9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Gesellschaft

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.11.2023 - Gesellschaft

Die Linke ist in ihrer eigenen Weltsicht gefangen, in der sie meint, Minderheiten gegen eine "Kolonialmacht" zu verteidigen, konstatiert der Politologe Wolfgang Kraushaar im SZ-Interview. Die moralische Selbstüberschätzung mache linken Antisemitismus besonders gefährlich, weil er "mit Blindheit geschlagen ist. Um die Verhältnismäßigkeit einer solchen Argumentation zu wahren, darf man aber auch die Linke nicht pauschal mit antisemitischen Strömungen gleichsetzen, die sich identitätspolitisch und antikolonialistisch in Szene setzen. Ein Weiteres kommt hinzu. Es ist unverkennbar, dass die gefährlichste Form des gegenwärtig in Deutschland grassierenden Antisemitismus sicher nicht von links, sondern von Seiten eines islamischen Fundamentalismus ausgeht. Zudem sollte nicht aus den Augen verloren werden, dass der Antisemitismus von rechts in den letzten Jahren ständig weiter zugenommen hat. Der linke Antisemitismus, so erschreckend er auch sein mag, ist daneben deutlich weniger stark verbreitet. Allerdings verfügt er in bestimmten Milieus, im Kunstbetrieb und in der akademischen Welt, mittlerweile über einen erheblichen Einfluss."

Die deutsche Staatsräson ist keineswegs rechtsverbindlich, auch wenn das viele glauben, hält Ronen Steinke in der SZ fest. Von dem Vorschlag, die Leugnung des Existenzrechts Israels unter Strafe zu stellen, wie ihn etwa der hessische Justizminister Roman Poseck machte, hält er nichts: "Im Kreis der übrigen Landesjustizminister ist die Idee nur freundlich weggelächelt worden. Es wäre dem deutschen Recht auch fremd, wenn man so etwas umsetzen würde. Selbst wenn Poseck auf die - schon seit langem geltende - Strafbarkeit der Leugnung des Holocausts verweist. Das sind zwei sehr unterschiedliche Dinge. Man kann sie nicht vergleichen. Wer heute der Legitimität eines bestimmten politischen Zustands in Nahost widerspricht, der stellt sich damit nicht gegen einen deutschen Verfassungswert - sondern allenfalls gegen eine politische Meinung, die Merkel, Scholz und andere vertreten (wobei das in den Details gar nicht so eindeutig ist). Genau für so etwas ist die Meinungsfreiheit erfunden worden. Das ist etwas anderes als eine Holocaustleugnung, eine falsche Tatsachenbehauptung also bezüglich historischer Fakten."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.11.2023 - Gesellschaft

Die deutsche Gesellschaft ist angesichts des Nahost-Konflikts tief gespalten - wie kann man beide Seiten wieder näher zusammenführen, fragt sich Kristin Helberg im Tagesspiegel. Das Problem liegt auch darin, dass die deutsche Holocaust-Erinnerungskultur die Sichtweisen von Zugewanderten nicht ausreichend berücksichtigt: "Was es braucht, ist eine multiperspektivische Erinnerungskultur, die den Holocaust nicht nur aus deutscher Sicht betrachtet, sondern auch den Blick von außen zulässt. Dadurch würde der Holocaust zum Menschheitsverbrechen, und Zugewanderte ohne biografischen Bezug zum Nationalsozialismus könnten die gleichen Lehren daraus ziehen wie Deutsche mit Nazi-Vorfahren. Häufig identifizierten sich junge Migranten und Muslime beim Besuch von Holocaust-Gedenkstätten mit den jüdischen Opfern, sagt die Soziologin Esra Özyürek bei 'Zeit Online'. Als Mitglieder einer Minderheit, die selbst Ausgrenzung und Diskriminierung erfahre, sei das naheliegend, so Özyürek."

