9punkt - Die Debattenrundschau

Die Küche sehen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.07.2020. "Srebrenica darf sich nicht wiederholen", hat Heiko Maas gerade gesagt. Doch, darf es: unter den Augen der Weltpolitik wiederholt es sich gerade potenziert in Syrien, meint Dominic Johnson in der taz. Im Observer porträtiert Nick Cohen seine Kollegin Anne Applebaum, die mit ansehen musste, wie ihre ehemaligen Freunde Brexit, Populismus und Trump ermöglichten. In der NZZ ist Ulrike Ackermann bestürzt über den historischen Reinheitswahn der heutigen AntirassistInnen. In Zeit online denkt Peter Pomerantsev über Meinungsfreiheit heute nach.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.07.2020 finden Sie hier

Europa

Susanna Jorek forscht zur Dekolonisierung der Stadt Bristol, wo jüngst die Statue des Sklavenhändlers und die Stadt prägenden "Philanthropen" Edward Colston gestürzt wurde. Ein Großteil der Bevölkerung besteht heute aus Nachfahren von Sklaven, auf deren Ausbeutung der einstige Reichtum der Stadt begründet war. Die Dekolonisierung muss ein Dialog sein, meint Jorek in der taz: "Bristols Bürgermeister Marvin Rees ist der erste direkt gewählte Schwarze Bürgermeister Europas. Er bezeichnetet die Statue als Affront gegen einen Teil der Bevölkerung in Bristol, sich selbst eingeschlossen. Für Rees, der afrokaribischer Abstammung ist, wäre es denkbar, dass Colston seine Vorfahren verschifft hatte. So könne er als Bürgermeister Vandalismus zwar nicht gutheißen, aber er sehe auch die Bedeutung des Falls der Statue."

Kaczynskis "Kugelschreiber" (also willenloser Unterzeichner von Gesetzen) Andrzej Duda hat die polnischen Präsidentschaftswahlen gewonnen. Aber immerhin, schreibt Christoph von Marschall in einem ersten Kommentar für den Tagesspiegel: "Der bürgerlich-liberalen Opposition ist eine Aufholjagd gelungen, auf die sie stolz sein kann - und mit der sie Europa und der Welt zeigt, dass es ein starkes, anderes Polen als das der PiS gibt, mit dem zu rechnen ist."

Eine "Kampfansage" sei die Umwidmung der Hagia Sophia in eine Moschee, schreibt Thomas Avenarius in der SZ. In der taz berichtet Jürgen Gottschlich. Und bei Twitter hat hat Ahmad Mansour einen Widerspruch zwischen der englischsprachigen und der arabischsprachigen Erklärung Erdogans zu seinem Schritt bemerkt:

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Politik

"Srebrenica darf sich niemals wiederholen", hat Außenminister Heiko Maas gerade gesagt. taz-Redakteur Dominic Johnson fragt sicherheitshalber nach: "'Niemals wiederholen?' Der Syrienkrieg ist eine Wiederholung des Horrors des Jugoslawienkrieges in vielfacher Dimension. Wenn der Völkermord von Srebrenica ein Weckruf für die Welt war, wurde er entweder nicht gehört, oder die Welt ist wieder eingeschlafen. Die ausgiebig diskutierte 'Schutzverantwortung' der Weltgemeinschaft für Menschen, die den eigenen Regierenden schutzlos ausgesetzt sind, blieb eine Totgeburt."

China arbeitet bei der Unterdrückung der uigurische Bevölkerung in Xinjiang auch mit Geburtenkontrolle, vermutet Mei Fong - Autorin eines Buchs über die chinesische Ein-Kind-Politik und ehemalige Korrespondentin des Wall Street Journal - in Atlantic: "Uigurische Frauen, die in Internierungslagern gefangen gehalten wurden, haben berichtet, dass ihnen Injektionen verabreicht wurden, die ihren Menstruationszyklus veränderten oder zum Stillstand brachten. In mehreren Medien wurde auch berichtet, dass uigurischen Frauen zwangsweise Verhütungsmittel gegeben wurden." Außerdem: Wer China wirklich verstehen will, muss die futuristischen Romane von Liu Cixin lesen, meint Niall Ferguson in seiner NZZ-Kolumne.
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Ideen

