9punkt - Die Debattenrundschau

Sphäre der Verleugnung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.12.2023. Masha Gessen bekommt ihren Preis und ihre Preisverleihung, nur etwas anders. Die Böll-Stiftung verwahrt sich dagegen, "Masha Gessen diesen Preis absprechen, gar aberkennen" zu wollen. Gessen freut sich unterdessen über die all die Journalistenanfragen, die they und them erhalten. Der Historiker Volker Weiß macht in der SZ  "brachiale Fehler" in Gessens New-Yorker-Essay aus. Und der von der FR befragte Hannah-Arendt-Biograf Thomas Meyer sieht in Gessens Gaza-Ghetto-Gleichsetzung "eine völlige Entgleisung".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.12.2023 finden Sie hier

Ideen

Die Meldungen über Masha Gessen klingen etwas widersprüchlich. Die Böll-Stiftung Bremen und Bund und die Stadt Bremen haben sich zwar aus der Preisverleihung zurückgezogen und distanzieren sich von ihrem New-Yorker-Essay (unser Resümee), aber sie bekommt den Preis, das Geld (10.000 Euro) und auch eine Preisverleihung, nur anders. Ein Twitter-Thread der Böll-Stiftung klingt geradezu euphorisch: "An der Preisverleihung nicht teilzunehmen bedeutet für uns aber ausdrücklich nicht, dass wir Masha Gessen diesen Preis absprechen, gar aberkennen wollen oder dass wir die Würdigung des Werkes in Frage stellen. Wir werden uns um ein anderes Format mit Masha Gessen bemühen, in dem ein differenzierter Dialog möglich sein kann, den wir in diesen Zeiten notwendiger brauchen denn je." Gessens differenziert zu diskutierende These in dem Essay ist bekanntlich, dass eine von Rechtsextremen beeinflusste oder manipulierte deutsche Gedenkkultur den Blick darauf versperrt, dass Israel das "Ghetto" Gaza liquidiert.

Masha Gessen selbst äußerte sich auf Twitter zunächst ungeduldig, dass sie trotz des Tohuwabohus nicht mit Presseanfragen überhäuft wird: "Kein einziger deutscher Journalist hat sich dazu geäußert. Ein US-Journalist schon. Die gesamte Berichterstattung erfolgte ohne Input/Reaktion meinerseits. Ungenauigkeiten häufen sich."

Aber dann kamen die Anfragen doch, seufzt sie zufrieden und instruiert Journalisten über das protokollarische Prozedere:


In der SZ macht der Historiker Volker Weiß in Gessens Essay nicht nur "erhebliche Schwächen", sondern teils "brachiale Fehler" aus: "So fand sich in Gessens Text zunächst die Forschung des polnischen Historikers Jan Gross durch die groteske Behauptung verzerrt wieder, die Polen hätten während der Besatzung mehr Juden ermordet als die Deutschen. Tatsächlich hatte dessen Forschung ergeben, dass während des Zweiten Weltkrieges Polen mehr Juden als Deutsche getötet hatten, was natürlich eine völlig andere Aussage ist. Der New Yorker gilt als vorbildlich für sein Fact-checking, das macht den Fauxpas umso größer. Die Passage musste nachträglich vom New Yorker korrigiert werden; Gross, den Gessen eigentlich als Beispiel für die fatale Geschichtspolitik des polnischen Staates genannt hatte, dürfte das geschadet haben. Dieser brachiale Fehler, auch aber eine sehr unscharfe Übersetzung des deutschen Begriffs 'Staatsräson' sowie die Darstellung deutscher Debatten um BDS lassen die Frage aufkommen, wie gut der Kenntnisstand Gessens über die deutsche Gesellschaft eigentlich ist. Die von ihr angeführten persönlichen Kontakte in das Berliner Kulturestablishment sind kaum repräsentativ genug, um gegen die in langen Auseinandersetzungen erarbeitete und bis heute umkämpfte deutsche Gedenkkultur zu Felde zu ziehen."