Mohammed Chahrour ist Mitherausgeber des Buches "Generalverdacht. Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird". Dieser Mythos sei auf einen "subtilen und latenten Rassismus" in der Gesellschaft zurückzuführen, meint er im taz-Gespräch: "Wir sprechen jetzt nicht mehr von den 'kriminellen Ausländern' sondern von 'kriminellen Clans' - deswegen sprechen wir von einem Mythos. Gemeint sind mehrheitlich muslimisch gelesene Gruppen und Roma. (…) Für mich steht die sogenannte Clankriminalität in einer rassistischen Kontinuität mit den Hürden und der Kriminalisierung, die diese Gruppen bereits mit ihrer Ankunft in Deutschland erfahren haben. Diese Gruppen bekamen kein Asyl, sondern nur Duldungen, die immer wieder verlängert wurden, weil man sie als Staatenlose nicht abschieben konnte, zudem war im Libanon bis 1990 Bürgerkrieg. Sie bekamen nur Sachleistungen, also das, was heute viele wieder für Asylbewerber fordern. Sie durften über Jahre und Jahrzehnte nicht arbeiten, es gab keine Schulpflicht, die Wohnsitznahme war eingeschränkt. Es waren also unglaublich schwierige Umstände."

Martin Hyun macht im Tagesspiegel auf ein Kapitel der deutschen Geschichte aufmerksam, das bis heute viel zu wenig Aufmerksamkeit erfährt: das der koreanischen Gastarbeiter: "Vor sechzig Jahren trugen sie maßgeblich zum Wirtschaftswunder bei. Als Botschafter ihres Landes machten sie Taekwondo, Kimchi und Kimbab in Deutschland populär und legten damit den Grundstein für den Erfolg von K-Pop und der Hallyu-Welle." Die deutsche Gesellschaft ist auf diesem Auge allerdings blind, so Hyun: "Während Projekte zum deutsch-türkischen Anwerbeabkommen vom Auswärtigen Amt finanziell gefördert wurden, erfuhren Anfragen für deutsch-koreanische Kulturprojekte regelmäßig Ablehnung. Das Desinteresse und die Ablehnungen, obwohl das Bundesministerium für Arbeit und Soziales maßgeblich am südkoreanischen Anwerbeabkommen beteiligt war und derzeit aktiv um Pflegefachkräfte aus Brasilien und Indien wirbt, sprechen hier Bände."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.11.2023 - Gesellschaft

Mit den "parteinahen Stiftungen" haben sich die Parteien in Deutschland einen üppig finanzierten Ausweichraum geschaffen, wenn es politisch mal nicht so läuft. Auch die AfD hätte im Prinzip ein Anrecht auf so eine Stiftung, aber es hatte sich eine starke Bewegung gegen die "Desiderius-Erasmus-Stiftung" gebildet. Nun freut sich die von Meron Mendel und Saba-Nur Cheema betriebene "Bildungsstätte Anne Frank" in einem Tweet über den Erfolg ihres Engagements: "Der Bundestag hat das längst überfällige #Stiftungsgesetz beschlossen. Damit sollte die #AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung #DES von der staatlichen Förderung ausgeschlossen bleiben... Mit 'Bildungsvorträgen' zu Themen wie 'Clankriminalität in Deutschland - Die unterschätzte Gefahr' versucht die #DES, ihre rassistische Ideologie zu verbreiten. Gleichzeitig kann sie über Honorare Gelder in die rechte Szene verteilen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.11.2023 - Gesellschaft

Warum hat es in Deutschland, beim "Erinnerungsweltmeister", so wenige Bekundungen der Empathie nach dem 7. Oktober gegeben, fragt Meron Mendel und sucht in einem fast etwas ratlos wirkenden Spiegel-Essay nach Erklärungen. Die Empathie mit Frankreich sei nach den Charlie-Hebdo-Massaker und den Bataclan-Morden so viel größer gewesen. Für Mendel liegt es daran, dass die Aussöhnung mit Israel, anders als die mit Frankreich gesellschaftlich nicht verinnerlicht wurde: "Mehr als siebzig Jahre nach dem Wiedergutmachungsabkommen ist festzustellen, dass der parteiübergreifende Konsens über die Verbundenheit mit Israel wenig Rückhalt in der Gesellschaft hat. Die Mehrheit der Deutschen verbindet das Land nicht mit realen Menschen und Orten, vielmehr wird Israel zum Symbolbild: Für einen Teil der Bevölkerung wurde die Unterstützung Israels zum Symbol der erfolgreichen Vergangenheitsbewältigung und Verantwortungsübernahme für die Naziverbrechen. Für einen anderen Teil stiftet die Feindschaft gegenüber Israel ein Zugehörigkeitsgefühl zum Kollektiv des Globalen Südens oder zur 'antikolonialen' Bewegung."

