9punkt - Die Debattenrundschau

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04.12.2023. Der Vorwurf, Israel betreibe einen Genozid in Gaza dient vor allem einem, meint der britische Schriftsteller Howard Jacobson im Observer: der Annullierung des Holocaust. Im Spiegel kann sich der israelische Historiker Tom Segev keine Zweistaatenlösung vorstellen, solange Israelis und Palästinenser ihre Identität durch das Land definieren. Omri Boehm hält dagegen an der Idee einer Konföderation zwischen Palästinensern und Israelis fest. Im Tagesspiegel fragt der Vorsitzende der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft, Nazih Musharbash, wo Deutsch-Palästinenser hierzulande trauern können. KI zerstört das Internet, warnt die NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.12.2023 finden Sie hier

Ideen

Im Observer staunt der britische Schriftsteller Howard Jacobson, wie schnell Israelis der Vorwurf des Genozids gemacht wird. Und wie groß das Vergnügen zu sein scheint, ihnen ihren größten Schmerz vor die Füße zu werfen: "Es liegt ein sadistischer Triumphalismus darin, die Juden des Völkermordes zu beschuldigen, als ob diejenigen, die dies tun, das Gefühl hätten, endlich ihren Mann bei den Ohren zu haben. Der Sadismus besteht insbesondere darin, die Juden dort anzugreifen, wo ihre Erinnerung an den Schmerz am stärksten ist. Indem man sie nun zum Folterer und nicht mehr zum Gefolterten macht, entreißen ihnen die Angreifer ihre Qualen und stehlen ihnen nicht nur ihre Vergangenheit, sondern treten sie mit Füßen. Der Sadismus der Holocaust-Leugnung hat sich seit langem entwickelt. Die zionistischen Juden als Nazis zu bezeichnen, war ein früher Versuch, sie zu diskreditieren, indem man sie mit ihren Mördern gleichsetzte. ... Der Vorwurf des Völkermordes geht jedoch weiter als jeder dieser Vorwürfe. Für die Nazis war 'Völkermord' keine verbale Ausschmückung. 'Endlösung' bedeutete 'Endlösung'. Zeigen Sie einfach, dass die Juden eine Endlösung für jemand anderen beabsichtigen, und wir können uns vorstellen, dass eine rückwirkende Gerechtigkeit am Werk war - die Juden werden für ein Verbrechen bestraft, das sie noch nicht begangen hatten. Man nennt dies die Annullierung des Holocaust."

Propalästinensische Studenten in Philadelphia machen inzwischen klar, dass Juden nicht nur in Israel nicht sicher sind. Vor einem jüdisch geführten Falafel-Laden skandieren sie:


Der israelische Historiker Tom Segev weiß im Interview mit dem Spiegel nicht, ob Israel die Tunnel der Hamas militärisch zerstören kann. Aber vor allem versagt ihm nach dem Angriff der Hamas die Vorstellung, wie ein Frieden aussehen könnte. "Beide Völker wollen das ganze Land für sich. Eine Zweistaatenlösung wirkt wunderschön auf dem Papier, aber sie ist nur eine diplomatische Fiktion, furchtbar bequem für alle, die nicht genau wissen und nicht genau wissen wollen, was hier eigentlich los ist. Die Welt ist voll von Menschen, die ganz genau wissen, wie man diesen Konflikt lösen kann. Aber ich gehöre nicht zu ihnen. Ich sehe nicht, wie das möglich sein soll. Ich sehe einen Konflikt zwischen zwei Völkern, die beide ihre Identität durch das Land definieren, und zwar das ganze Land. Das heißt, dass jeder Kompromiss bedeuten würde, einen Teil der kollektiven Identität aufzugeben. Und ich sehe nicht, dass das passieren könnte. David Ben-Gurions Schlussfolgerung war daher einst, dass man diesen Konflikt nicht lösen kann. Man kann ihn nur managen." Nur eins sei heute klar: Der Plan Netanjahus, Frieden mit den arabischen Staaten zu schließen und die Palästinenser außen vor zu lassen, gehe nicht auf.

Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm distanziert sich im Spiegel-Gespräch mit Tobias Rapp und Lothar Gorris sowohl von den Postkolonialisten (obwohl er lobende Worte für Judith Butler findet), als auch von den rückhaltlosen Unterstützern Israels und hält weiterhin an einer Idee einer Konföderation zwischen Palästinensern und Israelis fest. "Auf der palästinensischen Seite sehe ich Hoffnung, wenn ich mir die führenden palästinisch-israelischen Politiker anschaue. Die wissen genau, was ihren jüdischen Landsleuten am 7. Oktober angetan wurde. Sie haben einen klaren Standpunkt bezogen. Und sie setzen sich nun auch zusammen mit israelischen Juden dafür ein, dass palästinisches Leben in Gaza verteidigt wird. Könnte das die Brücke sein? Es wäre die einzige, die mir einfällt."