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"Zunächst einmal war Masha Gessen eine würdige Preisträgerin", meint Hannah-Arendt-Biograf Thomas Meyer im FR-Gespräch mit Michael Hesse: "Der Artikel im New Yorker stellt das infrage. Sachliche Fehler, krude Konstrukte sind das eine und gehören in einer demokratischen Gesellschaft zur Meinungsfreiheit. Die Gleichsetzungsmanie zwischen Israels Krieg in Gaza und den Taten der Nationalsozialisten ist etwas anderes. Das ist eine völlige Entgleisung, von der ich nur hoffen kann, dass dahinter kein Programm steht. Dass sich die Böll-Stiftung zurückzog, begrüße ich. Arendt als Gewährsfrau für diese Geschichtsverdrehungen fällt vollständig weg - sie ist hier bloßes Dekor." Er stellt klar: Arendt "war sicherlich keine Israel-Kritikerin in dem Sinne, dass sie das faktische Existieren Israels jemals infrage gestellt hat. Sie hat jedoch den Staatsbildungsprozess sehr kritisch begleitet und war auch der Überzeugung, dass die Art und Weise, wie Israel etabliert und mit welchen Argumenten die Staatsgründung durchgesetzt wurde, falsch waren. Die Gründung beruhte ihrer Meinung nach auf einem veralteten Nationalstaatskonzept. Aber in dem Moment, wo Israel als Staat existierte, hatte sie ein klassisch-kritisches Verhältnis zu einzelnen Politikern. Der Staat stand dann außer Frage."

In der Berliner Zeitung fragt Ulrich Seidler: "Ist der den Holocaust relativierende Gaza-Ghetto-Vergleich eine plumpe Provokation, die politisches Denken vermissen lässt? Oder sollte er die Beteiligten mit Absicht in Nöte bringen, die nun solche unwürdigen Sperenzchen nach sich ziehen? Diese Sperenzchen erzeugen jedenfalls mehr Aufmerksamkeit als die Preise selbst, geschweige denn eine würdige Debatte."

Der Rat für deutsche Rechtschreibung will Gendersternchen, Doppelpunkt und Unterstrich als "Sonderzeichen" ins amtliche Regelwerk aufnehmen, meldet Hannes Stein in der Welt und glaubt: "Die Dringlichkeit, mit der der Beschluss nun in der letzten Sitzung der laufenden Amtsperiode des Rechtschreibrats von den Gender-Befürwortern durchgesetzt werden soll, rührt wohl auch daher, dass die 'gendergerechte Sprache' immer mehr politischen Gegenwind bekommt. Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt die Gendersprache nach wie vor ab. Die Landesregierung in Sachsen hat das Gendern in öffentlichen Schreiben und Bildungseinrichtungen explizit verboten."
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Politik

Es gibt auch Consulting-Firmen für Menschenrechtsfragen. Die Firma "Löning Human Rights & Responsible Business" hat für VW eine Untersuchung durchgeführt, die zu dem Ergebnis kam, dass VW nicht von Zwangsarbeit in der uigurischen Provinz Xinjiang profiert, wo VW auf Wunsch der chinesischen Regierung ein Werk betreibt. Doch dann kam neuer Ärger, berichtet Fabian Kretschmer in der taz: "Denn die Mitarbeiter der deutschen Beratungsfirma, die die Prüfung durchgeführt hat, haben sich von den eigenen Untersuchungsergebnissen distanziert. So heißt es in einer Stellungnahme auf der Onlineplattform LinkedIn, dass niemand außer zwei Vorstandsmitgliedern der Firma 'an diesem Projekt teilgenommen, es unterstützt oder begleitet' habe. Mehrere der 20 Angestellten von 'Löning Human Rights & Responsible Business' haben zudem in individuellen Stellungnahme klargestellt: 'Ich habe weder die Annahme dieses Projekts unterstützt, noch war ich in irgendeiner Weise daran beteiligt.' Deutlicher kann man Unzufriedenheit kaum kommunizieren."
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Stichwörter: Volkswagen, Xinjiang, Uiguren