Der bekannte Soziologe Oliver Nachtwey reagiert mit einem Tweet auf Mendels Essay:

Anders als in Deutschland artikulierte sich in Frankreich immerhin eine breite Empathie in Solidaritätsdemos in Paris und anderen Städten. Der Bericht von Solenn de Royer in Le Monde klingt dennoch etwas strange: "Die Franzosen ignorierten die Polemik und folgten dem Aufruf. 182.000 Menschen (nach Angaben der Polizei) demonstrierten in Stille und Ernsthaftigkeit. Auch wenn die Soziologie der Demonstranten nicht alle Teile der Gesellschaft widerspiegelte, ist die entschlossene Mobilisierung eines Teils der Gesellschaft zu einer Zeit, in der antisemitische Vorfälle seit einem Monat explosionsartig zugenommen haben, eine gute Nachricht, die von vielen in den Demonstrationszügen als 'beruhigend' empfunden wurde." Mit "nicht alle Teile der Gesellschaft" spricht de Royer den klaren Eindruck an, dass in der Demo viele ältere Menschen unterwegs waren und so gut wie ausschließlich Weiße.

Es handelte sich beim 7. Oktober nicht einfach um ein Pogrom, sondern um ein lang vorbereitetes eliminatorisches Verbrechen, zu dessen Effekten es auch sofort gehörte, geleugnet oder "kontextualisiert" zu werden. Für die Juden, nicht nur in Israel wiederholt sich damit ein Trauma, schreibt Richard C. Schneider ebenfalls im Spiegel. Zum Trauma gesellt sich die sofort einsetzende Täter-Opfer-Umkehr in Teilen des Westens: "Gewiss, ob Juden oder Muslime, der Tod eines Kindes, des Partners oder der Eltern ist für alle derselbe unendliche Schmerz. Da gibt es nichts aufzurechnen oder abzuwägen. Das bedarf keiner Diskussion. Während die israelische Armee nun das militärische Ziel hat, die Mördertruppe Hamas zu vernichten, war die Intention der Hamas, jüdisches Leben an sich auszulöschen. Das stellt sie in eine Reihe mit all den anderen in der Geschichte, die Juden umbringen wollten, weil sie ihnen als das Böse schlechthin galten."

"No climate justice on occupied land." Zu den Charakteristiken des 7. Oktobers gehört, dass einige Linke sich, wie hier Greta Thunberg, als entschlossene Israel-Feinde demaskierten und damit auch ihr eigentliches Engagement in ein neues Licht stellen:

Derartige Äußerungen haben ihre Logik, schreibt Lennart Pfahler in der Welt, sie zeigen, dass auch Bewegungen wie "Fridays for Future" sich heute vor allem in die postkolonialen Diskurse einreihen wollen: "Fridays for Future hat sich im eigenen Selbstbild von einer Klima- zu einer globalen 'Gerechtigkeitsbewegung' gewandelt. Aktivisten haben das Wort 'Klimaschutz' weitestgehend durch die Vokabel 'Klimagerechtigkeit' ersetzt. Dahinter steckt die Annahme, dass vor allem hoch industrialisierte westliche Länder Verantwortung für den Klimawandel tragen - und vor allem Menschen in Ländern des globalen Südens unter diesem leiden."

Über Thunberg kursieren nun auf Twitter einige Memes:

Auch der Publizist Safer Zenocak, der in der Vergangenheit oft vor Islamismus warnte, will angesichts der jüngsten Ereignisse vor allem "kontextualisieren". In der taz schreibt er: "Jeder von uns weiß, dass der Konflikt nicht an diesem schrecklichen 7. Oktober begonnen hat und dass es brutalisierte Kräfte auf beiden Seiten gibt, die ihn schüren. Unsere Lebenslüge aber heißt: Israel ist das Opfer, Palästinenser sind Aggressoren, Terroristen."

