9punkt - Die Debattenrundschau

Speerspitze einer revolutionären Idee

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.07.2023. Er sei mit dem sprichwörtlichen gepackten Koffer unterm Bett aufgewachsen, hatte der bekannte jüdische Intellektuelle Fabian Wolff vor zwei Jahren in einem langen Zeit-Online-Essay geschrieben, der die deutsche Linke seinerzeit begeisterte, dabei gab es nur ein  Problem: Wolff ist ein Goj, wie er wiederum ausufernd in Zeit online darlegt. Die "Letzte Generation" hat mit der basisdemokratischen Geschichte von Umweltbewegungen nichts zu tun, sagt die Psychologin Maria-Christina Nimmerfroh in der FAS, sondern im Gegenteil: sie funktioniert strikt hierarchisch. Nützen Sanktionen eher den Sanktionierten, fragt die NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.07.2023 finden Sie hier

Gesellschaft

Wilkomirski lebt! Wie war Fabian Wolffs großer Zeit-online-Essay vor zwei Jahren im Kontext der Mbembe-Debatte von der postkolonialen Fraktion begrüßt worden (unsere Resümees)! "Meine Familiengeschichte hat mir zwei Gepäckstücke vererbt: den berühmten gepackten Koffer unterm Bett. Und eine Reisetasche, ausgepackt im 'Hotel Deutschland'", erzählte er damals, und doch mochte der kritische, linke, deutsche Jude Fabian Wolff, Abkömmling einer Familie aus der DDR-Aristokratie, BDS nicht verurteilen, im Gegenteil. Nun stellt sich heraus, dass er ein bisschen wie Max Czollek doch nicht jüdisch ist. Nachdem in letzter Zeit vermehrt Stimmen aus der jüdischen Community laut wurden, die eben das anzweifelten, entschied er sich, seine Familiengeschichte genauer zu recherchieren und fand heraus, dass seine Großmutter wohl keine Jüdin war. Wolff erfuhr erst in seiner Abitur-Zeit und ziemlich nebenbei von seinen, vermeintlich, jüdischen Vorfahren. In einem langen Essay auf Zeit online erklärt er, warum er die doch recht vage Erzählung seiner Mutter über seine jüdische Herkunft nie angezweifelt hat und versucht, seinen Kritikern zuvorzukommen: "Ich verstehe schon die erwartbare Ironie: Ein früherer Anprangerer prangert das Prangern an, als seine eigene Stunde in der Mitte des Dorfplatzes gekommen ist. Das nehme ich an." Naja, und das mit dem Koffer?

Die Wirtschaftspsychologin Maria-Christina Nimmerfroh hat sich intensiver mit der "Letzten Generation" beschäftigt. Die Organisation ist alles andere als basisdemokratisch, erklärt sie im Interview mit der FAS-Reporterin Julia Schaaf, sondern im Gegenteil extrem hierarchisch gegliedert. Dennoch schaffe sie es, eine starke Bindung bei ihren Aktivisten zu erzeugen. Dabei agieren sie offenbar wie eine Avantgarde, denn mehr als 120 Aktivisten gebe es in Deutschland nicht. Und die "Letzte Generation" sei auch keine Klimaschutzorganisation, "die Konzepte vergleicht oder eigene Stellungnahmen zu Ernährung und Energieversorgung erarbeitet. Damit beschäftigen die sich gar nicht, das wollen sie auch nicht. Sie sehen sich als Speerspitze einer revolutionären Idee. Die wollen eine gesellschaftliche Veränderung, natürlich in der Hoffnung, dass sich damit auch Klimaschutzmaßnahmen verändern. Aber die Protestformen, der zivile Widerstand, ist zum Selbstzweck geworden. Der Preis eines ÖPNV-Tickets ist für die Letzte Generation gar nicht so wichtig".

Viele Regionen der nördlichen Hemisphäre sind von nie da gewesenen Hitzewellen betroffen. Schon 2022 soll es in Europa 61.000 Hitzetote gegeben haben. Die Hitzeexpertin Henny Annette Grewe erklärt im Gespräch mit Nick Reimer von der taz, wie diese Zahlen ermittelt werden: "Die wenigsten Menschen werden nach ihrem Tod obduziert, weshalb die exakte Todesursache nicht immer bekannt ist. Zur Ermittlung der Hitzetoten wird daher ein statistisches Verfahren angewandt. Ganz vereinfacht gesagt: Es gibt Erfahrungswerte, wie viele Menschen in einem Bundesland oder einer Stadt pro Tag sterben. Wenn nun eine Hitzewelle über das Land zieht, registrieren die Behörden eine Übersterblichkeit: Mehr Menschen verlieren ihr Leben, als es 'normal' wäre, und das sind dann - mit etlichen Kontroll- und Sicherungsfaktoren überprüft - die hitzebedingten Todesfälle."