In der taz beklagt die Autorin Andrea Scrima unter Berufung unter anderem auf Deborah Feldman ein Schwarz-Weiß-Denken im Gazakonflikt: "Die Lage ist aufgeheizt, doch es müsste möglich sein, einige Tatsachen gleichzeitig denken und aussprechen zu dürfen: das Recht Israels, sich zu verteidigen; die Tatsache, dass nach Angaben des der Hamas unterstehenden Gesundheitsministeriums in Gaza bereits über vierzehntausend Zivilisten getötet worden sind; der Horror der von Hamas verübten Gräueltaten; die Vertreibung von knapp zwei Millionen Menschen und die Zerstörung ihrer Häuser und Städte. Stattdessen wird in Gut und Böse, Schwarz und Weiß argumentiert."
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Politik

Um die israelische Linke, die größtenteils gegen Netanjahus Justiz-Reform protestiert hat, sei es seit Beginn des Krieges recht einsam geworden, erzählt der Schriftsteller Tomar Dotan-Dreyfus im FR-Interview mit Bascha Mika. Trotzdem gehe von Netanjahu immer noch eine große Gefahr für die Demokratie aus, die auch Deutschland wahrnehmen müsse: "Ich finde es merkwürdig, wenn es von deutscher Seite immer nur heißt: We stand with Israel. Mit welchem Israel denn? Man weiß zur Zeit doch gar nicht, was die Natur dieses Staates ist. Das Israel nach dem Krieg wird auf jeden Fall ein anderes sein als vor dem Krieg. Steht Deutschland noch zu Israel, wenn es ein autokratischer, autoritärer Staat sein wird? Und wenn dann die Mehrheit der Bevölkerung gegen die Regierung ist - wie ja auch schon zur Zeit -, wen unterstützt Deutschland dann? Den Nationalstaat Israel oder die israelischen Bürgerinnen und Bürger? Darüber muss sich die deutsche Regierung jetzt schon Gedanken machen. Eine Staatsräson sollte sich an Werten orientieren und nicht an Staaten, denn Staaten ändern sich."

Das Narrativ, es gehe bei dem Angriff der Hamas auf Israel um Israels Existenz, ist falsch, meint Andreas Ernst in der NZZ. "Denn die Existenz des Landes war nie wirklich infrage gestellt, weder an dem schwarzen 7. Oktober noch seither. Dieses Narrativ ist vielmehr ein Erfolg für die Hamas, weil es ihr Bedrohungspotenzial überhöht. Damit wächst ihr symbolisches Kapital - und davon profitieren Terrororganisationen mehr noch als von Sprengstoff und Raketen." Statt die ganze Hamas vom Erdboden zu tilgen, solle Israel "zur Strategie der begrenzten Anti-Terror-Operationen zurückkehren". Ein dauerhafter Kriegszustand nütze Israel nämlich nicht: "Israel sollte von seiner Strategie der Vergeltung abrücken."

Die iranische Feministin Masih Alinejad hat bekanntlich ein Treffen im Auswärtigen Amt mit der Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Luise Amtsberg, platzen lassen, weil diese das Gespräch geheimhalten wollte. Wir tragen einen Artikel von Alan Posener in Zeit online nach, der am Freitag bezweifelte, dass die angeblich vereinbarte  Geheimhaltung bei so einem Gespräch Sinn hat. Die Gesprächssituation zwischen Amtsberg und Alinejad interpretiert er anders: "Gerade weil sie so klar ausspricht, was im Iran und in Gaza Sache ist, könnte es sein, dass Alinejad bei der Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung nicht wohlgelitten ist. Denn die Islamwissenschaftlerin Amtsberg schrieb ihre Magisterarbeit über 'Feminismus im Islam anhand der palästinensischen Frauenbewegung', bei der sie gelernt habe, 'dass auch das Kopftuch ein Zeichen von Emanzipation sein kann'."

Außerdem: Birgit Schmid kritisiert in der NZZ die "#Me-Too"-Bewegung, die israelische Frauen im Stich" lasse.
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Gesellschaft

Stefan Laurin von den Ruhrbaronen hatte neulich darauf hingewiesen, dass sich Sharon Dodua Otoo, die einen wichtigen Preis bekommen sollte, in einem Aufruf zum Israelboykott verpflichtet hatte. Die Schriftstellerin hat sich inzwischen davon distanziert und schlägt vor, das Preisgeld für Verständigungsprojekte einzusetzen (unsere Resümees). "Honoriger hätte sich Otoo nicht verhalten können", schreibt Laurin heute und weist Kritik zurück, er hätte Gesinnungsprüfung betrieben. "Das Wissen um die Vorfälle ändert den Blick auf Gesagtes und Geschriebenes. Es wird unbequem, in der Nähe des BDS und anderer antisemitischer Kampagnen und Organisationen zu stehen. Man muss sich erklären und es kann sein, dass öffentliche Gelder nicht mehr wie gewohnt fließen. Der neue Berliner Kultursenator Joe Chialo (CDU) hat damit begonnen, die Vergabe von Geldern an Gruppen zu stoppen, die mit Antisemiten zusammenarbeiten. Das gefährdet die wirtschaftlichen Grundlagen eines Milieus, in dem mindestens ein Schicki-Micki-Antisemitismus zum guten Ton gehörte."

