9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.12.2023 - Gesellschaft

Auch in Deutschland hatte die Befragung dreier amerikanischer Universitätspräsidentinnen durch die republikanische Abgeordnete des Repräsentantenhauses Elise Stefanik großes Aufsehen erregt. Auf die Frage, ob Aufrufe zum Genozid gegen Juden gegen die Regeln an ihren Unis verstießen, antworteten Harvard-Präsidentin Claudine Gay, MIT-Präsidentin Sally Kornbluth und Penn-Präsidentin Liz Magill, das komme darauf an. Eine sagte gar, einschreiten müsse man erst, wenn tatsächlich Gewalt geschehe. Die Äußerungen der Präsidentinnen wurden auch als kalt und formaljuristisch kritisiert. Heinrich Wefing kommt darauf in der Zeit zurück: "Diese Halbherzigkeit steht in einem bemerkenswerten Gegensatz zu einer Entwicklung an den US-Universitäten in den vergangenen Jahren, die eher auf eine Einschränkung des Sagbaren hinauslief. Um ihren Studierenden das Gefühl zu geben, sie seien sicher, willkommen und zugehörig, haben viele Hochschulen immer restriktivere Regeln erlassen, was gesagt werden soll und was nicht. Dass nicht nur Gewalt gefährlich sei, sondern auch Worte, dass Worte selbst Gewalt sein könnten, verletzend, einschüchternd, ausgrenzend, ist zum allgegenwärtigen Dogma geworden."

Das Repräsentantenhaus hat nun in einer von Republikanern und Demokraten geteilten Resolution Antisemitismus auf Universitäts-Campus verurteilt, berichtet Andrew Solender bei Axios.com. Die Resolution hat allerdings eine bittere Spaltung unter den Demokraten offenbart: 84 Demokraten stimmten dafür, 123 dagegen.

MeToo-Vorwürfe gegen Gérard Depardieu und Frédéric Beigbeder, neue Vorwürfe auch gegen den der Pädophilie beschuldigten Schriftsteller Gabriel Matzneff. Niklas Bender kommt in der FAZ kaum noch hinterher: "Bestimmte Männlichkeitsmodelle werden in Frankreich offenbar nicht mehr akzeptiert. Die weiter offene Frage ist, welche Form die Verführung in Zukunft annehmen wird." Und vor allem: "Was ermöglicht übergriffige Verhaltensmuster?"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.12.2023 - Gesellschaft

Anders als Christian Wulff, der vor Jahren pauschal meinte, der Islam gehöre zu Deutschland, will die CDU jetzt den Satz "Muslime, die unsere Werte teilen, gehören zu Deutschland" in ihr Grundsatzprogramm schreiben. Das ist doch mal eine Vorlage, über die man diskutieren könnte, findet Volkan Agar in der taz - wenn die anderen Parteien sich denn trauen würden. "Viel zu lange haben sich deutsche Politiker parteiübergreifend notwendigen, aber mühsamen Auseinandersetzungen über 'unsere Werte' nicht gestellt. Oft genug haben sie die Regressivsten als Sprecher vielfältiger und widersprüchlicher migrantischer Communitys anerkannt, obwohl sich viele Menschen von diesen nicht repräsentiert sahen. Und sie haben Extremisten oft genug staatlich bezuschusst. ... Wie werden 'unsere Werte' eigentlich von muslimisch sozialisierten Menschen definiert, die ein Problem mit den Bekannten und Verwandten haben, die in den Juden den Ursprung allen Übels sehen? Was sagen muslimisch sozialisierte Feministinnen dazu? Queere Personen? Was sagen die Mitglieder der Parteien, auf die all das zutrifft?"

