9punkt - Die Debattenrundschau

Israelis, die zufällig Juden sind

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.10.2023. FAZ und taz betrachten den Nahostkonflikt von Ägypten, Iran und Libanon aus. Der Tagesspiegel staunt über die Geschwindigkeit, mit der die Brandmauern bei der extremen Linken fallen, sobald es um Israel geht. Im Observer fragt Howard Jacobson alle jene, die Israel eine Mitschuld an den Terrorattacken der Hamas geben: Galt "victim blaming" für die Linke nicht immer als Verbrechen? Die NZZ erinnert daran, wie klarsichtig Friedrich Dürrenmatt schon in den Siebzigern palästinensischen Terror benannte. Und Zeit online begrüßt die historische Wahl in Polen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.10.2023 finden Sie hier

Politik

Israel hat seine Bodenoffensive gegen die Hamas verschoben, auch weil viele palästinensische Flüchtlinge feststecken. Das liegt unter anderem daran, dass die Hamas laut dem israelischen Militär aktiv die Flucht aus Nordgaza verhindert, meldet die FAZ: "Die Hamas habe Zivilisten nicht nur davor gewarnt, in den Süden zu flüchten, sondern gezielt Konvois aufgehalten, die Menschen in Sicherheit bringen sollten, sagte Armeesprecher Jonathan Conricus am Sonntag in einem Video" auf Twitter. Auch Ägypten hält die Grenze zu Gaza geschlossen, berichtet Susanne Knaul in der taz: "Die ägyptische Sorge davor, dass sich Hamas-Kämpfer unter die Flüchtenden mischen könnten, ist begründet. Kairo hat mit den extremistischen Muslimbrüdern, die eng mit der Hamas kooperieren, genügend eigene Probleme. Die Sicherheitsbedenken sollten ernst genommen werden, doch wäre schon viel erreicht, wenn nur Kinder und Frauen ausreisen dürften. Ägypten darf sich jetzt nicht so leicht der Verantwortung entziehen."

Und der Iran? Ihm eine Beteiligung an dem Terroranschlag der Hamas nachzweisen, ist fast unmöglich, erklärt Gilda Sahebi in der taz. Und doch: "Klar ist, dass Antisemitismus und Israelhass wichtige Pfeiler der Islamischen Republik sind. Iran ist der hauptsächliche Sponsor der Hamas. All das sollte reichen, um in den westlichen Staaten zu einer Umkehr in der Iran-Politik zu führen - allerdings nicht im Sinne einer militärischen Option oder eines Kriegs; das wäre nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern würde eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes bedeuten. Umkehr in der Iran-Politik muss vielmehr bedeuten, dass es endlich spürbare und nachhaltige diplomatische Konsequenzen für das Regime geben muss. Sanktionen, Isolierung, Revolutionsgarden auf die Terrorliste."

Unbestritten ist, dass die Hisbollah im Libanon vom Iran finanziert und gesteuert wird. Sie hat angefangen, Raketen auf Israel zu schießen und droht mit einem Krieg, sollte die israelische Armee eine Bodenoffensive in Gaza durchführen, berichtet Christoph Ehrhardt in der FAZ: "Libanons Regierung ist ohnmächtig und steht unter Druck. Israel hat wiederholt erklärt, die machtlose Führung für jede kriegerische Handlung zur Verantwortung zu ziehen. Die Regierungsspitze, so berichten libanesische Insider, sei hochnervös. Ministerpräsident Najib Mikati verlor jetzt in einem Fernsehinterview die Fassung. 'Ich strebe nach Frieden, aber wie Sie wissen, liegen die Dinge nicht in meiner Hand', gibt er offenherzig zu. Als die Moderatorin nachbohrt, bricht es aus ihm heraus. 'Sind Sie im Libanon oder auf Curaçao?', antwortet er. 'Die Entscheidung über Krieg soll in den Händen der Regierung liegen?' Es klingt, als wäre das eine völlig absurde Frage."