Im Tagesspiegel-Interview spricht der Vorsitzende der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft, Nazih Musharbash, Israel das Recht auf Selbstverteidigung zu, allerdings gehe es hier nicht gegen einen anderen Staat: "Jeder Staat hat das Recht auf Selbstverteidigung, natürlich auch Israel. Der Gaza-Streifen ist kaum größer als die Stadt Bremen, darin leben mehr als zwei Millionen Menschen. Die Menschen in Gaza werden von der Hamas-Regierung unterdrückt, sie werden als Schutzschild missbraucht. Israel konnte bisher alle konventionellen Kriege mit den arabischen Staaten binnen weniger Tage gewinnen. Nun hat das israelische Militär keinen Staat als Gegner und der Krieg dauert jetzt schon über 45 Tage mit fast 13.000 Toten. Sowohl der Angriff als auch der Verteidigungskrieg bringen nur Tod, Zerstörung und Elend mit sich und sind zudem ein Risiko für das Leben der israelischen Geiseln." Außerdem beklagt er die fehlende Empathie der deutschen Gesellschaft für palästinensisches Leid. "Die deutsche Politik erkennt unsere Trauer nicht genug an. Das muss sich ändern. Ein Arzt aus dem Emsland in meiner Nähe mit deutschem Pass war mit seinen Kindern Anfang Oktober bei seiner Familie in Gaza. Er hat noch versucht, dort herauszukommen, hat es jedoch nicht geschafft. Das Haus der Familie ist zerbombt. Alle sind tot. Wo soll deren Umfeld trauern? Ich habe große Sorge, dass die Trauer in Wut umschlägt. Wenn ich aber mit anderen trauere, kann ich Frustration und Isolation verhindern." (Anmerkung zur Fläche des Gazastreifens: Der Gazastreifen ist 365 Quadratkilometer groß und hat eine Einwohnerschaft von etwas mehr als zwei Millionen. Paris ist 105 Quadratkilometer groß und hat etwa die gleiche Einwohnerschaft.)
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Kulturpolitik

Nachdem der ehemalige Bundesverfassungsrichter Hans-Jürgen Papier in einer aufsehenerregenden Intervention gefordert hatte, der "Beratenden Kommission NS-Raubgut" sehr viel mehr Befugnisse zu geben (Unsere Resümees), kommt ein neues Restitutions-Gesetz weiterhin nicht zustande, schreibt Jörg Häntzschel in der SZ. Es scheitere dabei besonders am Bundesland Bayern, das ein Picasso-Gemälde nicht zur Untersuchung durch die Kommission freigeben lassen wolle und eine eigene Agenda verfolge: So schiebe Kulturstaatsministerin Claudia Roth die Schuld nicht zu Unrecht auf die Bundesländer, "doch das ist nur die halbe Wahrheit. Hätte Roth die Unterstützung ihrer FDP-Kollegen aus dem Finanz- und Justizministerium, könnte die Bundesregierung problemlos ein Gesetz verabschieden, mit dem Deutschlands unwürdiges Agieren ein für alle Mal vorbei wäre. Ja, es würde dann auch private Sammler betreffen, die vom Staat entschädigt werden müssten. Allerdings handelt es sich bei den wenigsten Raubkunstbildern um millionenschwere Meisterwerke wie 'Madame Soler'. Die meisten sind ein paar Tausend Euro wert, nicht mehr."
Archiv: Kulturpolitik

Internet

KI zerstört das Internet - und damit gleichzeitig sich selbst, warnt Adrian Lobe in der NZZ. "Was jetzt mit der Entwicklung von Sprachmodellen passiert, ist nicht bloß eine technische Einstellung im Maschinenraum einer Tech-Plattform, sondern ein Frontalangriff auf die Hyperlinkstruktur des World Wide Web. Chat-GPT weist ja schon gar keine Quellen mehr aus. ... Die immer leistungsfähigeren KI-Systeme brauchten immer mehr Daten, um verlässliche Ergebnisse zu produzieren. Doch die Plattformen drehen die Daten-Pipeline zu. X (vormals Twitter) hat ein Lese-Limit für Kurznachrichten eingeführt, Reddit seine Benutzerschnittstelle kostenpflichtig gemacht, und BBC hat wie der Guardian die Entwicklerorganisation Open AI sogar ganz blockiert. Das freie Internet errichtet überall Zäune, um zu verhindern, dass die digitale Allmende weiter abgeweidet und der Commons-Gedanken pervertiert wird. Der Flurschaden, der durch die Grenzziehungen entsteht, könnte weitaus größer sein als der einer kontrollierten Öffnung."
Archiv: Internet
Stichwörter: Künstliche Intelligenz