Katrin Sohns, Kulturchefin des Tagesspiegel (und früher Kuratorin, die laut Selbstbeschreibung "im globalen Süden gelebt und gearbeitet" hat) nimmt sich eine Doppelseite, um über Kunstfreiheit zu schreiben. Im gegenwärtigen Konflikt sei es kaum möglich (linke) Diskursräume zu erhalten, in denen sich die Künstler austauschen könnten, Institutionen und Künstler sähen sich einem Positionierungsdruck ausgesetzt. "Deutsche Medien würden einseitig berichten, heißt es. So hat sich hier in Deutschland eine Debatte, die mit dem Fall um Achille Mbembe bei der Ruhrtriennale begann und über die Documenta eskalierte, in den vergangenen Wochen weiter verschärft, die Fronten verhärten sich zunehmend. Viele ziehen sich aus der öffentlichen Debatte zurück oder wollen sich zur politischen Lage nicht mehr äußern. Andere diagnostizieren, auch die linke Kunstwelt zerlege sich." Es gehe darum, einen "zukunftsweisenden Umgang mit dem Thema BDS zu finden". Und: "Dass sich Juden in Deutschland nun auch die Frage stellen, ob sie Opfer von Gewalttaten werden könnten, die mit der 'anhaltenden Unterdrückung der Palästinenser' legitimiert werden, dass sie sich auch in Deutschland nicht mehr sicher fühlen -, dies sind Tatsachen, denen sich auch Kunst- und Kultureinrichtungen als Orte der Zivilgesellschaft ehrlich stellen müssen." Vielleicht sollte man ihr nochmal eine Doppelseite geben, um genauer zu erläutern, worauf sie eigentlich hinaus will.

Der Staat hat zu lange dabei zugeschaut, wie sich Islamismus in Deutschland ausbreitet, erklärt die Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek im NZZ-Interview mit Roman Bucheli. Regeln müssen respektiert werden, sagt sie mit Blick auf Integration: "Dabei ist entscheidend die Gleichberechtigung von Mann und Frau, ein Verbot von Kinderehe, Zwangsverheiratung oder Polygamie". "Wenn sie uns und unsere Lebensweise nicht aushalten können, müssen sie das Land verlassen. Und sie haben es sehr schwer, uns auszuhalten. Es waren junge Frauen und Mädchen, die in Israel an einem Rave in Freiheit gesungen und getanzt haben. Die Terroristen der Hamas haben sich an dieser Art des Lebens gerächt. Sie können es nicht aushalten. Es sind Männer, die uns Frauen vorschreiben, wie wir zu leben haben. Und wenn sie das nicht aushalten, dann sollen sie da leben, wo sie herkommen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.11.2023 - Gesellschaft

"Ich bin inzwischen schon viele Jahrzehnte dabei und habe ein sehr gutes Gedächtnis. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich je einen solchen Angst-Komplex unter Jüdinnen und Juden in Deutschland erleben musste wie heute", sagt Charlotte Knobloch im Tagesspiegel-Gespräch, in dem sie auch auf den muslimischen Antisemitismus zu sprechen kommt: "Ich halte dieses Phänomen für hochgefährlich. Schon die Schulbücher in vielen dieser Länder verbreiten Hass gegen Israel und gegen Juden, die Kinder lernen nichts anderes. Auch viele Imame in Deutschland hetzen gegen Juden. Ich habe deutsche Politiker immer wieder aufgefordert, gegen diesen Antisemitismus vorzugehen, die Antwort war meist: Wir wissen um diese Gefahr, aber wir haben nicht die Möglichkeit, dagegen etwas zu tun." Deswegen stimmt sie dem Vorschlag von Markus Söder, deutsche Pässe bei Antisemitismus-Vorfällen einzuziehen, gut. "Der Bundesjustizminister sollte die Idee aufgreifen."

Es ist nicht sinnvoll über "importierten Hass" zu sprechen, meint die Philosophin Hilge Landweer im FAZ-Gespräch: "Gefühle können nicht importiert werden, sondern entstehen aus bestimmten Situationen heraus, die nicht unbedingt an geographische Räume gebunden sind. Diejenigen, die hier nicht integriert sind, fühlen sich sehr stark mit ihrer Herkunftskultur verbunden. Allein durch Migration ändert sich der geschichtliche Kontext und die kulturelle Sozialisation nicht schlagartig. Für diese Menschen ist die Reaktion auf den schrecklichen und mit nichts zu entschuldigenden Terrorangriff der Hamas eine Frage der Loyalität und Zugehörigkeit. Das ist furchtbar, aber wenn man Gefühle verstehen möchte, dann ist es wenig sinnvoll, von vornherein mit Normen zu arbeiten. Man muss sich zuerst fragen: Aus welcher Situation heraus entsteht welches Gefühl? Und Hass ist ein Gefühl, das tendenziell aus Ohnmacht entsteht; gehasst wird zumeist von 'unten' nach 'oben'. Wenn nacheinander mehrere Generationen einer Gruppe in Lagern aufwachsen, dann wird der Hass gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen."