Kaum hatte Holger Friedrich, der Besitzer der Berliner Zeitung, begeistert über eine Marxismus-Konferenz an einem Parteiinstitut in China berichtet (also über "eine Zusammenkunft, die international ansonsten nur von China Daily zur Kenntnis genommen wurde", wie die FAZ süffisant bemerkte), hebt die Stimme des Ostens erneut zum historischen Bocksgesang an. Reinhard Bartz beklagt die "Verunglimpfung der ostdeutschen Identität". Ein Gespenst gehe um, und damit meint Bartz tatsächlich Marx' "Gespenst": "Offensichtlich ist die Angst vor dem Gespenst, das schon Marx und Engels zum Schreiben ihres Manifestes motivierte, doch real: Ein Gespenst, das Millionen Ostdeutsche über eine Alternative zum Kapitalismus nachdenken lässt, weil sie von ihr entweder gehört oder sie zumindest im Ansatz schon erlebt haben... Ein Gespenst, das offensichtlich Millionen Ostdeutsche erkennen lässt, dass acht Milliarden Euro Militärhilfe für die Ukraine in Wirklichkeit ein verschleiertes Konjunkturpaket für amerikanische Rüstungskonzerne sind."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.12.2023 - Gesellschaft

Die "Kontextualisierungen" der amerikanischen Uni-Präsidentinnen (unser Resümee) kommen nicht überall gut an. FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube diagnostiziert bei vielen, die sich an Universitäten - selbst bekanntlich in Harvard oder am MIT - für die Hamas stark machen, ein großes Ausmaß an Dummheit und hält fest: "An Universitäten ist ein solcher Grad an Dummheit doch eine Schande. So sehr wie die Suggestion der Harvard-Präsidentin, es gebe einen Kontext, der die Forderung, Israel auszulöschen, als freie Meinungsäußerung erträglich machen könnte. Hassrede soll also in Harvard erlaubt sein. Wehe aber, jemand verwendet dort ein falsches Pronomen oder Substantiv. Wenn Universitäten, die alles, was in ihnen gesagt wird, auf 'Mikroaggressionen' und 'Traumatisierungsgefahren' untersuchen, vor der Makroaggression eines vorgeschlagenen Genozids zurückweichen, müssen sie als verlogen bezeichnet werden."

"Lupenreine antisemitische Propaganda" nennt indes Henryk M. Broder in der Welt die Reaktion der Uni-Präsidentinnen: "Juden in Kollektivhaftung zu nehmen, ist freilich keine neue Strategie, sondern seit dem Tod des Heilands eine alte Tradition. Der moderne Antisemit hat es nicht mit der Religion, auch nicht mit der Rassenlehre, er hält sich nur an die Regeln der Political Correctness, die ihn über alle Regeln des Anstands und der Vernunft erheben. Immer auf der Seite der Opfer und extrem sensibel gegenüber Minderheiten, braucht er doch einen Sündenbock, an dem er sich dafür rächen kann, dass die Welt nicht so ist, wie er sie haben möchte. Und das sind nun einmal die Juden."

Das Problem betrifft nicht allein amerikanische Universitäten. Seit Wochen machen antisemitische Umtriebe an der von George Soros gegründeten Central European University in Wien von sich reden, auf die die "Jüdischen österreichischen HochschülerInnen" (JöH) vor einigen Tagen in einer Pressemitteilung und auf Twitter hinwiesen. Eine breitere Öffentlichkeit nahm von all dem bereits am 18. Oktober Notiz, schreibt jetzt Bernhard Weidinger in einem Blog des Standard. "An diesem Tag machte ein offener Brief eines 'Free Palestine Collective' an der CEU die Runde. Dieses ereiferte sich - keine zwei Wochen nach dem Pogrom - über den 'Mythos israelischer Opferschaft' und bekundete, anstelle irgendeiner Verurteilung des Hamas-Massakers, gar explizite Unterstützung für 'all resistances'. Die Student Union der Universität leitete dieses Pamphlet in weiterer Folge an alle Studierenden weiter. Das von einem jüdischen Studenten eingeschaltete Disziplinarkomitee der CEU kam zu dem Schluss, dass der Brief nicht den universitären Ethikcode verletze, keine Desinformation oder Hassrede enthalte und sich innerhalb der Grenzen der Meinungsfreiheit bewege."

