9punkt - Die Debattenrundschau

Der blinde Fleck

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.11.2023. Noch ein offener Brief: Im Guardian antworten Adam Tooze, Nancy Fraser und andere auf Jürgen Habermas, dem sie Einseitigkeit vorwerfen. Israel sei dabei, einen Völkermord zu begehen, deuten sie an. In der FR wirft Fintan O'Toole den USA Doppelmoral mit Blick auf die Kriege in der Ukraine und in Israel vor. Auf geschichtedergegenwart meint der Politologe Ralf Michaels, Deutschland verstecke sich hinter der Staatsräson, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Ahmad Mansour erzählt den Ruhrbaronen, was mit Migranten geschieht, die sich auf die Seite Israels stellen. Und in der SZ rät Bernhard Schlink vor dem Mitschwimmen über Moral nachzudenken.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.11.2023 finden Sie hier

Politik

Und noch ein offener Brief: Im Guardian antwortet eine Gruppe von Akademikern, darunter Adam Tooze, Nancy Fraser und Diedrich Diedrichsen, auf den Habermas-Brief der vergangenen Woche (unser Resümee), dem sie Einseitigkeit vorwerfen: "Wir sind jedoch zutiefst beunruhigt über die scheinbaren Grenzen der von den Autoren zum Ausdruck gebrachten Solidarität. Die Sorge um die Menschenwürde wird in der Erklärung nicht ausreichend auf die palästinensischen Zivilisten in Gaza ausgedehnt, denen Tod und Zerstörung bevorstehen. Es wird auch nicht auf Muslime in Deutschland angewendet oder ausgeweitet, die unter zunehmender Islamophobie leiden. Solidarität bedeutet, dass der Grundsatz der Menschenwürde für alle Menschen gelten muss." Vor allem aber lässt der Brief anklingen, Israel sei dabei, einen Völkermord zu begehen. Zitiert wird der Holocaustforscher Omer Bartov: "Wir wissen aus der Geschichte, dass es entscheidend ist, vor der Möglichkeit eines Völkermords zu warnen, bevor er auftritt, anstatt ihn erst nachträglich zu verurteilen, nachdem er stattgefunden hat."

Gerrit Bartels kommentiert den Brief im Tagesspiegel: "Obwohl die Erklärung zu Beginn den Hamas-Terror verurteilt, eher pflichtschuldigst, blendet sie ihrerseits eine Diskussion darüber aus, dass gerade das Vorgehen der Hamas am 7. Oktober genozidalen Charakter hatte, dass es ein erklärtes Ziel der Terrororganisation ist, Israel zu vernichten."

Auf SpiegelOnline erkennt Tobias Rapp in der Debatte einen "multipolaren Moment" in der akademischen Welt: "Habermas, Deitelhoff, Forst und Günther bestehen auf einer spezifisch deutschen Erfahrung - und spezifischen Konsequenzen, die daraus gezogen werden können. Einer politischen bundesrepublikanischen Kultur, 'für die im Lichte der Massenverbrechen der NS-Zeit jüdisches Leben und das Existenzrecht Israels zentrale, besonders schützenswerte Elemente sind'. Ein Partikularismus also, der vor dem Hintergrund des Holocaust ein spezielles deutsch-israelisches und ein spezielles deutsch-jüdisches Verhältnis entwirft. Der Gegenbrief dagegen zeichnet ein Bild, in dem solche Erfahrungen nicht genügend Gewicht haben, um universalistische Prinzipien aufzuwiegen. Wer den Beteiligten in den sozialen Netzwerken folgt, kann das Unverständnis spüren, das diesem deutschen Sonderweg gerade entgegenschlägt."