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Gerade erst ist Heinrich August Winklers Buch über die Geschichte der Revolutionen in Deutschland von 1848 bis 1989 erschienen. Im FR-Interview spricht er unter anderem über das Scheitern der Revolution von 1848, über dies Zäsur des Jahres 1989 und macht Hoffnung, was den gegenwärtigen Rechtsruck nicht nur in Europa betrifft: "Unumkehrbar ist der Trend in Richtung halbautoritärer Regime, die die Unabhängigkeit der Justiz und damit den Rechtsstaat infrage stellen, nicht. Das zeigt die Niederlage der PiS, der Partei Kaczynskis, bei der jüngsten Parlamentswahl in Polen. Unter einer von Donald Tusk geführten Regierung wird sich Polen reliberalisieren und wieder eine europafreundliche Politik verfolgen. Illiberale, nationalpopulistische Kräfte haben inzwischen aber auch in Nord- und Südeuropa an politischem Einfluss gewonnen. (...) Der Aufstieg der AfD zeigt, dass auch Deutschland nicht immun ist gegen nationalpopulistische Bewegungen. Sie profitieren davon, dass Teile der Gesellschaft die 'politische Klasse' als 'abgehoben' empfinden. Es liegt an den demokratischen Parteien, diesen verbreiteten Eindruck zu überwinden. Vor allem von ihren Antworten auf die Migrationskrise hängt es ab, ob der Zulauf zur Rechten eingedämmt werden kann."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.11.2023 - Gesellschaft

Laut der neuen Ausgabe des "Zivilgesellschaftlichen Lagebilds Antisemitismus" der Amadeu Antonio Stiftung erleben Juden und Jüdinnen in Deutschland seit dem 07. Oktober eine Welle des Antisemitismus wie seit Jahrzehnten nicht mehr, berichtet Yagmur Ekim Cay in der taz: "Auf der Pressekonferenz am Dienstag wies Beate Küpper, Sozialpsychologin und Professorin für Soziale Arbeit, nun darauf hin, dass jüngere Menschen in Deutschland inzwischen 'antisemitischer sind als ältere'. Es gebe außerdem bislang kaum Studien, die Aussagen über einen spezifischen Antisemitismus der muslimischen Bevölkerung erlaubten. Doch die bisherigen Hinweise ließen den Schluss zu, dass Antisemitismus unter eingewanderten Muslimen weit verbreitet sei. Die Fokussierung auf muslimische und migrantisierte Personen in der aktuellen Lage sei wichtig, dürfe aber nicht dazu dienen, 'vom Antisemitismus in der Mitte der Bevölkerung' abzulenken."

Im taz-Gespräch nimmt der Historiker Malte Holler das deutsche Bildungssystem mit in die Verantwortung: "Viele Pädagog:innen denken, dass die Beschäftigung mit der Shoah den Antisemitismus beseitigen könnte. Meiner Erfahrung nach gehört das zu den am weitesten verbreiteten Missverständnissen. Tatsächlich wird Judenhass dann oft auf seine Folgen verkürzt. Es ist aber wichtig, dass im Unterricht auch stärker über die Grundstrukturen antisemitischer Ideologie gesprochen wird. Dadurch bietet sich viel eher der Raum, die eigenen Vorurteile kritisch zu hinterfragen."

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In Deutschland dürfe man nur auf eine bestimmte Art über Israel sprechen, glaubt Deborah Feldmann, aktuelles Buch "Judenfetisch", im Gespräch mit der Berliner Zeitung: "Deutschland muss sich von der Überzeugung verabschieden, aus der Geschichte gelernt zu haben, heißt, bedingungslos zu Israel zu stehen, egal, was Israel tut. Deutschland muss umdenken. Die Lehre aus dem Holocaust sollte sein, jüdisches Leben und das Leben aller Minderheiten in diesem Land zu schützen, sodass unsere Gesellschaft zusammenhält. Deutschland muss für jüdisches Leben sorgen, nicht für israelisches Leben. Das Jüdischsein ist viel größer als Israel. Entscheidet sich Deutschland für Israel, geht das auf Kosten vieler Juden."