Außerdem: Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit fordert in einem offenen Brief an alle Hochschulen nach den Ereignissen der vergangenen Monate eine "kritische Debatte" über postmoderne Ansätze, denen die Unterzeichner eine "Immunisierung gegen externe Kritik an der eigenen Forschung" und die "Bereitschaft, kritische wissenschaftliche Stimmen vom Diskurs auszuschließen" vorwerfen. Betont wird, man sei "selbstverständlich nicht dagegen, dass postkoloniales und anderes postmodernes Gedankengut an unseren Universitäten vertreten wird". In der Welt geht der Jurist Arnd Diringer einen Schritt weiter und will die Postcolonial Studies mit juristischen Mitteln abschaffen.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.12.2023 - Gesellschaft

Riesiges Aufsehen erregen bei Twitter die Äußerungen einiger Präsidentinnen der renommiertesten Universitäten der USA. Auf die Frage der republikanischen Abgeordneten Elise Stefanik, ob der Aufruf zum Genozid an Juden den Richtlinien ihrer Universitäten widerspricht, antworten sie, das hänge vom Kontext ab. Mit ja wollen sie auf die Frage der Politikerin partout nicht antworten. Der Soziologe Richard Sennett gehört zu den vielen , die das Video dieser Befragung einbinden, und er schreibt dazu: "Es würde mich interessieren, was andere über diese Aussagen denken. Soziologisch gesehen sind sie absurd und für mich moralisch verwerflich. Was ist der Grund für die Ausweichmanöver der Präsidentinnen? Das ist als wirkliche Frage gemeint."

Die Präsidentinnen finden aber auch prominente Verteidiger in der deutschen Öffentlichkeit. Die Autorin Annika Brockschmidt macht darauf aufmerksam, dass die Politikerin Stefanik eine Rechte sei und an die Theorie des "großen Austauschs" glaube: überdies richte sich ihre Frage "nach der Klassifizierung des 'Code of Conduct' der Unis - ein propagandistischer Kniff, denn es ist klar, dass in diesem juristischen Rahmen keine einfache ja/nein Antwort möglich ist. Es ist ein rhetorischer Trick." Der Historiker Philip Sarasin (Betreiber des postkolonialen Blogs Geschichte der Gegenwart) stimmt Brockschmidt zu. Auch Patrick Bahners, ehemals Feuilletonchef der FAZ doziert zum Thema: Die "Eskalationsdynamik der Genese von Genoziden unterschätzt, wer die gesamte palästinensische und propalästinensische Agitation auf das antisemitische Motiv reduziert."

Auch an deutschen Unis gab es bekanntlich antisemitische Ausschreitungen und Drohungen gegenüber jüdischen Studenten. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, spricht darüber im Interview mit Konrad Litschkos von der taz: "Das beunruhigt mich sehr. Nach dem 7. Oktober habe ich dort zunächst dröhnendes Schweigen wahrgenommen, nun erleben wir offenen Antisemitismus - nicht überall, aber eben doch zu viel. Wenn mir eine jüdische Studentin sagt, dass sie sich in einer Berliner Universität nicht mehr traut, alleine auf die Toilette zu gehen, ist das unbegreiflich. Das darf es nicht geben."

In der Jüdischen Allgemeinen fordert Schuster vor einer Konferenz der Innenminister ein stärkeres Eingreifen gegen Antisemitimus. Vieles sei aber auch schon geschehen: "Hamas und Samidoun wurden verboten, genau wie die Parole 'From the River to the Sea'; endlich wird der Kampf gegen das Islamische Zentrum Hamburg geführt. Das Signal der Innenministerkonferenz muss sein, dass dies nur der Anfang sein kann. Antisemitisches und antiliberales Gedankengut hat Wurzeln geschlagen in Deutschland."