Fintan O'Toole wirft der amerikanischen Regierung in der FR vor, bei der Beurteilung des Gaza-Krieges und des russischen Angriffs auf die Ukraine mit zweierlei Maß zu messen. Während Russlands Vorgehen mit Vehemenz als Kriegsverbrechen verurteilt wird, darunter fallen der Entzug von Wasser, Strom und Medikamenten und die Zerstörung ziviler Infrastruktur, würden ähnliche Methoden der israelischen Regierung nur oberflächlich verurteilt, meint er: "Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die USA gewillt sind, sich selbst an die moralischen Standards zu halten, auf denen sie bei anderen bestehen - und es gibt auch kaum Anzeichen dafür, dass der Einfluss, den sie hinter den Kulissen bei ihren Verhandlungen mit Netanjahu auszuüben versuchen, vor Ort in Gaza viel bewirkt hat. Die stillschweigende moralische Argumentation der Regierung - dass ihre Unterstützung für Israels Krieg es ihr ermöglicht, palästinensische Leben zu retten, indem sie das eindämmt, was Biden bei seinem Besuch in Tel Aviv als 'eine alles verzehrende Wut' bezeichnete - scheint mehr und mehr wie Wunschdenken."
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Europa

Für den Politologen Ralf Michaels ist die Rede von der "Staatsräson" nicht mehr als eine leere Formel, wie er auf geschichtedergegenwart.ch schreibt. Mehr noch: "Eine solche Staatsräson, die als bloße abstrakte Referenz genutzt und weder durch staatliche Interessen noch durch konkrete moralische Erwägungen gerechtfertigt wird, ist nicht ein Ausdruck von 'Verantwortung', sondern umgekehrt von Verantwortungslosigkeit", meint er und wirft Deutschland vor, sich auf seine Schuld zu berufen, um im aktuellen Krieg keine eigene Position formulieren zu müssen: "Konkret unterstützt man eine Regierung, die schon in der Vergangenheit die Sicherheit ihres Landes nicht garantieren konnte und es heute vielleicht auch nicht tut. Man unterstützt mutmaßliche Völkerrechtsbrüche einer Regierung, die man vor dem 7. Oktober für ihre Unterwanderung des Rechtsstaats kritisiert hat, und riskiert damit, sowohl die Rolle des Völkerrechts insgesamt als auch die Glaubwürdigkeit Deutschlands, beides zentrale deutsche Interessen, zu unterminieren. Und man nimmt die Gefahr in Deutschland in Kauf. Es bräuchte substantielle Argumente, das zu legitimieren, aber der bloße Verweis auf die Staatsräson reicht vielen offenbar aus. Wie kann das sein?"

Migranten, die sich auf die Seite Israels stellen, müssen mit Anfeindungen und Morddrohungen rechnen, berichtet Stefan Laurin, der für die Ruhrbarone unter anderem mit Ahmad Mansour gesprochen hat. Im Moment sei die Lage "dramatisch", sagt Mansour: "'Ich fühle mich immer wieder überfordert und habe manchmal Angst. Es gibt Momente, in denen ich stark bin und andere, in denen ich zweifle. Aber das alles betrifft nicht nur diejenigen, die wie ich bekannter sind.' Auch ganz normale Muslime, die sich kritisch über die Hamas äußern, werden bedroht. Sie würden sich bei ihm melden und fragen, ob sie sich öffentlich äußern sollen. 'Ich muss darüber nachdenken, ob ich es ihnen wirklich empfehlen kann. Wenn man sagt, dass das, was am 7. Oktober geschehen ist, Terror war. So eine massive Einschüchterung habe ich in Deutschland noch nie erlebt. Mansour ist sich sicher, dass auf Deutschland eine Radikalisierungswelle zukommt, deren Folgen auch nach Ende des Krieges noch zu spüren sein werden: 'Das ebbt nicht wieder ab. Die Zahl der radikalen Islamisten auf den Straßen ist gewachsen, weil sowohl Teile der Linken als auch der Mehrheitsgesellschaft in den letzten Jahren Islamismus verharmlosen, verdrängt haben und ihnen zum Teil leider auch Rückendeckung geben.'"