Im SZ-Interview mit Nele Pollatschek spricht der palästinensische Comedian Abdul Kader Chahin über den Nahost-Konflikt, aber auch darüber, was gute Integration ausmacht und warum er als Palästinenser Aufklärungsarbeit über den Holocaust leistet. Gerade palästinensische Geflüchtete haben es schwer in Deutschland meint er, er selbst wurde erst mit dreißig Jahren eingebürgert und lebte lange Zeit mit der ständigen Angst vor Abschiebung. All das rechtfertige natürlich keinen Antisemitismus. Er versucht, Verständnis auf beiden Seiten zu schaffen: "Ich versuche, Sensibilität zu schaffen in der Community. Zu sagen: Ja, wir sind Opfer, auch geopolitisch sind wir Opfer, auch vom Holocaust, der in Europa stattgefunden hat. Und das ist nicht fair. Das ist traurig. Und deshalb haben Palästinenser ihren starken Sinn für Gerechtigkeit. Aber wenn man wirklich gerecht sein will, dann muss man jegliche Perspektive anerkennen. Weil das Unrecht, das Juden angetan wurde, ist das Schlimmste, was auf dieser Erde je passiert ist."

"Der Mythos der Vorzeige-Minderheit hat uns nicht geholfen", sagt die in Vietnam geborene Autorin Hami Nguyen, die sich in ihrem Buch "Das Ende der Unsichtbarkeit" mit anti-asiatischem Rassismus auseinandersetzt, ebenfalls in der taz: "Für die weiße Dominanzgesellschaft sind wir alle gleich. Als Kind wurde ich immer als Chinesin bezeichnet. Man kann uns nicht auseinanderhalten. Und deswegen hat der Diskurs um China auch immer einen Einfluss auf mich. Auch wenn ich keine Chinesin bin, wurde ich in der Pandemie rassistisch angegriffen. Niemand hat sich in der Straßenbahn neben mich gesetzt, weil sie Angst vor dem 'Chinavirus' hatten. Das ist die Lebensrealität vieler, denen zugeschrieben wird, dass sie aus China seien."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.11.2023 - Gesellschaft

Buch in der Debatte

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n seinem aktuellen Buch "Kampf & Sehnsucht in der Mitte der Gesellschaft" schreibt der Journalist und Theologe Stephan Anpalagan auch über Antisemitismus, Rassismus und Integrationsversäumnisse. "Wer Bürger dieses Landes werden will, muss sich zum Schutz jüdischen Lebens und zur Existenz Israels bekennen", sagt er im Tagesspiegel-Gespräch, räumt aber ein: "Es ist noch nicht so lange her, dass Hildegard und Wolfgang mit 'Ungeimpft'-Judensternen und Seit-an-Seit mit Neonazis durch deutsche Innenstädte marschiert sind. Polizisten werden in trauriger Regelmäßigkeit mit antisemitischen WhatsApp-Chats auffällig, der LKA-Personenschützer der ehemaligen Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, scherzte mit Kollegen, er würde sie gerne nach Dachau ins KZ fahren. Jeder fünfte Deutsche denkt antisemitisch, das belegen Studien seit Jahren. Die zuweilen offen antisemitische AfD ist bundesweit zweitstärkste Kraft. Wenn wir wirklich alle Antisemiten rausschmeißen wollten, müssten wir wahrscheinlich einen Gutteil der deutschen Bevölkerung ausbürgern. Es gibt einen bedauernswerten, exklusiven Blick auf den Antisemitismus der Zuwanderer. Ich bezeichne ihn im Buch als 'Migrantisemitismus'."

"Es ist völlig richtig, muslimischen Antisemitismus als solchen zu benennen", schreibt auch Hannah Bethke in der Welt, aber: "Der Feuereifer, mit dem das jetzt mitunter betrieben wird, lässt jedoch - wieder einmal - allzu schnell vergessen, welche Geschichte dieses Land mit dem Thema selbst hat. Um Antisemitismus von rechts gehe es jetzt aber nicht, ist derzeit oft zu hören. Ach nein? Die demoskopischen Daten sagen etwas anderes. Unter AfD-Wählern sind israelkritische und teilweise auch antisemitische Positionen besonders stark verbreitet - und die Partei hält sich in Umfragen weiterhin stabil bei etwa 20 Prozent. Das ist nur ein Indiz für die anhaltende Tradition rechten Denkens in diesem Land. In den diskursiven Empörungsreflexen der sozialen Medien aber hält man lieber an altbekannten Feindbildern fest: Für die einen sind die Muslime schuld und die Linken sowieso, für die anderen sind alle 'rechts', die migrantische Parallelgesellschaften kritisch sehen. Beide Reaktionen haben uneingestanden mit einem Thema zu tun, das über die Generationen hinweg wirksam bleibt: die deutsche Schuld. Wieder wird das Gefühl der eigenen oder kollektiven Schuld abgeladen."