In der SZ versucht Philipp Bovermann den "Fall Greta Thunberg" auseinanderzupflücken. Diese warnte einst in drastischen Worten vor den Folgen der Klimaerwärmung - heute wirft sie im gleichen Ton Israel einen Genozid in Gaza vor. Wie früher zieht sie Experten dazu heran, wie in einem Beitrag für die schwedische Zeitung Aftonbladet und dem Guardian. "Der Beitrag führt eine Stellungnahme von Forschern aus dem Bereich der Genozidforschung und des Völkerrechts an, die nach hasserfüllten Äußerungen israelischer Offizieller vor einem 'möglichen Genozid' in Gaza warnten - die Klimaaktivistinnen zitieren dies aber als Warnung vor einem 'sich entfaltenden' Völkermord. Ist ja auch quasi dasselbe, nicht? Den ergänzenden Hinweis, dass andere Genozidforscher es unangemessen finden, den Begriff auf die israelische Militäraktion in Gaza anzuwenden, sucht man vergeblich." Was ist also mit der Galionsfigur der weltweiten Klimabewegung passiert? "Wahrscheinlich ist Thunberg weder die engelsgleiche Verkünderin von Klimawahrheiten noch der antisemitische Dämon, zu dem sie nun vor allem in Deutschland stilisiert wird. Vielleicht ist sie nur zu selbstsicher geworden, zu schludrig, zu blind für die Gegenseite, ständig abgelenkt und frustriert und genervt - mit einem Wort: erwachsen."

Die öffentlich-rechtlichen Sender transkribieren Ihre Beiträge oft nicht mehr, wohl weil sie den von Zeitungslobbyisten erhobenen Vorwurf der "Presseähnlichkeit" fürchten. Darum bleiben strittige Äußerungen von öffentlichen Akteuren manchmal unbemerkt, wenn sie nicht von Hörern aufgegriffen werden, die einen Beitrag zufällig zur Kenntnis genommen haben. So jetzt die Schriftstellerin Anne Rabe, Autorin des Romans "Die Möglichkeit von Glück", die auf Twitter ihren Kollegen Christoph Hein attackiert. "Gestern hat die diesjährige Ostdebatte, die fraglos Abgründe offenbart hat, beinahe unbemerkt im @dlfkultur ihren absoluten Tiefpunkt erreicht. In der Sendung 'Lesart' schwadronierte der Schriftsteller Christoph Hein widerspruchslos folgendes: 'Schauen wir uns die ganzen Führungsschichten in Ostdeutschland an. Das ist immer noch zu 90 Prozent mit Westdeutschen besetzt. Da fand eine Auswechslung der Eliten statt, die so ein bisschen an die Zeit von 1935 erinnert, als die Universitäten gereinigt wurden von Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten." Rabes Kommentar dazu: "Das ist nach der Kolonialisierungsthese, nach der Erfindung des ostdeutschen Migrationshintergrunds das Ekelhafteste, was diese Debatte in den letzten dreißig Jahren zu bieten hatte." Hier ab Minute 14.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.12.2023 - Gesellschaft

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Die Soziologin Julia Bernstein ist im FR-Interview mit Klaus Walter entsetzt über das Ausmaß der "antijüdischen Stimmung" in Deutschland. Dass die deutschen Ressentiments gegen Juden allerdings nie wirklich verschwunden waren, weiß sie schon lange, sagt sie. In ihrem Buch "Zerspiegelte Welten. Antisemitismus und Sprache aus jüdischer Perspektive" schreibt sie über den alltäglichen Antisemitismus, der ihr selbst oft begegnet ist: "Ja, da gab es eine Frau, die ich sehr mochte, die ich für sehr reflektiert hielt... Eines Tages hat sie gesagt, dass sie gestern an mich denken musste. Also habe ich gefragt, wieso. Und sie meinte, 'ich war gestern auf einem Bauernhof, da habe ich gesehen, wie Hühner geschlachtet werden. Da musste ich an dich und an den Holocaust denken'. Ich war sprachlos und meinte, 'das waren doch Hühner!' Für meine Bekannte war das logisch, so eine Brücke zu bauen. Und ich konnte nicht in Worte fassen, wie unmöglich dieser Vergleich mit Tieren war, wie es sich angefühlt hat, auf einmal zum Darsteller einer rührseligen Seifenoper oder einer Horrorgeschichte zu werden."