Der Deutsche Rechtschreibrat hat sich neulich vorsichtig gegen das Gendern ausgeprochen (unsere Resümees). Nun müsste das Gendern an Schulen und Universitäten eigentlich unterbunden werden, meint Heike Schmoll im Leitartikel der FAZ. Aber "an den Universitäten herrscht mancherorts geradezu ein Genderzwang. Das gilt etwa für eine Berliner Universität, die Anträge auf universitätseigene Gelder nur annimmt, wenn sie gegendert sind. Einzelne Dozenten und Professoren drohen mit Punktabzug in Klausuren, wenn nicht gegendert wird, oder sie verlängern befristete Verträge nicht, weil ein Mitarbeiter sich irgendwo schriftlich gegen das Gendern geäußert hat. Das ist Gesinnungsterror und hat mit Wissenschaftsfreiheit nichts zu tun."
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Internet

Die Fortschritte der Künstlichen Intelligenz und die Möglichkeit, immer täuschenderer Nachahmung von Personen - also etwa von Schauspielern - werfen neue rechtliche Fragen auf, schreibt der Rechtsprofessor Jannis Lennartz in der FAZ. Während es klar sei, dass es strafbar ist, etwa Politikern Äußerungen in den Mund zu schieben, die sie nicht getan haben, sei die Lage bei fiktiven Werken komplizierter: "Ähnlich dem Urheberrecht geht es darum, dass etwas - beim Urheberrecht ein Werk, beim Persönlichkeitsrecht ein natürliches Merkmal - durch Dritte auf eine Art und Weise verwendet wird, der die Person, der es zugeordnet ist, nicht zugestimmt hat. Während das Urheberrecht unerlaubte Verwendungen von Werken begrenzt, ist der rechtliche Rahmen für die Verwendung natürlicher Merkmale unsicher. Es ist unklar, ob ich an digitalen Repräsentationen meines Leibes die gleichen Rechte haben sollte wie an solchen meines Geistes."
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Geschichte

Ausführlich legt Ute Frevert, Autorin des Buchs "Mächtige Gefühle", nochmal die "gefühlspolitischen" Begründungen dar, mit denen Wladimir Putin seinen Krieg gegen die Ukraine rechtfertigte. Wie viel küger war doch da seinerzeit Bismarck: "Mit der Rücksichtnahme auf die Gefühle anderer handelte Bismarck nicht bloß vernünftig, nämlich verantwortungsvoll-vorausschauend. Er war auch hellsichtig genug, um zu wissen, dass Gefühle - hier das Gefühl der Demütigung und Selbstwertkränkung - ein mächtiger Treiber sozialen Handelns waren, und man sie als politischen Faktor ernst nehmen musste." Und zum Abschluss ihres Artikel stellt die bekannte Historikerin glatt noch die Frage: "Was nun haben Bismarck und Putin in puncto Gefühlspolitik gemein? Und was könnte Putin von Bismarck lernen?"
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Europa

Republikweit macht die Geschichte der Lehrerin Laura Nickel und ihres Kollegen Max Teske von sich reden, die den Rechtsextremismus an Schulen in Burg, Brandenburg, angeprangert hatten (unsere Resümees). Sie haben jetzt um Versetzung innerhalb Brandenburgs gebeten. Anfangs hatte es nach ihrem Brandbrief Solidarität gegeben, berichtet Daniel Schulz in der taz: "Diese volle Solidarität wurde schnell weniger, schwand zu einer Dreiviertelsolidarität, einer halben Solidarität, einer Solidarität mit Bedingungen. Kollegen grüßten nicht mehr, sagen die beiden Lehrer, und manche, die auf ihrer Seite seien, äußerten das aus Angst nicht. Das Schulamt Cottbus wies sie an, nicht mehr mit der Presse zu reden. Nickel und Teske sagten, von der Regierung aus Potsdam sei kaum Hilfe gekommen."
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Religion

Es sind inzwischen so viele Menschen aus den Kirchen ausgetreten, dass sie nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren. Da drängt sich die Frage auf, ob den Kirchen in Deutschland nicht die Privilegien gestrichen werden sollten, schreibt Wirtschaftskolumnist Rainer Hank in der FAS. Dies gilt auch für karitative Einrichtungen wie Krankenhäuser und Kindergärten, die der Caritas oder der Diakonie zugeordnet sind. Theologen sehen eine solche Diskussion zwar kritisch, weil der sozialarbeiterische Aspekt von Kirche verloren ginge. Aber das ist für Hank ein Scheinargument: "Was viele nicht wissen: Die kirchliche Nächstenliebe speist sich nicht mit kirchlichem Geld, sondern zum weitaus größten Teil aus Zuwendungen des Staats, aus Gebühren der Kunden (Eltern, Pflegebedürftige, Kranke) und aus Spenden. Ein katholischer Kindergarten erhält Mittel vom Staat und nimmt Preise von den Eltern. Das Gehalt der Erzieherinnen wird zwar formal von der Kirche bezahlt, die es sich aber vom Staat zurückholt."
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Stichwörter: Kirchenaustritte

Politik

Marco Kauffmann Bossart denkt in der NZZ über den Umgang mit autoritären Staaten nach. Sanktionen sind ein beliebtes Mittel der Politik, um menschenrechtsfeindliche Regimes in ihre Schranken zu weisen, dieses Vorgehen hat aber durchaus Nachteile: "Bisweilen entpuppen sich Sanktionen aber nicht bloß als wirkungslos, sie helfen sogar dem mit Sanktionen belegten Regime. Sie stärken seinen Status als angebliches Opfer unbotmäßiger westlicher Druckversuche auf sein Land. Zudem erlauben sie es Autokraten, von eigenem Versagen abzulenken...Oft verfängt diese Rhetorik und bindet das Volk stärker an die Führung." Auf keinen Fall sollten bestehende Sanktionen aufgehoben werden, meint der Kritiker, trotzdem sollte man sich für andere Lösungen öffnen und beispielsweise verstärkt auf Dialog setzen: "Nicht ausgeschlossen ist, dass es im Austausch mit totalitären Staaten gelingt, den pragmatischen Flügel der Elite zu stärken...Auch repressive Regime stellen keinen monolithischen Block dar."
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Stichwörter: Sanktionen