Der Wahlsieg von Geert Wilders in den Niederlanden muss übrigen europäischen Ländern eine Warnung sein, ruft Thomas Kirchner in der SZ. Zu lange ignorierte man schon Bedenken in der Bevölkerung, beispielsweise in Bezug auf die Asylpolitik. Am Ende gewinnt ein Ultranationalist wie Wilders, der einen "totalen Asylstopp" inklusive der Verteidigung der niederländischen Grenze durch Soldaten fordert, meint Kirchner kopfschüttelnd: "Dies ist ein Menetekel für Europas Mitte-Parteien, auch die deutschen. Es wird Zeit, sich ernsthaft um die Sorgen der Bürger zu kümmern. Ja, auch bei der Migration. Wie kann es sein, dass sich die EU nach achtjährigem Ringen auf eine Asylreform verständigt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder nicht funktionieren, kaum etwas verändern wird? Ein 'Asylstopp' ist so absurd wie unmenschlich. Es gibt andere, humane Lösungen, die das Sterben auf dem Mittelmeer beenden und die Zuwanderung besser ordnen können. Auf die Verhandlungen mit Dritt- und Herkunftsstaaten sollte nun größtmögliche Energie verwendet werden. Oder es ist Marine Le Pen, die den nächsten großen Sieg einfährt."

In dieser desolaten politischen Situation muss Europa zu neuer Einigkeit und Stärke finden, fordert der Diplomat Wolfgang Ischinger im Tagesspiegel-Interview: "Sobald sich in Polen eine europafreundliche Regierung gebildet hat, sollten Emmanuel Macron, Olaf Scholz und Donald Tusk das Weimarer Dreieck, also die Partnerschaft zwischen Deutschland, Frankreich und Polen, wiederbeleben, und weiteren EU-Staaten eine Mitarbeit in diesem Kern-Europa anbieten."

Im Aufmacher des FAZ-Feuilletons will sich Edo Reents gar nicht ausmalen, was das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Nachtragshaushalt für die Deutsche Bahn bedeutet: "Für die Bahnsanierung fehlen aus dem von Karlsruhe gestrichenen Klima- und Transformationsfonds 12,5 Milliarden, faktisch aber wohl doppelt so viel. Insgesamt sind 80 Milliarden als Bahninvestitionen für die nächsten Jahre veranschlagt, die Hälfte davon hatte die Bundesregierung erst im September zugesagt. Wenn jetzt auch noch der Wirtschaftsstabilitätsfonds gekippt wird, was durchaus möglich ist, fallen weitere 200 Milliarden Euro weg, von denen man etliche für die Bahn gebrauchen könnte. Zur verspäteten Bereitstellung der Züge wird also die entfallende Bereitstellung von Geld kommen. Was das bedeutet, kann sich jeder ausrechnen. All die neuen Wagen werden immer weniger zum Einsatz kommen. Gleichzeitig wird das Gedränge auf den noch funktionierenden, aber irgendwann eben auch maroden Schienen immer größer."
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Ideen

Für ihre Analyse postkolonialer Theorien auf ZeitOnline hatte Julia Werthmann auch Gespräche mit hierzulande an Universitäten lehrenden Vertreterinnen des Postkolonialismus geführt, im Nachhinein wurde kein Zitat freigegeben. Werthmann setzt sich mit verschiedenen Vorwürfen an den Postkolonialismus auseinander, unter anderem mit jenem des Antisemitismus: "Diese Kritik scheint schon deshalb allzu pauschal, weil sich bei vielen postkolonialen Theoretikerinnen Einflüsse aus den jüdischen Studien nachzeichnen lassen und oft auch ein Ineinandergreifen von Rassismus und Antisemitismus betont wird. … Und dennoch lässt sich fragen, ob beide Diskriminierungen stets kongruent verlaufen. Gibt es doch etwa auch die antisemitische Verschwörungstheorie des sogenannten Finanzjudentums, die Juden dämonisiert, indem sie ihnen Allmächtigkeit unterstellt. Der indische Historiker Benjamin Zachariah, der am Georg-Eckert-Institut in Braunschweig zu Kolonialismus und Faschismus forscht, meint deshalb im Gespräch mit ZeitOnline: 'Antisemitismus ist der blinde Fleck der postkolonialen Theorie.' Vielleicht ist sie nicht gänzlich blind und doch bleibt die Frage, ob sie es nicht verfehlt, die Unterschiedlichkeit der Herabwürdigungen ausreichend zu erhellen."