Medien

Der Axel-Springer-Verlag hat eine Kooperation mit dem ChatGPT-Anbieter Open AI gschlossen, meldet die FAZ. Für Springer soll die Vereinbarung "achtstellige Erlöse pro Jahr" bringen. Wie genau dieser Profit zustande kommen soll, wird aus dem Artikel nicht ganz klar: "Konkret erhalten Nutzer von ChatGPT im Rahmen der Kooperation von Springer und Open AI weltweit Zugang zu ausgewählten Nachrichteninhalten von Medienmarken aus dem Hause Springer wie Bild, Welt, Politico und Business Insider. Dazu gehören auch Zusammenfassungen kostenpflichtiger Inhalte, wie Springer am Mittwoch mitteilte. Zusammen mit den Inhalten des Verlagshauses werden von ChatGPT Quellenangaben und Verweise auf die entsprechenden Internetseiten der Springer-Medien ausgespielt."
Archiv: Medien
Stichwörter: ChatGPT, Axel Springer Verlag

Europa

Die Mehrheit der Täter wurde in ihrer Kindheit nie zivilisiert, sagt im NZZ-Gespräch der französische Psychiater Maurice Berger, der in seinem bisher nur auf Französisch erschienenen Buch "Die verlorenen Gebiete der Republik" antisemitische, sexistische und homophobe Gewalt vor allem unter maghrebinischen Jugendlichen untersucht hat, angesichts der zunehmenden Gewalttaten von Jugendlichen in Frankreich. Staat und Medien wirft er eine "Sphäre der Verleugnung" vor: "Eine Reihe von Medien, Soziologen und Politikern, die sich aus ideologischen Gründen weigern, die Realität zu sehen. Sie betrachten Gewalttäter als Opfer unserer hässlichen Gesellschaft. Und sie diffamieren jene, die die Realität benennen, als Faschisten. Diese Schuldzuweisung hat während Jahren verhindert, dass die Gewalt analysiert wurde und Maßnahmen dagegen getroffen wurden. Die Realitätsverweigerer sind zum großen Teil für die heutige Situation verantwortlich. (…) Mich stört vor allem das erschreckende Ausmaß der Straflosigkeit, von dem die Täter profitieren. Offensichtlich haben einige Richter nicht begriffen, dass der Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Bürger in ihren Händen liegt."

Serbien ist eine Autokratie, keine Demokratie, sagt die Politologin Marika Djolai im Tagesspiegel-Gespräch, in dem sie nicht daran glaubt, dass Aleksandar Vucic die Wahlen verlieren wird. Aber immerhin könnte Vucic Belgrad verlieren, glaubt sie: "Serbien ist ein sehr zentralistischer Staat. Alles Geld konzentriert sich in Belgrad, alle Investitionen. Es ist keineswegs ausgemacht, aber: Die Hauptstadt zu verlieren, hieße, dass Vučić wirklich Boden preisgibt, nicht nur politisch, sondern vor allem finanziell. Die Opposition hätte die Möglichkeit, einen wichtigen Teil des klientelistischen Netzes zu zerreißen, das er über die Jahre geknüpft hat. Der Zugang zu ihren Ressourcen würde schwieriger für die regierende SNS. Und es wäre ein starkes Zeichen, dass man Vučić besiegen kann. Das wäre mehr, als seit vielen Jahren jede Wahl gebracht hat."
Archiv: Europa

Geschichte

Man sollte "die Sympathie für den jüdischen Staat nicht auf historische Wahrheiten bauen, die allzu oft nur halbe sind", meint in der NZZ der Arabist Hartmut Fähndrich: "Einige Beispiele seien hier herausgegriffen: Die Balfour-Erklärung vom November 1917 wird immer wieder gern, aber eben nur halb genannt. Man muss sie in Gänze betrachten, damit beide Seiten zur Geltung kommen. Sie beinhaltet nämlich nicht nur das Versprechen, dass die britische Regierung (der das Land Palästina nicht gehörte) sich für 'die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina' ins Zeug legen werde. Sie umfasst auch die Mahnung, 'dass dabei nichts geschieht, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der in Palästina bestehenden nichtjüdischen Gemeinden . . . beeinträchtigen könnte'. Hier schon - es ist die Zeit gegen Ende des Ersten Weltkriegs - werden die Palästinenser bemerkenswerterweise wie eine Minorität als 'nichtjüdische Gemeinden' bezeichnet, also als eine Art Quantité négligeable."
Archiv: Geschichte