9punkt - Die Debattenrundschau

Bis zum Ende Zar

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.02.2020. Cui bono, fragt der ehemalige Diplomat Rudolf G. Adam in der NZZ: Wer profitiert vom Brexit? "Finanzdienstleister profitieren vom Brexit. Ihr Hauptgeschäft liegt ohnehin jenseits von Europa." Und Sinn Fein profitiert, ergänzt politico.eu. Die Salonkolumnisten erklären, was "Ökomodernismus" ist. In der FAZ schreibt Viktor Jerofejew über Wladimir Putins Verfassungsänderung. Und bei der Deutschen Welle gibt's nach wie vor Ärger.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.02.2020 finden Sie hier

Europa

Neue Erfolge der linksnationalistischen Partei Sinn Fein könnten die Wiederwahl des irischen Premierministers Leo Varadkar gefährden, berichtet Naomi O'Leary bei politico.eu. Die in der Republik Irland und Nordirland operierende Partei könnte vom Brexit profitieren: "Das Brexit-Referendum im Vereinigten Königreich hat den Kompromiss über den konstitutionellen Status des Nordens, der seit dem Friedensschluss von 1998 gehalten hatte, destabilisiert und eine neue Diskussion über Vereinigung ins Zentrum gerückt. Die Unterstützung für ein Ende der Teilung ist in Umfragen stark angestiegen und es wird weithin erwartetet, dass ein Referendum zu diesem Thema nur eine Frage der Zeit sei."

In der NZZ sieht der ehemalige Diplomat Rudolf G. Adam nach dem Brexit wenig Chancen für einen Vertrag mit den Briten bis zum Ende des Jahres. Aber ist der überhaupt gewollt? Adam stellt noch einmal klar, dass der Brexit nicht von Abgehängten initiiert wurde: "Die Wortführer des 'Leave' kommen aus der City of London. Nigel Farage war zwanzig Jahre lang Rohstoffmakler, bevor er seine Berufung zur Politik entdeckte. Jacob Rees-Mogg verdient sein Geld als Anlageberater und Vermögensverwalter. Das Vermögen von Arron Banks, Mitinitiator der Leave-Bewegung und Geldgeber von Farage, wird auf über 100 Millionen Pfund geschätzt. Boris Johnson selbst war acht Jahre lang Bürgermeister von London und ist bestens in der City vernetzt. Größen aus der City unterstützen ihn mit Spenden. Sajid Javid, der derzeitige Finanzminister, war achtzehn Jahre lang Banker. Finanzdienstleister profitieren vom Brexit. Ihr Hauptgeschäft liegt ohnehin jenseits von Europa. Sie entziehen sich mit dem Brexit dem wachsenden Zugriff einer EU-Finanzaufsicht."

Außerdem: Der Drehbuchautor und Dozent Adam Ganz schreibt in der taz ein Psychogramm über Boris Johnson.

Viktor Jerofejew meint in der FAZ, dass es Wladimir Putin mit seiner jüngsten Verfassungsänderung vor allem um stilistische Fragen geht - und natürlich auch um Absicherung seiner selbst: "Er ist ja bereits volle zwanzig Jahre an der Macht. Er glänzt nicht gerade mit innenpolitischen Erfolgen, die Wirtschaft stagniert, die jungen Menschen in den großen Städten haben sich schon rein stilistisch von Putin entfernt: ein anderer sprachlicher Diskurs, andere Werte. Putin beherrscht ja nicht einmal das Internet, er stützt sich auf die Berichte der Geheimdienste. Der überreife Putin - das ist schon der späte Putin, der sich aus Altersgründen dem Niedergang zuneigt, ungeachtet dessen, dass er bis zum Ende Zar sein wird."
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Politik