Wir finden in Deutschland keinen klaren Umgang mit Kritik am Islam, schreibt Hasnain Kazim in der SZ: "Also beten Leute vor dem Brandenburger Tor. Also marschieren Leute mit Bannern auf, die sonst Terrororganisationen benutzen. Wir verteidigen unsere Werte nicht, sondern geben sie auf. Wir räumen Verbänden, die beanspruchen, 'die Muslime' zu vertreten, Raum ein, obwohl die ihre Positionen zum größten Teil aus dem Ausland zugewiesen bekommen. Warum hat die türkische Religionsbehörde Diyanet hier mitzureden? Stattdessen haben wir alle paar Monate wieder eine Kopftuchdebatte, eine Burkadebatte, eine Beschneidungsdebatte, eine Schweinefleischdebatte. Da pauschalisieren dann weit rechts Menschen gegen 'die Muslime' und fordern Absurdes." (Kann man einerseits an westliche Werte erinnern und dann sagen, die Kopftuchdebatte sei "rechts"? Frühe Islamkritiker wie Necla Kelek, Seyran Ates und Hamed Abdel-Samad können ein Lied davon singen, wie man als "rechts" denunziert wird, wenn man auf Probleme hinweist.)

Die streckenweise islamistische Demo in Essen, bei der streng nach Geschlechtern getrennt unter "Allahu Akbar"-Rufen gegen Israel demonstriert und die Errichtung eines Kalifats gefordert wurde, hat sogar die Grünen-Politikerin Lamya Kaddor verstört. "Ich war 15 Jahre Lehrerin, habe Jugendliche in Islamischer Religion auf Deutsch unterrichtet. Meiner Erfahrung nach wissen viele Muslime nicht, was Antisemitismus in Bezug auf Israel bedeutet", meint sie im Gespräch mit dem Spiegel. "Natürlich findet sehr viel Mobilisierung auf unseren Straßen statt, die Stimmung ist aufgeheizt. Und trotzdem ruft die ganz überwiegende Mehrheit der Musliminnen und Muslime in Deutschland keine antisemitischen Parolen, geht nicht auf gewaltsame Pro-Palästina-Demos." Weshalb sie auch davor warnt, "alle Menschen muslimischen Glaubens unter Druck zu setzen, sich zu Israel und der Hamas positionieren zu müssen. Antisemitismus muss benannt und bekämpft werden, aber es darf keinen pauschalen Erklärungszwang zu Ereignissen geben, deren Dimensionen viele gar nicht überblicken. Wir sollten über den Terror der Hamas und seine Folgen sprechen und jetzt nicht pauschal über Muslime reden oder friedliche gesellschaftliche Gruppen gegeneinander ausspielen, auch in der Migrationsdebatte nicht."

Rechte haben wir in Deutschland genug, die müssen wir nicht noch zusätzlich importieren, meint Stefan Laurin bei den Ruhrbaronen: "Nach Zahlen der Anti-Defamation-League, die auch dem Verfassungsschutz als Quelle dienen, sind 74 Prozent der Menschen im Mittleren-Osten und Nordafrika Antisemiten. Die Behauptung, auch in dieser Region sei der Antisemitismus nur eine Minderheitenmeinung ist nicht mehr als ein frommer Wunsch, der mit der Realität nichts zu tun hat. Die Zahlen unterscheiden sich von Land zu Land: In der Westbank und in Gaza haben 93 Prozent der Menschen antisemitische Einstellungen, im Iran sind sie mit 60 Prozent so niedrig wie in keinem anderen Staat im Mittleren-Osten und Nordafrika. Wollen wir mit diesen Menschen in einem Land leben?"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.11.2023 - Gesellschaft

