Vom Nachttisch geräumt

Warum fehlt mir das treffende Wort?

15.11.2015. Ilse Helbich hat in "Schmelzungen" keine Gewissheiten mitzubringen aus dem Schattenreich ihrer Greisenexistenz. Nur Fragen.
Ilse Helbich war 80 Jahre alt, als ihr erstes Buch erschien. "Schwalbenschrift" war kein Bestseller, aber die Autorin, die bis dahin vor allem für den österreichischen Rundfunk gearbeitet hatte, etablierte sich damit sofort als eine eigene, kräftige Stimme der deutschsprachigen Literatur. Ein großer Erfolg wurde im Jahre 2009 "Das Haus". Helbich schilderte darin, wie sie, schon eine Rentnerin, aus einem alten, zerfallenden Gebäude ihr Haus machte. Ilse Helbich gelang die Belebung eines Gegenstandes. Nicht mittels der Praktiken der Beschwörung, sondern durch genaue Beschreibung. Ihr gerade erschienenes neuestes Buch - die Autorin ist inzwischen 92 Jahre alt - heißt "Schmelzungen". Kein Roman, keine Erzählung, sondern kurze Beobachtungen und Betrachtungen. Ilse Helbich beobachtet sich. Sie beobachtet, wie sie zerfällt, wie die Zeiten, in denen sie ganz über sich, über ihr ganzes Ich verfügt, immer knapper werden. Ilse Helbich ist nahezu blind. Sie diktiert ihre Beobachtungen, lässt sie sich wieder- und wieder vorlesen, korrigiert sie, bis sie zufrieden ist. Präzision ist ihr wichtig, aber auch die kleine Verschiebung, die aus einem Protokollsatz den Satz einer Autorin macht.

Ilse Helbich schreibt: "Als sollte ich zum Ende meines Lebens über das sprechen, was mich, zuerst unbewusst, dann immer bewusster, noch später immer unterirdischer, verborgener, durch mein ganzes Leben beschäftigt hat: Warum fehlt mir das treffende Wort? Das, was sich sowohl als transzendent, als auch ganz materialistisch als das vitale Empfinden meines Lebendigseins festmachen ließe?" Die Antwort, die Ilse Helbich nicht gibt, die ihr Text aber einem nahelegt, ist einfach: Es gibt das treffende Wort nicht. Wenn wir bei Texten das Gefühl haben, da sei es, dann können wir sicher sein, es ist nur da, weil es nur in einer Textwelt steht. Darum ist das im Sinne Helbichs treffende Wort in Gedichten so viel häufiger zu finden als in der Prosa. Ein Gedicht ist desto schöner, je absoluter es ist. Ein Gedicht schafft eine hermetische Welt, in der es möglich wird, nichts als Schönheit zu schaffen. Der Reiz der Prosa dagegen besteht ganz wesentlich darin, dass sie aus sich hinaus in die Wirklichkeit, nicht nur die der Empfindung, sondern in die des wirklichen Lebens verweist. Dass wir Autor und Erzähler verwechseln, ist nicht ein Fehler minderbegabter Leser, sondern genau davon lebt die Erzählung. In ihr kann es keine treffenden Wörter geben. Denn was sie bezeichnen, findet immer sowohl im Text als auch draußen in der Welt statt.

Ilse Helbich beschreibe ihren Zerfall, habe ich gesagt. Es gibt da kaum etwas, das sie auslässt: "Als ich gestern sehr spät und gut ausgeschlafen erwachte, stank das Zimmer, es war ein scheußlicher Geruch, nach alter Katzenpisse vielleicht, und dieser Gestank blieb um mich, als ich aufstand und ins Bad ging. Da kam ich erst darauf, dass ich selbst es war, mein eigener Körper, der so grässlich, abstoßend stank." Im Laufe des Tages wird sie sich womöglich an den Geruch gewöhnen. Sie wird ihren Zerfall nicht mehr riechen. Das Buch besteht ganz wesentlich aus der Schilderung jener Momente, in denen der Körper sich gerade noch beobachten kann.

Ich spreche vom Verfall. Das ist nicht der Gesichtspunkt von Ilse Helbich. Sie spricht von "Verschmelzungen". Also gerade nicht von Auflösung. Sie interessiert sich für den Verfall ihrer Person, ihres Ichs, weil sie den Eindruck hat, dass nicht nur das Gewohnte zerfällt, sondern dass auch etwas Neues entsteht. Das Ich zerfällt nicht nur in tausend Einzelteile, es löst sich nicht nur auf, sondern dieser Prozess ist gleichzeitig der einer Verschmelzung mit etwas anderem. Darüber kann Ilse Helbich nichts sagen. Zumal sie es nicht einfach transzendent meint, sondern sich eine wohl auch materielle neue Identität vorstellt, die nicht die ihrer Person sein wird. Es sind Gedankensplitter, Sätze, die sie jetzt anders aufnimmt, als sie es früher getan hätte. Sie hört im Radio einen Beitrag, in dem es heißt, dem franzöischen Maler Georges Braque sei es nicht um die von ihm dargestellten Gegenstände gegangen, sondern um die Beziehungen zwischen ihnen. Helbich denkt das weiter: "Von woher muss der Blick kommen, um Beziehungen zwischen Personen, von denen losgelöst, als strömenden Energie-Austausch zu begreifen."

Ob das nicht schon ein Blick aus blinden Augen sein muss? Das fragt nicht sie. Das frage ich, wiederum ihren Gedanken weiterspinnend. Sie selbst schreibt: "Meiner schnell abnehmenden Sehkraft, dieser sich ausbreitenden Verdunklung meiner Welt entspricht eine geistige Erblindung. Phänomene wie die augenscheinliche allgemeine Hilflosigkeit, die Resignation, die gerade noch im Zaum gehaltenen Panik-Reaktionen, umgeben mich wie schwarze konturlose Felsmassen in einer sternenlosen Nacht. Ich habe selbst meine Souveränität, sie anschauen zu können, verloren. Verloren erst recht die Zauberkraft, ihre Felsenwucht in handhabbare Modelle zu verwandeln, mit denen sich leicht konstruieren, ja bei einigem Geschick sogar jonglieren ließe. Ein Pferd, das seinen Reiter abgeworfen hat und dahinschießt in panischem Galopp. Oder etwa Schmelzvorgänge? Wie im Tauen aus Festem ein Fließen wird, die scharfen Konturen sich auflösen, wie Unterschiedliches sich eint."

Diese Umkehr vom Verfall zur Verschmelzung, von der panischen Flucht zu einer neuen Ruhe. Ist das nur Einbildung, oder bildet sich etwas Reales von Außen ein in das sich aushöhlende Bewusstsein der schwindenden Person? Ich mag das Fragezeichen hinter Schmelzvorgänge. Ilse Helbich hat keine Gewissheiten mitzubringen aus dem Schattenreich ihrer Greisenexistenz. Nur Fragen. Nicht einmal neue, sondern allen voran die - freilich jetzt deutlich anders als in ihrer Kindheit gestellte - ganz alte: Wer bin ich?

Ilse Helbich: Schmelzungen, Droschl Verlag, Graz 2015, 136 Seiten, 18 Euro