Linke Theoretiker sollten sich mit manch "gedanklichem Kurzschluss" von Edward Said auseinandersetzen, fordert indes Thomas Ribi in der NZZ und erinnert unter anderem an die Empörung über das Foto aus dem Jahr 2000, das zeigt, wie Said an der Grenze zwischen Libanon und Israel einen Stein Richtung Israel warf. Heuchlerisch, meint Ribi, Saids politisches Engagement war absolut kein Geheimnis: Man "hätte wissen können, dass er ein Extremist war, für den Terrorismus als legitimes Mittel galt, wenn es um das ging, was er als Kampf für die Befreiung Palästinas bezeichnete. Der dandyhafte Gelehrte war ein Ideologe der palästinensischen Widerstandsbewegung gewesen, jahrelanges Mitglied des Exilparlaments der Palästinenser und einer der engsten Berater von Yasir Arafat." Und weiter: "Schon vor dem Osloer Vertrag hatte Said den Ton verschärft. Die Autonomiebehörde kritisierte er als 'korrupte, polizeistaatliche Autokratie', Israel als brutale 'Militärmacht'. Arafats Zusicherung, künftig auf Gewalt zu verzichten, bezeichnete er in aller Offenheit als Akt der Kollaboration mit den 'israelischen Okkupanten'. Dass der 'Kollaboration' verdächtigte Palästinenser erschossen oder gefoltert wurden, hatte er schon Ende der achtziger Jahre gerechtfertigt."

Ebenfalls in der NZZ untersucht der Philosph Reinhard K. Sprenger die Natur des Konflikts. In Bezug auf den Nahost-Konflikt konstatiert er: "Grundsätzlich ist die Frage nach dem Beginn eines Konflikts naiv: Sie ist weder sinnvoll zu diskutieren noch zu beantworten. Im sozialen Bereich sind die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge so ineinander verschachtelt, dass sich kein Anfang finden lässt - nicht ohne dem bereits Gewordenen Gewalt anzutun." Letzendlich ginge es bei der Suche nach Ursachen immer nur darum "Schuldige zu produzieren", stattdessen müsse man irgendwann "die vergiftete Vergangenheit hinter sich lassen. Sich vielmehr auf das gegenwärtige Erleben der Situation konzentrieren. Dann den Blick in die Zukunft richten, auf einen Zustand, der weniger leidvoll ist. Mehr ist nicht zu wollen. Denn Konflikte lassen sich nicht lösen. Sondern nur in Bewegung bringen. Sie lassen sich beruhigen, aber nicht beseitigen."
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Gesellschaft

Fassungslos angesichts des Antisemitismus, der sich seit dem 7. Oktober überall zeigt, blickt der Schriftsteller Bernhard Schlink in der SZ zurück auf die 68er-Generation und deren Umgang mit den Verbrechen der Nationalsozialisten. Relativierungen setzte diese den moralischen Imperativ entgegen: "Ob die Menschen im Nationalsozialismus die Verbrechen begangen oder gefördert oder nur von ihnen gewusst oder auch nicht gewusst haben, weil sie nicht wissen wollten, was sie doch hätten wissen können - sie haben sich auf die eine oder andere Weise unmoralisch verhalten." Das ist alles immer noch richtig, versichert Schlink, doch die moralisierende Haltung birgt auch das "Versprechen einfacher Orientierung". Die nachkommenden Generationen hätten diese Haltung übernommen, meint Schlink, wer heute moralisch argumentiere, "schwimme im breiten Strom" mit. Es vermittele "ein beglückendes Gemeinschaftsgefühl; gemeinsam mit anderen sich zu Zivilcourage zu bekennen, freitags für die Zukunft zu demonstrieren, rassistische und sexistische Auftritte zu boykottieren und den russischen Angriff auf die Ukraine zu verurteilen, ist moralisch und tut gut. Aber weder ist es noch lehrt es Zivilcourage… Zivilcourage beweist sich, wenn der breite Strom in die falsche Richtung fließt, wenn man gegen ihn steht und es einsam und unbehaglich wird. Wenn in einer Gemeinschaftsschule mit hohem Anteil muslimischer Schüler gegen Antisemitismus Stellung zu beziehen ist… Ich fürchte, dass der moralische Imperativ, der heute das Mitschwimmen im moralisierenden breiten Strom fordert, eher zum Mitschwimmen als zur Moral erzieht."
Archiv: Gesellschaft