Die palästinensische Journalistin Alena Jabarine schreibt in der SZ derweil einen persönlichen Artikel zur Situation der Palästinenser in Deutschland. Seit dem 7. Oktober würden sie weitgehend aus dem öffentlichen Diskurs verbannt, palästinensische Kultur gelte generell als etwas Bedrohliches: "Ich vermisse fundierte Analysen. Ich vermisse aber auch, dass betroffene Palästinenser nach ihrer Expertise gefragt werden. Das würde die Debatten in Deutschland nicht nur bereichern, sondern überhaupt erst komplettieren. Es ist grotesk, wie stattdessen über Menschen gesprochen, ihr Handeln, ihre Gefühlslage analysiert wird, ohne sie einzubeziehen. Warum ist das so? Vielleicht ist es die deutsche Misere: Selbst, wenn es um Solidarität gehen sollte, redet Deutschland eigentlich nur über sich selbst."

Auf Zeit Online führt Andreas Speit einen Report des Rechtsextremismus-Forschers Jan Rathje an: Dieser warnt, dass die Gefahr durch rechtsextreme Gruppen wie "Reichsbürger" und "Querdenker" immer noch unterschätzt wird. Das habe auch mit unzureichenden Begrifflichkeiten zu tun: "Rathje kritisiert nun, dass mit der allgemein verwendeten Kategorie 'Reichsbürger und Selbstverwalter' nicht genau genug beschrieben werde, mit was für einem Milieu man es da zu tun habe. Diese Kategorie sei vielmehr eine 'künstliche Abtrennung von rechts'. Während der Pandemie hätten sich jedoch alte Reichsideen bis ins Querdenken-Milieu verbreitet. Rathje schlägt als neuen Begriff 'verschwörungsideologischer Souveränismus' vor. Denn allen dieser Gruppen sei gemein, dass sie eine individuelle oder Volkssouveränität anstrebten und damit eine Ordnung, die sie selbst als natürlich verständen und die gegen die 'herrschende gesellschaftliche und politische Ordnung' wieder hergestellt werden müsse."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.12.2023 - Gesellschaft

In der FAZ stellt Kira Kramer das Visual History Archive vor, auf dem nicht nur Opfer der Schoa sondern auch Überlebende des Massakers vom 7. Oktober vom Überfall der Hamas berichten. Das ist oft schwer auszuhalten, aber man sollte dennoch zuhören, erklärt sie: Denn plötzlich sieht man "das Gesicht derer, die mittendrin waren, als der Krieg gegen Israel begann, hört ihre Stimme und ihre ganz persönliche Geschichte - und all die Abstraktion und Distanz kollabiert im Sekundenbruchteil. Man sitzt da, noch immer Hunderte Kilometer entfernt vom Krieg, aber ist plötzlich sehr nah dran, denn die blanke Angst, die ein solcher Krieg bedeutet, wird unmittelbar greifbar. In einem solchen Moment wird deutlich, wie wichtig es ist, nicht nur von Opferzahlen und Feuerpausen und freigelassenen Geiseln zu sprechen, sondern auch nach Wochen noch von Menschen wie Maor Moravia, der sich mit seiner Frau und seinen beiden Kindern am 7. Oktober in seinem Haus im Kibbuz Kfar Aza verschanzte, als die Terroristen kamen."
Stichwörter: Hamas, 7. Oktober

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.12.2023 - Gesellschaft

Stefan Laurin von den Ruhrbaronen hatte neulich darauf hingewiesen, dass sich Sharon Dodua Otoo, die einen wichtigen Preis bekommen sollte, in einem Aufruf zum Israelboykott verpflichtet hatte. Die Schriftstellerin hat sich inzwischen davon distanziert und schlägt vor, das Preisgeld für Verständigungsprojekte einzusetzen (unsere Resümees). "Honoriger hätte sich Otoo nicht verhalten können", schreibt Laurin heute und weist Kritik zurück, er hätte Gesinnungsprüfung betrieben. "Das Wissen um die Vorfälle ändert den Blick auf Gesagtes und Geschriebenes. Es wird unbequem, in der Nähe des BDS und anderer antisemitischer Kampagnen und Organisationen zu stehen. Man muss sich erklären und es kann sein, dass öffentliche Gelder nicht mehr wie gewohnt fließen. Der neue Berliner Kultursenator Joe Chialo (CDU) hat damit begonnen, die Vergabe von Geldern an Gruppen zu stoppen, die mit Antisemiten zusammenarbeiten. Das gefährdet die wirtschaftlichen Grundlagen eines Milieus, in dem mindestens ein Schicki-Micki-Antisemitismus zum guten Ton gehörte."

