon allen Redaktionen der Welt berichtet hat, was sich vor seinen Augen abspielt.

Der Film begleitet ein Schlauchboot, das völlig dehydrierte, delirierende Männer aus einem liegengebliebenen Boot zieht. Ihnen werden sofort Infusionen gelegt, die anderen werden mit Schlagstöcken auf Abstand gehalten. Immer wieder kehrt Rosi auf die Rettungskreuzer und Kriegsfregatten zurück, durchaus auch beeindruckt von der militärischen Imposanz startender Hubschrauber und kreisender Radaranlagen. Ihnen gegenüber stellt er in Großaufnahmen die Gesichter geretteter Frauen entgegen, die Gemarterten unserer Zeit.

Während die Bilder der Flüchtlinge geradezu ins Sakrale gehoben werden, erstarrt Lampedusa zur Metapher für Europa. So stark die Szenen sind, in denen Samuels Vater in Erscheinung tritt, Nigerianer ihre Fluchtgeschichten rappen oder Pietro Bartolo einer schwangeren Frau begreiflich machen will, was er im Ultraschall sieht, so selten sind sie: Was die sich im Mittelmeer abspielenden Tragödien und die Flüchtlinge für das Leben auf der Insel bedeuten, erfahren wir nicht. Die Fischer verlieren kein Wort darüber. Samuele zieht über die Insel, mal lockt er die Vögel an, mal erlegt er sie mit seiner Schleuder. Bis er zum Arzt muss. Der Junge ist auf einem Auge nahezu blind, es ist träge. Und ihm geht immer wieder die Luft aus - aus Angst, krank zu werden.

Fuocoammare - Fire at Sea. Regie: Gianfranco Rosi. Mit Samuele Pucillo, Pietro Bartolo und anderen. Italien/Frankreich 2015, 108 Minuten. (Vorführtermine)