In Sachsen-Anhalt möchte sich ein Kindergarten gerne umbenennen - bisher war die Einrichtung nach Anne Frank benannt, berichtet Sandra Kegel entsetzt in der FAZ. Nun aber bevorzuge die Kindergartenleiterin den "kindgerechten" Namen "Weltentdecker" (auch noch ungegendert!), weil Anne Franks Geschichte "für kleine Kinder kaum fassbar sei". "Besonders perfide in der jetzigen Situation, da in Nahost Krieg herrscht, auch noch die 'Eltern mit Migrationshintergrund' gegen Anne Frank in Stellung, die mit dem Namen 'oft nichts anfangen' könnten. Sie wolle einen Kita-Namen 'ohne politische Hintergründe', verkennend, dass der Akt der Namenstilgung selbst eminent politisch ist. Der irregeleiteten Pädagogin springt der parteilose Bürgermeister von Tangerhütte zur Seite, der die Kita heute für 'offener als früher' hält, die 'stärker Selbstbestimmtheit und Vielfältigkeit der Kinder' fördere."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.11.2023 - Gesellschaft

Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer gibt nicht auf, an das Gute im Menschen zu glauben, sagt sie im Tagesspiegel-Interview mit Katharina Kalinke. Dass es irgendwann eine Welt ohne Antisemitismus geben wird, glaube sie allerdings nicht. Aber Bitterkeit nützt nichts, meint sie, das vermittelt sie auch bei ihren Lesungen: "Wenn ich zu den Schülern gesprochen habe, habe ich ihnen gesagt, ihr habt nichts damit zu tun, was gewesen ist. Ich will auch nicht wissen, was eure Großeltern gemacht haben - ob sie weggeguckt haben oder ob sie aktiv waren. Aber ihr sollt wissen, wie wir uns fühlen, was wir erlebt haben. Dass Menschen einander nicht als Menschen anerkannt haben. Ich sage immer, wir sind alle gleich. Wir kommen auf dieselbe Art und Weise auf diese Welt. Es gibt kein christliches, muslimisches oder jüdisches Blut. Wir haben alle dasselbe. Wir sind alle dasselbe."
Stichwörter: Friedländer, Margot

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.10.2023 - Gesellschaft

Spätestens seit den "Al-Quds"-Märschen, die seit 2014 auch Deutschland erreichten, hätte man wissen müssen, welcher Judenhass hier "schlummert", schreibt die jüdische Schauspielerin Raquel Erdtmann in der FAS: "Stattdessen brachte die Migrationsbewegungen der vergangenen Jahre noch mehr Menschen nach Europa, die in ihren Heimatländern zum Judenhass erzogen worden sind - ihn einzuhegen überlässt man gänzlich überforderten Lehrern und Sozialarbeitern. In der Regel mit dem Ergebnis, dass jüdische Kinder die öffentlichen Schulen verlassen, um dem Antisemitismus ihrer Mitschüler und Mitschülerinnen zu entgehen. Eine einfache Rechnung aus menschlicher Schwäche: Es leben Millionen Muslime in Deutschland, während die jüdische Gemeinschaft nicht einmal 100.000 Mitglieder zählt - für wen sich also verkämpfen?"

In der SZ glaubt Philipp Bovermann, dass die Idee des Postkolonialismus am Ende ist. "Das postkoloniale Denken gab den entwurzelten Völkern, die der Kolonialismus zurückließ, Vertrauen in sich selbst zurück. Es befreite auch den Westen von einigen seiner Vorurteile, lehrte ihn Demut." Daraus gingen aber postkoloniale Denker hervor, die "geradezu vernarrt in andere Formen des Wissens, in Rituale und Spiritualität" sind und einen Fakten-Konsens ablehnen. "Die rationalistischen Traditionen fremder Völker sind da weniger interessant, vielleicht aus Angst, wieder nur sich selbst im anderen zu erkennen. Rationalismus ist angeblich westliche Anmaßung. So kehrt der Orientalismus über die Hintertür zurück. Echte universelle Maßstäbe existieren gemäß dieser Logik nicht. Und wenn doch, dann sind das vermeintlich maskierte Manöver einer Macht, die versucht, Kontrolle über die Welt zu erlangen, indem sie die Standards und Spielregeln setzt - so wie es der Westen getan hat und immer noch tut, ohne sich selbst an diese Regeln zu halten. Übrig bleibt, wenn die universellen Vermittlungskategorien abgeräumt sind, Binarität: der Westen gegen den globalen Süden, Privilegierte gegen Unterdrücker, Siedler gegen Kolonisierte. Dazwischen: ein militärisch befestigter Zaun."