Auf Zeit online denkt der Politikwissenschaftler Peter Pomerantsev darüber nach, wie sehr sich die Bedeutung von Meinungsfreiheit geändert hat: In der Sowjetunion konnten seine Eltern nur unter größter Gefahr kritische Medien hören oder lesen. Heute nutzen Propagandisten die sozialen Medien, die mehr Meinungsfreiheit erlauben als je möglich war auf der Welt, um die Wahrheit zu untergraben. Dennoch will er Onlinekommentare nicht regulieren. Statt dessen müsse das Internet transparenter werden - das heißt, wir müssen wissen, warum wir bestimmte Inhalte sehen, andere nicht. Und wir "müssen wissen, ob ein Account auf Twitter der eines Bots oder einer echten Person ist; ob ein Inhalt sich organisch verbreitet oder von Trollen verstärkt wird; wer hinter einer vorgeblichen 'Nachrichten'-Website steckt. Anonymität im Netz ist für Individuen eine gute und oft aus Sicherheitsgründen notwendige Sache. Verboten werden sollten jedoch massenhafte, koordinierte Aktivitäten von anonymisierten Trollfabriken. Wir sollten Desinformation darum auch nicht primär als Inhalt verstehen, sondern als desinformierende Taktik. Die Inhalte, die Trollfabriken lancieren, sind oftmals gar nicht faktisch falsch. Ihr Einsatz zur Emotionalisierung ist das eigentliche Problem. Desinformierend an diesen Aktivitäten ist also das auf Täuschen abzielende Verhalten - und das lässt sich regulieren. ... Das Netz muss ähnlich wie ein Restaurant funktionieren, in dem wir durch eine Glasscheibe hindurch die Küche sehen können und wer dort welche Speisen zubereitet. Eine Regulierung, die auf Transparenz beruht, ist immer noch von den Grundsätzen der Meinungsfreiheit und des Rechts auf Information erfüllt, aktualisiert sie aber für eine neue Welt."

Die Mbembe-Debatte ist immer noch nicht zu Ende. Nun melden sich die Germanistin Irit Dekel und die Anthropologin Esra Özyürek in Zeit online zu Wort, die im Antisemitismusvorwurf gegen Mbembe ein "perfides Ablenkungsmanöver" sehen: "Wir gehen davon aus, dass in Deutschland der Vorwurf des Antisemitismus zu einem Instrument geworden ist, um linke und marginalisierte Positionen, gerade wenn sie von People of Color, Juden, Afrikanern, Muslimen, Nichtdeutschen und gerade auch Frauen vertreten werden, zum Schweigen zu bringen. Dies geschieht, indem die Definition von Antisemitismus zugleich eingeengt wie auch ausgeweitet wird. So wird der historische und aktuelle Rassismus gegen andere Minderheiten nicht mehr oder nur noch viel schwieriger sagbar."

Mbembe wurde alles andere als zum Schweigen gebracht, im Gegenteil, er bekam durch die Debatte mehr Publizität als je zuvor, antwortet Stefan Laurin in den Ruhrbaronen: "Mbembe veröffentlichte Gastbeiträge, unter anderem in der Zeit, gab zahlreiche Interviews und erreichte so wesentlich mehr Menschen, als es bei einem Vortrag in einer ehemaligen Industriehalle in Bochum der Fall gewesen wäre. Kein Kritiker Mbembes nahm übrigens an der Präsenz Mbembes in den Medien Anstoß, im Gegenteil: Seine Beiträge wurden aufgegriffen und diskutiert."

Die Freiheitsforscherin Ulrike Ackermann ist in der NZZ bestürzt über die Geschichtspolitik der AntirassistInnen, die nicht nur Statuen von Sklavenhändlern, sondern auch von Philosophen der Aufklärung stürzen und die Überbleibsel der Geschichte nach ihrer Idee umgestalten wollen: "Der Wunsch nach Eindeutigkeit und Einheitlichkeit, nach Reinheit und Reinigung hat sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern ausgebreitet. Verletzte Gefühle einer Gruppe wiegen plötzlich schwerer als die Prinzipien und die Ausübung der Kunst-, Wissenschafts- und Meinungsfreiheit. (...) Das ursprüngliche Ansinnen ist totalitär geworden und wäre letztlich eine Entsorgung der Vergangenheit."

Nick Cohen porträtiert im Observer die Publizistin und Historikerin Anne Applebaum, die aus dem republikanischen Adel der USA kommt und nun zugeben muss, dass all ihre ehemaligen Freunde in Polen, England und den USA es sind, die Brexit, Populismus und Trump ermöglichten: "Sie schnaubt so laut, dass es meilenweit um ihr polnisches Heim zu hören sein muss, als ich die Formulierung des pro-Brexit-Journalisten und Autors David Goodhart erwähne, dass dass wir einen Aufstand der 'Menschen von irgendwo' gegen die 'Menschen von nirgendwo' erleben - übrigens eine moderne Variante der alten kommunistischen Verurteilung der 'wurzellosen Kosmopoliten'. Nein, hier kämpft ein Teil der Elite gegen einen anderen Teil der Elite. Brexit war ein Elitenprojekt. 'Das Spiel bestand darin, alle anderen dazu zu bringen mitzumachen.' Sollen all die Tories aus dem Süden zu den unterdrückten Massen gehören?  'Und wer, glauben Sie, hat die Kampagne finanziert?'"

Außerdem: Die Netz- und Popkulturredakteurin der taz Carolina Schwarz spottet über den Aufruf der 150 englischen und amerikanischen Intellektuellen für ein zivileres Debattenklima ("A Letter on Justice and Open Debate", unser Resümee).
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