Es ist umstritten, wie viele Juden die Katholische Kirche vor den Nazis schützte. Letzte Woche untersuchte eine internationale Konferenz an der Päpstlichen Universität Gregoriana die Rolle von Papst Pius XII. im Zweiten Weltkrieg, berichtet Matthias Rüb in der FAZ. "Als 'Blutsabbat' ist die Razzia von SS und Gestapo im Ghetto von Rom in die Geschichte eingegangen. Als Blutsabbat könnte auch der 7. Oktober 2023 in die kollektive Erinnerung der Juden eingehen. Denn auch die Hamas-Terroristen kamen am frühen Morgen des jüdischen Feiertags in der Absicht, möglichst viele Juden zu ermorden... Kardinal Pierbattista Pizzaballa, der höchste Vertreter der katholischen Kirche in Israel, sprach in einer Erklärung am Abend des 7. Oktobers jedoch nur von einer 'vom Gazastreifen ausgehenden Operation' und warnte vor den Folgen der zu erwartenden 'Reaktion der israelischen Armee'. Papst Franziskus mahnte tags darauf nach dem Angelus-Gebet auf dem Petersplatz, 'dass Terrorismus und Krieg zu keiner Lösung führen', und rief beide Seiten dazu auf, 'die Waffen niederzulegen'." Nach Protesten hat die Kirche den Hamas-Anschlag doch noch verurteilt und der Papst das Recht Israels auf Selbstverteidigung anerkannt.

Im Tagesspiegel spießt Sebastian Leber die Sympathien für die Hamas bei linken "Anti-Imperialisten" und "Anti-Kolonialisten" auf. Leber nennt das trotzkistische Netzwerk "Marx21", die Linken-Abgeordnete Christine Buchholz, die Junge Welt, die Migrantifa oder den Fernsehjournalisten Malcolm Ohanwe. Erstaunlich, wie in der Ablehnung Israels alle "Brandmauern" bei der extremen Linken fallen: Plötzlich finden sich "Akteure zusammen, die sonst eigentlich verfeindet sind: Islamisten und säkulare Linke, faschistische Graue Wölfe und Dschihadisten, Trotzkisten und Stalinisten, Reformisten und Revolutionäre, die Stumpfen und die Reflektierten, Schwulenhasser und Gruppen wie 'Queers For Palestine'. Am Ende eint sie allein der Wunsch, Israel möge von der Landkarte verschwinden."

Ist "victim blaming" nicht eins der Hauptverbrechen für die Linke, fragt der Schriftsteller Howard Jacobson im Observer. "Oder ist Opferbeschuldigung ein akademischer Luxus, den sich Juden nicht leisten können? Israelis, meine ich? Ich verstehe die Unterscheidung. Die Trennung zwischen Israel und Juden ist für den antizionistischen Diskurs grundlegend. Antisemitisch, so wird mir immer wieder versichert, ist das Letzte, was Antizionisten sind. Aber verstehen Sie, dass der Anblick von Israelis, die zufällig Juden sind, die in Autos gepfercht und in die Gefangenschaft getrieben werden, Erinnerungen an Ereignisse weckt, von denen Juden hofften, nie wieder darin verwickelt zu werden. Eine der älteren israelischen Geiseln, die zufällig Juden sind, ist eine Friedensaktivistin, die in einem Kibbuz in der Nähe des Gazastreifens lebte und kranke Menschen aus dem Gazastreifen in Krankenhäuser in Jerusalem und Tel Aviv brachte. Sie dachte, sie seien ihre Freunde. Die Erfahrung, dass sich Freunde gegen einen wenden, sobald ein Pogrom beginnt, hat sich in die Köpfe der Juden eingebrannt. 'Nie wieder', sagte die Welt nach der Befreiung der Vernichtungslager. Aber hier kehrt dieses 'Nie wieder' noch einmal in seiner ganzen Pracht zurück. Mein Vater, der kein aktiver Zionist war, vertrat die Ansicht, dass Juden niemals sicher sein würden und wir Israel als unser Rettungsboot betrachten sollten. Die bittere Ironie ist, dass wir Israel umso mehr brauchen, je unsicherer wir uns in ihm fühlen. Dass wir bis zum Tod um sein Überleben kämpfen müssen, sollte niemanden überraschen."

In der Welt meldet sich Mathias Döpfner zu den Anschlägen der Hamas zu Wort, stellt sich hinter Israel und fordert eine Neuauflage des transatlantischen Bündnisses. Außerdem empfiehlt er allen Hamas-Sympathisanten sich nochmal deren "Charta" durchzulesen. "Da steht: 'Liegen diese Glieder auch sehr fern und haben auch die Hindernisse, die die Helfershelfer des Zionismus den Dschihad-Kämpfern in den Weg gestellt haben, dazu geführt, dass der Dschihad nicht kontinuierlich fortgeführt werden kann, so strebt die Islamische Widerstandsbewegung doch danach, Gottes Versprechen wahrzumachen, ganz gleich, wie lange dies dauern mag. Der Prophet - Gott segne ihn und schenke ihm Heil -, sprach: 'Die Stunde wird kommen, da die Muslime gegen die Juden so lange kämpfen und sie töten, bis sich die Juden hinter Steinen und Bäumen verstecken. Doch die Bäume und Steine werden sprechen: 'Oh Muslim, oh Diener Allahs, hier ist ein Jude, der sich hinter mir versteckt. Komm und töte ihn!'"