In einem sehr ausführlichen Interview mit Daniel Ryser von republik.ch begründet der Uno-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, warum er sich so vehement für Julian Assange einsetzt. Er sei psychologischer Folter ausgesetzt, sein Vergewaltigungsverfahren sei von schwedischen Behörden willentlich verschleppt und manipuliert worden, und "er wird kein rechtsstaatliches Verfahren bekommen. Auch deswegen darf er nicht ausgeliefert werden. Assange wird vor ein Geschworenengericht in Alexandria, Virginia, kommen. Vor den berüchtigten 'Espionage Court', wo die USA alle National-Security-Fälle führt. Der Ort ist kein Zufall, denn die Geschworenen müssen jeweils proportional zur lokalen Bevölkerung ausgewählt werden, und in Alexandria arbeiten 85 Prozent der Einwohner bei der National-Security-Community, also bei der CIA, der NSA, dem Verteidigungsdepartement und dem Außenministerium."
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Stichwörter: Assange, Julian, Folter

Gesellschaft

Wer Atomenergie verteidigt, wird von Klimaaktivisten oft beschuldigt, "rechts" und Lobbyist zu sein. Anna Veronika Wendland wehrt sich bei den Salonkolumnisten gegen diesen Vorwurf. Sie sei "Ökomodernistin": "Ökomodernisten ... verstehen Technologien wie Kernenergie oder Grüne Gentechnik nicht als Teil des Problems, sondern als Teil der Lösung. Sie erblicken in der Kernenergie jenen energiedichten Prozess, den man für die Dekarbonisierung von Industriegesellschaften benötigt. Statt für Demontage und Degrowth plädieren sie für Weiterentwicklung der industriellen Moderne. Ökomodernisten sind auch gar nicht prinzipiell gegen den Ausbau erneuerbarer Energien; sie kritisieren nur die völlig übersteigerten Hoffnungen, die in Deutschland ausgerechnet auf unzuverlässig produzierenden regenerativen Erzeugern ruhen, und plädieren für einen nuklear-erneuerbaren Energiemix."

In der Türkei versucht Präsident Recep Tayyip Erdogan ein Gesetz durchzubringen, dass Vergewaltigern Straffreiheit zusichert, wenn der Altersunterschied nicht größer als 15 Jahre war, das Opfer keine Strafanzeige gestellt und den Täter geheiratet hat, berichtet Susanne Güsten im Tagesspiegel: "Erdogans Regierungspartei AKP betont, der Staat müsste verhindern, dass die Kollision der modernen Strafgesetze mit der Tradition der Verheiratung von Minderjährigen tausende Familien ins Unglück stürze. Frauenrechtlerinnen sprechen dagegen von einem Versuch, eine konservative Familienpolitik durchzusetzen, um die Türken dazu zu bringen, früh zu heiraten und möglichst viele Kinder in die Welt zu setzen."
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Medien

Neulich wurde ausgerechnet im Guardian über Missstände in der Deutschen Welle berichtet (unsere Resümees). Die Leitung des Senders gab sich zwar gesprächsbereit, wies die Vorwürfe aber zurück. Nun haben erneut 250 Mitarbeiter des Staatssenders einen Brief an die Intendanz geschickt, berichteten am Samstag Pascale Müller und Juliane Loeffler in Buzzfeed Deutschland. Darin heißt es: "Wir möchten unser großes Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, dass die Geschäftsleitung der DW versucht, die gegen sie erhobenen Vorwürfe zu leugnen und herunterzuspielen, und verurteilen Ihre Reaktion auf die gegenwärtige Berichterstattung." Peter Weissenburger berichtet nun in der taz von einer Reaktion Peter Limbourgs, des Intendanten der Deutschen Welle, der in einer Mail schreibt: "Wenn sich offenbar mehr als 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter veranlasst sehen, sich anonym an den Intendanten zu wenden, scheint tatsächlich einiges nicht zu funktionieren."

Außerdem: Die Welt am Sonntag meldet, dass der Berliner-Zeitung-Verleger Holger Friedrich bereits 1985, also vor seiner Verpflichtung als Stasi-IM (unsere Resümees), eine Kollegin beschuldigt haben soll, dass sie die DDR verlassen wolle. "Zu dem Sachverhalt liegen Welt am Sonntag eidesstattliche Versicherungen und Schilderungen von Zeitzeugen vor."
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