Vom Nachttisch geräumt

Wer darf Mensch heißen?

10.11.2015. Gedanken zu den Chassidim als Abwehr aufklärerischer Kritik.
Seit 2001 erscheint die Martin-Buber-Werkausgabe. 15 Bände sind es bereits. Geplant sind 21 Bände in 24 Büchern plus einem Ergänzungsband mit Register. Herausgegeben wird die monumentale Edition im Auftrag der Heinrich Heine Universität Düsseldorf und der Israel Academy of Sciences and Humanities von Paul Mendes-Flohr und Bernd Witte. So jedenfalls der aktuelle Stand. Wer sich für die Vorgeschichte interessiert, der lese im Internet. Seit Ende Oktober liegt der Band "Chassidismus III" vor. Sein Herausgeber Ran HaCohen wurde 1964 geboren. Er ist vor allem als wissenschaftlicher Übersetzer tätig und bekannt für seine Kritik an der Politik der israelischen Regierung. Aber davon sei jetzt nicht die Rede. Auch bei der Lektüre der chassidischen Geschichten stoppe ich bei der Frage: Was ist ein Mensch? Es ist die Nummer 638 der 1284 Erzählungen, Legenden, Anekdoten dieses Bandes.

Die Frage wird hier etwas anders formuliert: "Wer darf Mensch heißen?" lautet sie und die Geschichte geht so: "Über das Schriftwort: 'Ein Mensch, wenn er von euch dem Herrn eine Nahung darnaht…' sprach der Riziner: 'Erst wer sich Gott darbringt, darf Mensch heißen.'" Der Erläuterungsband klärt uns über Varianten der Geschichte in den verschiedenen Publikationen Bubers auf und er nennt uns Bubers Quelle. Zur inhaltlichen Erläuterung trägt er nichts bei. Wer mit der Buberschen Übersetzung der Stelle Leviticus 1,2 nicht klarkommt, kann zum Beispiel bei Luther im 3. Buch Mose nachschlagen und findet dort etwas ganz anderes: "Welcher unter euch dem HERRN ein Opfer tun will,…"

Aber sprechen wir nicht von richtigen oder falschen Übersetzungen. Das Auffälligste an der chassidischen Fragestellung ist , dass nicht der Mensch definiert wird, sondern dass gesagt wird, was ihn zum Menschen macht. Das ist etwas ganz anderes als der Satz "all men are created equal…", mit dem Thomas Jefferson 1776 den zweiten Paragraphen der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten beginnen ließ. In Thomas Paines im Januar 1776 erschienenem ungemein erfolgreichen Pamphlet "Common Sense" hieß es: "All men are by nature equally free and independent. Such equality is necessary in order to create a free government." Die Annahme, dass Menschen gleichermaßen frei und unabhängig sind, ist nötig, um eine freie Regierung zu schaffen. Sie definiert also nicht den Menschen, sondern sie sagt, wie er, will man einen bestimmten Zweck erreichen, beschaffen sein muss.

Noch deutlicher wird das, wenn man weiß, dass es in Jeffersons Entwurf geheißen hatte: "We hold these truths to be sacred and un-deniable..." Es war Benjamin Franklin, der das änderte in "We hold these truths to be self-evident." Ein Akt der Säkularisierung. Aber auch ein Betrug, denn evident ist die Gleichheit der Menschen nicht.

Was hat das alles mit den Chassidim zu tun? Nichts. Es steht hier als Kontrastmittel, um mir deutlich zu machen, dass für die Chassidim ein Mensch erst dann ein Mensch war, wenn er Gott wohlgefällig war. Dazu genügte es nicht, Gott Opfer zu bringen. Man musste bereit sein, sich selbst ihm zu opfern. Es geht gerade nicht darum, eine Gesellschaft freier, unabhängiger Menschen zu schaffen, sondern eine von Opfern oder doch Opferbereiten. Leider weiß ich nichts über die Entstehungsgeschichte von Nummer 638. Dass der Mensch erst ein Mensch ist, wenn er sich Gott opfert, ist eine sehr alte in vielen Glaubenswelten auftretende Überzeugung. Zahlreiche Fromme und Unfromme sehen darin geradezu den Kern einer jeden Religion. So alt der Gedanke ist, so interessant wäre es doch zu wissen, ob die Formulierung der Chassidim nicht vielleicht doch entstanden ist gewissermaßen von Angesicht zu Angesicht mit der säkularen Vorstellung, dass der Mensch sich nicht mit Gott, sondern mit den anderen Menschen in Beziehung setzen muss, um ein Mensch zu werden. Der chassidische Radikalismus wäre dann ein abwehrendes Auftrumpfen gegen aufklärerische Kritik.

Martin Buber: Chassidismus III - Die Erzählungen der Chassidim (Martin Buber Werkausgabe), in zwei Büchern herausgegeben von Ran HaCohen, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2015, 1314 Seiten, 348 Euro