Im Tagesspiegel-Interview spricht der Vorsitzende der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft, Nazih Musharbash, Israel das Recht auf Selbstverteidigung zu, allerdings gehe es hier nicht gegen einen anderen Staat: "Jeder Staat hat das Recht auf Selbstverteidigung, natürlich auch Israel. Der Gaza-Streifen ist kaum größer als die Stadt Bremen, darin leben mehr als zwei Millionen Menschen. Die Menschen in Gaza werden von der Hamas-Regierung unterdrückt, sie werden als Schutzschild missbraucht. Israel konnte bisher alle konventionellen Kriege mit den arabischen Staaten binnen weniger Tage gewinnen. Nun hat das israelische Militär keinen Staat als Gegner und der Krieg dauert jetzt schon über 45 Tage mit fast 13.000 Toten. Sowohl der Angriff als auch der Verteidigungskrieg bringen nur Tod, Zerstörung und Elend mit sich und sind zudem ein Risiko für das Leben der israelischen Geiseln." Außerdem beklagt er die fehlende Empathie der deutschen Gesellschaft für palästinensisches Leid. "Die deutsche Politik erkennt unsere Trauer nicht genug an. Das muss sich ändern. Ein Arzt aus dem Emsland in meiner Nähe mit deutschem Pass war mit seinen Kindern Anfang Oktober bei seiner Familie in Gaza. Er hat noch versucht, dort herauszukommen, hat es jedoch nicht geschafft. Das Haus der Familie ist zerbombt. Alle sind tot. Wo soll deren Umfeld trauern? Ich habe große Sorge, dass die Trauer in Wut umschlägt. Wenn ich aber mit anderen trauere, kann ich Frustration und Isolation verhindern." (Anmerkung zur Fläche des Gazastreifens: Der Gazastreifen ist 365 Quadratkilometer groß und hat eine Einwohnerschaft von etwas mehr als zwei Millionen. Paris ist 105 Quadratkilometer groß und hat etwa die gleiche Einwohnerschaft.)

9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.12.2023 - Gesellschaft

Es ist eine Sebstverständlichkeit, aber vielleicht nicht für Guardian-Leser oder #MeToo-Aktivistinnen: Vergewaltigungen sind Vergewaltigungen, auch wenn sie Israelinnen angetan werden, erinnert Gaby Hinsliff in eben diesem Guardian. Mit Abscheu schreibt sie über Relativierungen in sozialen Netzwerken, wo nach Beweisen gerufen wurde: "Für diejenigen, die mit der kognitiven Dissonanz nicht umgehen können, ist es am einfachsten zu entscheiden, dass es einfach nicht passiert ist. Die Überlebenden müssen Lügner sein, ebenso wie die Ersthelfer, die berichteten, halbnackte Leichen mit Verletzungen gefunden zu haben, die ich hier nicht beschreiben werde, und die Pathologen und Frauenrechtsaktivisten und Nachrichtenagenturen, die behaupten, Fotos gezeigt bekommen zu haben, und die Botschafter, die sagen, dass sie glauben, was sie von Leichenschauhausmitarbeitern gehört haben; Lügner, allesamt. Denn wenn sie es nicht sind, was bin ich dann?"