In der taz ist Klaus Hillenbrand schockiert über das Desinteresse vieler Deutscher an dem Angriff auf Israel: "Die größte deutsche Demonstration für Israel zählte 2.000 Teilnehmer. Selbst das wurde schon als Erfolg gewertet. Eine Versammlung von gerade einmal 350 Menschen, die sich in Solidarität mit deutschen Juden vor einer Synagoge versammelt hatten, schaffte es bis in die Hauptnachrichtensendungen. ... Es scheint, bitte entschuldigen Sie die Wortwahl, als ginge der Krieg um Israel den in Deutschland lebenden Menschen egal welcher Couleur am Arsch vorbei."
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Geschichte

In der NZZ gibt der Historiker Philipp Ammon einen sehr ausführlichen Überblick über die Geschichte des Bergkarabach-Konflikts, der in der Gründung des Staates im vorchristlichen Zeitalter wurzelt und über viele Kriege im Mittelalter führt. In dieser Zeit wurden viele Pogrome an den Armeniern in diesem Gebiet begangen. "Durch ihren Exodus aus Nagorni Karabach sind die Armenier um einen Phantomschmerz und ist ihre Geschichte um eine Tragödie reicher geworden. Er reiht sich ein in die Geschichte der ethnischen Homogenisierungen des 20. Jahrhunderts."

1973 hielt sich die Schweiz mit Stellungnahmen zum Jom-Kippur-Krieg zurück, erinnert der Journalist Peter Bollag in der NZZ. Mit den Öl-Staaten wollte man es sich doch nicht verscherzen. Einer der wenigen "einsamen Rufer in der Wüste" war Friedrich Dürrenmatt, aus dessen damaligen Artikel Bollag zitiert. "'Zwar ist es seit Jahren salonfähig geworden, die Israeli als Faschisten abzutun und die palästinensischen Terroristen als Helden zu betrachten, die aus schierer Verzweiflung so handeln (als ob es keine Lust am Terror gäbe), aber dass sich der neue arabisch-israelische Krieg nicht so recht ins Prokrustesbett der Ideologien spannen lässt, spüren sogar die Ideologen dumpf.' Damals wie heute drohten 'die arabischen Unschuldslämmer den jüdischen Wolf zu verschlingen'."
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Stichwörter: Bergkarabach

Europa

Polen hat gewählt, die regierende PiS-Partei bleibt mit 36,8 Prozent stärkste Kraft, jedoch sieht es so aus, als könnte die Bürgerkoalition von Donald Tusk mit anderen Parteien eine Regierung bilden, erklärt der Journalist Jörg Lau in der Zeit. "Angesichts des hässlichen Wahlkampfs kann man leicht vergessen, welch ein Schlüsselland Polen in der jüngsten Geschichte für die europäische Demokratie gewesen ist." Die Regierungsbildung sollte nun kompliziert werden, Tusk hat gute Chancen, aber: "Führt all dies nicht zu einer handlungsfähigen Regierung, drohen Neuwahlen im nächsten Frühjahr. Es gibt kaum jemand in Polen, den diese Aussicht nach einem fürchterlich polarisierenden Wahlkampf begeistert." Aber vor allem "darum ist die Wahl in Polen von grundsätzlicher Bedeutung für Europa und darüber hinaus: Hier steht ein breites Bündnis der politischen Mitte gegen nationalistisch-populistische Kräfte, die sich bereits weite Teile der staatlichen Institutionen untertan gemacht haben."

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Der Tagesspiegel und die FR interviewen die amerikanische Historikerin Mary Sarotte über die Verhandlungen zur NATO-Ost-Erweiterung in den 1990ern, über die sie jüngst ein Buch veröffentlicht hat. Der Vertrag sah letztendlich ein Versprechen der USA vor, die Ukraine nicht aufzunehmen, Russland kassierte überdies noch Geld, erklärt Sarotte im FR-Interview mit Michael Heese. "Alle haben hart verhandelt, es ging um alles. (...) Die Russen haben nicht das erhalten können, was sie wollten. Dafür haben sie aber einen Haufen Geld bekommen. Moskau hat den Vertrag unterschrieben, ratifiziert und das Geld kassiert. Auf Englisch: They cashed the check. Putin interessiert sich nicht die Bohne für diese Genauigkeiten."

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