Vom Nachttisch geräumt

Systemphilosophie als bürgerliche Baukunst

Von Arno Widmann
01.11.2015. Die wohl erste illustrierte Ausgabe eines Hauptwerkes der Ästhetik: Immanuel Kants "Kritik der Urteilskraft" von Andrea Büttner.
Es ist das Nächstliegende, aber soweit ich sehe noch nie getane: eine illustrierte Ausgabe von Kants Kritik der Urteilskraft. Keine Comicversion. Sondern eine vollständige Ausgabe der ersten Auflage von 1790, illustriert mit 195 meist farbigen Abbildungen, die die Zeichnerin, Grafikerin und Bildhauerin Andrea Büttner zusammengetragen hat. Wem das alles bekannt vorkommt, der täuscht sich nicht. Im Kölner Museum Ludwig hatte Andrea Büttner ihren iconic turn der Kritik der Urteilskraft in einer Ausstellung vom 5. September 2014 bis zum 15. März 2015 gezeigt. Das Buch erschien als Buch zur Ausstellung. Die 1972 in Stuttgart geborene Andrea Büttner hat Kunst - u.a. in Berlin als Meisterschülerin von Dieter Hacker -, Kunstgeschichte und Philosophie studiert. Ihren Abschluss machte sie am Royal College of Art, einer Londoner Universität für Kunst und Design, mit einer Dissertation über "Scham als ästhetisches Gefühl". Seit 2012 ist die Künstlerin Professorin auf Lebenszeit für das Fach Zeichnen an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz. Sie lebt in Frankfurt am Main und London. (Soweit Wikipedia).

Wer ein Buch von Anfang an zu lesen beginnt, ist im Vorteil. In diesem Fall muss man definitiv vor dem Inhaltsverzeichnis beginnen. Dort steht: "Textseiten mit Bildstellen sind am Kopf mit einem Punkt markiert, der genaue Bezug ist mit Zeilenangabe am Fuß der Seite angezeigt. Die Nummerierung der Bildstellen am Rand verweist auf die fortlaufende Zählung der Abbildungen in den Bildstrecken." Der Leser ist beruhigt. Er muss also nicht die Kritik der Urteilskraft von Seite 3 bis 429 lesen, um auf Kants Bilder zu kommen. Er entscheidet sich also für den umgekehrten Weg: Er blättert die Bildteile durch und lässt von ihnen aus sich in den Kantschen Text gleiten.

Bild Nummer 8 ist eine monochrome violette Fläche. Kein Blau von Yves Klein, nichts Erhabenes. Wer in Kants Text nachschlägt, liest: "Dem einen ist die violette Farbe sanft und lieblich, dem anderen tot und erstorben." Andrea Büttner hat sehr gut ausgewählt. Ihr Violett hat nichts Sanftes, Liebliches. Es ist noch nicht einmal erstorben. Es ist tot. So tot wie etwas, das nie lebendig war. Sofort wird einem klar, dass Kant noch in der Zeit vor den synthetischen Farben lebte. Jede der Farben, die damals hergestellt wurden, erschiene uns heute als lebendige Farbe. Was für Kant schien, wäre für uns nur der mittels einer lebendigen Farbe hergestellte Schein des Toten. Woher stammt das Violett, das Andrea Büttner uns in Abbildung 8 zur Verfügung stellt? Der Bildnachweis sagt nichts. Auf Nummer Sieben folgt die Nummer Neun. Die Nummer Acht fehlt. Im Internet finde ich im Angebot von Aduis.at ein violettes Transparentpapier (Bild), das dem gleicht, mit dem Andrea Büttner Kant illustriert. Ich schreibe das, damit der Leser, der das Buch nicht zur Hand hat, weiß, wovon ich spreche.

Außer der Nummer 8 fehlt nur noch der Nummer 148 ein Bildnachweis. Dabei handelt es sich um ein weißes Blatt, auf dem ein schwarzer Kreis zu sehen ist. Schlägt man bei Kant nach, kommt man zur "Analytik der teleologischen Urteilskraft". Der erste Satz lautet: "Alle geometrischen Figuren, die nach einem Prinzip gezeichnet werden, zeigen eine mannigfaltige, oft bewunderte objektive Zweckmäßigkeit, nämlich der Tauglichkeit zur Auflösung vieler Probleme nach einem einzigen Prinzip und wohl auch eines jeden derselben auf unendlich verschiedene Art an sich." Ein paar Zeilen später schreibt Kant: "In einer so einfachen Figur, als der Zirkel ist, liegt der Grund zu einer Auflösung einer Menge von Problemen, deren jedes für sich mancherlei Zurüstung erfordern würde, und die als eine von den unendlich vielen vortrefflichen Eigenschaften dieser Figur sich gleichsam von selbst ergibt."

Spätestens seit der Antike galt die Kreisfigur vielen als ein Abbild der göttlichen Unendlichkeit. So ging man lange - gegen alle Berechnungen - von einer kreisförmigen Bewegung der Himmelskörper aus. Auch Kant, der hier ausschließlich von den geometrischen Qualitäten des Zirkels spricht, kommt eigentümlich ins Vibrieren, wenn er immer wieder die Unendlichkeit der in dieser Figur beschlossenen Möglichkeiten betont. Das Unendliche war schon 1655 von dem englischen Mathematiker Jahn Wallis als eine liegende Acht, also als zwei ineinander verschlungene Kreise dargestellt worden. Aber noch in den scheinbar dürren Worten Kants hallte das Unendliche als ein Attribut Gottes nach.
Andrea Büttner zeigt auch, woran Kant gedacht haben mochte, wenn er über ein "vollkommen regelmäßiges Gesicht" sprach, das meist "nichts sagt, weil es nichts Charakteristisches" enthält. Büttner zeigt uns dazu die Zeichnung eines Frauenkopfes, den der Physiognom Lavater um 1792 als ideal aber charakterlos bezeichnete. Eine verdrießliche Kombination, weil das Ideal das Subjektive ja einschließen soll. Dass es möglich ist, die Kriterien des Idealen zu erfüllen, ohne es zu sein, ist Teufelswerk. Nein, davon ist bei Kant keine Rede.

Gleich die erste Abbildung demonstriert ein anderes Herangehen Büttners an den Text Kants. Sie zeigt, was bei ihm nur eine Metapher ist. In der Vorrede spricht er von dem Stellenwert der Kritik der Urteilskraft in einem umfassenden System der Metaphysik. Das vergleicht er mit einem Gebäude. Die kritische Arbeit bestehe darin, die Fundamente so tief zu legen, dass das Haus nicht mehr sinken, also einstürzen, kann. Büttner zeigt dazu ein Haus, seine Unterkellerung und die die Konstruktion tragenden Streben. Eine Abbildung aus einem Buch "Erste Gründe der bürgerlichen Baukunst", erschienen 1775 in Jena. Wie soll man sich dem Zauber dieser Assoziation entziehen? Systemphilosophie als bürgerliche Baukunst.

Andrea Büttner: Immanuel Kant Kritik der Urteilskraft, Felix Meiner Verlag, 436 Seiten, 195 meist farbige Abbildungen, 38 Euro. (Beim Verlag vergriffen, aber noch zu haben von Buchhandlung Walther König).