Saba-Nur Cheema und Meron Mendel sind als Paar sowohl ExpertInnen für "antimuslimischen Rassismus" als auch für Antisemitismus. So klingt ihre aktuelle FAZ-Kolumne auch: "Die einen beklagen Antisemitismus und fehlende Empathie mit Juden, die anderen vermissen das Mitgefühl mit den Palästinensern und verurteilen eine antimuslimische Stimmung. Und alle haben auf eine Weise recht - und unrecht zugleich." Unter anderem kritisieren sie aber auch die Bestsellerautorin Deborah Feldman, die mit der Behauptung, ihre israelkritische Position werde ausgegrenzt, durch sämtliche Talkshows der Republik tingelt: "Was in dem Ruf 'free gaza from german guilt' zum Ausdruck kommt, bekommt durch Feldman den Koscher-Stempel."

Der Medienforscher Wolfgang Schulz, Inhaber des Unesco-Lehrstuhls für die Freiheit der Information und Kommunikation, fürchtet in der FAZ, dass in Deutschland eine Art proisraelischer Bekenntniszwang entsteht: "Ich persönlich bekenne mich jederzeit ohne Zögern zum Existenzrecht Israels und seinem Recht, sich zu verteidigen. Ich möchte aber nicht in einer Gesellschaft leben, in der von meinen Mitbürgern und Mitbürgerinnen erwartet wird, dasselbe zu tun. Bekenntniszwang ist immer eine Zumutung."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.11.2023 - Gesellschaft

Fassungslos angesichts des Antisemitismus, der sich seit dem 7. Oktober überall zeigt, blickt der Schriftsteller Bernhard Schlink in der SZ zurück auf die 68er-Generation und deren Umgang mit den Verbrechen der Nationalsozialisten. Relativierungen setzte diese den moralischen Imperativ entgegen: "Ob die Menschen im Nationalsozialismus die Verbrechen begangen oder gefördert oder nur von ihnen gewusst oder auch nicht gewusst haben, weil sie nicht wissen wollten, was sie doch hätten wissen können - sie haben sich auf die eine oder andere Weise unmoralisch verhalten." Das ist alles immer noch richtig, versichert Schlink, doch die moralisierende Haltung birgt auch das "Versprechen einfacher Orientierung". Die nachkommenden Generationen hätten diese Haltung übernommen, meint Schlink, wer heute moralisch argumentiere, "schwimme im breiten Strom" mit. Es vermittele "ein beglückendes Gemeinschaftsgefühl; gemeinsam mit anderen sich zu Zivilcourage zu bekennen, freitags für die Zukunft zu demonstrieren, rassistische und sexistische Auftritte zu boykottieren und den russischen Angriff auf die Ukraine zu verurteilen, ist moralisch und tut gut. Aber weder ist es noch lehrt es Zivilcourage… Zivilcourage beweist sich, wenn der breite Strom in die falsche Richtung fließt, wenn man gegen ihn steht und es einsam und unbehaglich wird. Wenn in einer Gemeinschaftsschule mit hohem Anteil muslimischer Schüler gegen Antisemitismus Stellung zu beziehen ist… Ich fürchte, dass der moralische Imperativ, der heute das Mitschwimmen im moralisierenden breiten Strom fordert, eher zum Mitschwimmen als zur Moral erzieht."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.11.2023 - Gesellschaft

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Missy-Magazin-Mitbegründerin Stefanie Lohaus hat mit "Stärker als Wut" ein Buch über die verschiedenen Positionen im Feminismus geschrieben. Es sei ein strukturelles Problem, dass intersektionale Feministinnen Jüdinnen und Juden wenig Rückhalt geben, sagt sie im taz-Gespräch: "Es ist ein kollektives Versagen. Dabei finde ich Intersektionalität ein gutes Konzept - es muss aber antisemitismuskritisch erweitert werden. Verstehen, wie Antisemitismus funktioniert und dass er sich eben spezifisch unterscheidet von Rassismus. (…) Es funktioniert gut als Anleitung, um Mehrfachdiskriminierungen zu erkennen und daraus Antidiskriminierungsmaßnahmen zu schaffen. Aber man sollte das Konzept nicht überhöhen. Es verhält sich ähnlich wie mit postkolonialen Theorien. Die haben uns enorm weitergebracht und einen Teil der Welt erklärt, aber wenn man überall nur noch Kolonien und Kolonisatoren sieht, macht das keinen Sinn."