Riesiges Aufsehen erregen bei Twitter die Äußerungen einiger Präsidentinnen der
renommiertesten Universitäten der USA. Auf die Frage der republikanischen Abgeordneten
Elise Stefanik, ob der Aufruf zum Genozid an Juden den Richtlinien ihrer Universitäten widerspricht, antworten sie, das hänge
vom Kontext ab. Mit ja wollen sie auf die Frage der Politikerin partout nicht antworten. Der Soziologe
Richard Sennett gehört zu den vielen , die das Video dieser Befragung einbinden, und er schreibt dazu: "Es würde mich interessieren, was andere über diese Aussagen denken. Soziologisch gesehen sind sie absurd und für mich moralisch verwerflich. Was ist der Grund für die Ausweichmanöver der Präsidentinnen? Das ist als wirkliche Frage gemeint."
Die Präsidentinnen finden aber auch prominente Verteidiger in der deutschen Öffentlichkeit. Die Autorin
Annika Brockschmidt macht darauf aufmerksam, dass die Politikerin Stefanik
eine Rechte sei und an die Theorie des "großen Austauschs" glaube: überdies richte sich ihre Frage "nach der Klassifizierung des 'Code of Conduct' der Unis - ein propagandistischer Kniff, denn es ist klar, dass in diesem juristischen Rahmen
keine einfache ja/nein Antwort möglich ist. Es ist ein rhetorischer Trick." Der Historiker
Philip Sarasin (Betreiber des postkolonialen Blogs
Geschichte der Gegenwart)
stimmt Brockschmidt zu. Auch Patrick Bahners, ehemals Feuilletonchef der
FAZ doziert zum Thema: Die "Eskalationsdynamik der Genese von Genoziden unterschätzt, wer die gesamte palästinensische und propalästinensische Agitation auf das antisemitische Motiv reduziert."
Auch an
deutschen Unis gab es bekanntlich antisemitische Ausschreitungen und Drohungen gegenüber jüdischen Studenten. Der Präsident des Zentralrats der Juden,
Josef Schuster,
spricht darüber im Interview mit Konrad Litschkos von der
taz: "Das beunruhigt mich sehr. Nach dem 7. Oktober habe ich dort zunächst
dröhnendes Schweigen wahrgenommen, nun erleben wir offenen Antisemitismus - nicht überall, aber eben doch zu viel. Wenn mir eine jüdische Studentin sagt, dass sie sich in einer Berliner Universität nicht mehr traut, alleine auf die Toilette zu gehen, ist das unbegreiflich. Das darf es nicht geben."
In der
Jüdischen Allgemeinen fordert Schuster vor einer Konferenz der Innenminister ein stärkeres Eingreifen gegen Antisemitimus. Vieles sei aber auch schon geschehen: "
Hamas und Samidoun wurden verboten, genau wie die Parole 'From the River to the Sea'; endlich wird der Kampf gegen das
Islamische Zentrum Hamburg geführt. Das Signal der Innenministerkonferenz muss sein, dass dies nur der Anfang sein kann. Antisemitisches und antiliberales Gedankengut hat Wurzeln geschlagen in Deutschland."
In der
SZ versucht Philipp Bovermann den "Fall
Greta Thunberg" auseinanderzupflücken. Diese warnte einst in drastischen Worten vor den Folgen der Klimaerwärmung - heute wirft sie im gleichen Ton
Israel einen Genozid in Gaza vor. Wie früher zieht sie Experten dazu heran, wie in
einem Beitrag für die schwedische Zeitung
Aftonbladet und dem
Guardian. "Der Beitrag führt eine Stellungnahme von Forschern aus dem Bereich der Genozidforschung und des Völkerrechts an, die
nach hasserfüllten Äußerungen israelischer Offizieller vor einem 'möglichen Genozid' in Gaza warnten - die Klimaaktivistinnen zitieren dies aber als Warnung vor einem 'sich entfaltenden' Völkermord.
Ist ja auch quasi dasselbe, nicht? Den ergänzenden Hinweis, dass andere Genozidforscher es unangemessen finden, den Begriff auf die israelische Militäraktion in Gaza anzuwenden, sucht man vergeblich." Was ist also mit der Galionsfigur der weltweiten Klimabewegung passiert? "Wahrscheinlich ist Thunberg weder die engelsgleiche Verkünderin von Klimawahrheiten noch der antisemitische Dämon, zu dem sie nun vor allem in Deutschland stilisiert wird. Vielleicht ist sie nur zu selbstsicher geworden, zu schludrig, zu blind für die Gegenseite, ständig abgelenkt und frustriert und genervt -
mit einem Wort: erwachsen."
Die öffentlich-rechtlichen Sender transkribieren Ihre Beiträge oft nicht mehr, wohl weil sie den von Zeitungslobbyisten erhobenen Vorwurf der "Presseähnlichkeit" fürchten. Darum bleiben
strittige Äußerungen von öffentlichen Akteuren manchmal unbemerkt, wenn sie nicht von Hörern aufgegriffen werden, die einen Beitrag zufällig zur Kenntnis genommen haben. So jetzt die Schriftstellerin
Anne Rabe, Autorin des
Romans "Die Möglichkeit von Glück", die auf Twitter ihren Kollegen
Christoph Hein attackiert. "Gestern hat die
diesjährige Ostdebatte, die fraglos Abgründe offenbart hat, beinahe unbemerkt im @dlfkultur ihren absoluten Tiefpunkt erreicht. In der Sendung 'Lesart' schwadronierte der Schriftsteller Christoph Hein widerspruchslos folgendes: 'Schauen wir uns die ganzen
Führungsschichten in Ostdeutschland an. Das ist immer noch zu 90 Prozent mit Westdeutschen besetzt. Da fand eine
Auswechslung der Eliten statt, die so ein bisschen an die
Zeit von 1935 erinnert, als die Universitäten gereinigt wurden von Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten." Rabes Kommentar dazu: "Das ist nach der Kolonialisierungsthese, nach der Erfindung des ostdeutschen Migrationshintergrunds
das Ekelhafteste, was diese Debatte in den letzten dreißig Jahren zu bieten hatte."
Hier ab Minute 14.