Vom Nachttisch geräumt

Oh Herr, lass' Bryson regnen!

Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann
28.03.2007. "Lassen wir uns nicht einreden, Ibsen wäre altmodisch", wir entkommen ihm eh nicht. Arno Widmann liest Ibsens Dramen, eine Amerikafibel für erwachsene Deutsche von Margret Boveri, Per Olov Enquists Roman über die Pfingstbewegung, "Lewis Reise", Briefe von Peter Hacks, die Benediktusregeln, Foltergemälde von Fernando Botero und "Eine kurze Geschichte von fast allem" - Manna-Ersatz von Bill Bryson.
Melodram und Physik

Die Übersetzung ist unerträglich. Was sollen Zeilen wie diese?

PEER GYNT: Klar doch. Ich verschloss das Loch mit einem Hölzchen obendrein./
Hei; ihr hättet ihn hören sollen, wie er tobte und machte Rummel.
EIN MÄDCHEN: Geil, wa!
PEER GYNT: Er summte und brummte wie eine Hummel.

oder:

AASE: Wie wär ich dazu im Stande,/
ich, mit solchem Schwein zum Sohn?
Muss es mich nicht bitter kränken,/
mich, die Witwe, ohne nichts in ihren Schränken,/
nur zu ernten Schmach statt Lohn?

Heiner Gimmler gilt als großer Ibsen-Übersetzer, er hat bei den wichtigsten deutschsprachigen Bühnen als Dramaturg gearbeitet. Sein Ibsen ist der, den wir hören und sehen, wenn wir uns eine deutsche Aufführung ansehen. Dennoch: mir ist völlig unverständlich, wie diese Peer-Gynt-Übersetzung jemals den Papierkorb ihres Urhebers hat verlassen können. Sie ist ein Verbrechen. Aber sie ist auch ein Beleg dafür, wie unerheblich die Übersetzung für den Erfolg eines Werkes sein kann. So stark mein Impuls auch immer wieder war, das Buch in die Ecke zu werfen und mich anderem zuzuwenden, so sehr hatte mich Ibsen - aber eben doch auch Gimmler - schon nach einer Seite völlig gepackt, als nämlich Peer Gynt seiner Mutter schildert, ihr vorspinnt, wie er auf dem Rücken eines Rentieres über Abgründe jagt, dann einen hinunterspringt, im Wasser landet, auf dem Rücken des Tieres sich festhaltend mit diesem endlich das Ufer erreicht. Das ist Superman in Aktion, erzähltes action movie, und mitten im Sturz in die Tiefe hält der Film an und zeigt uns eine Großaufnahme. Peer Gynt sieht aus der Tiefe ein Rentier entgegenkommen: "Mutter, das war unser eigen Bild, das da aus des Bergsees Schweigen auf zur Wasseroberfläche eilte, mit derselben wilden Fahrt, mit der wir hinunterpfeilten." Das ist schon sehr, sehr gut gemacht, wenn auch nicht geschrieben, jedenfalls nicht im Deutschen, geschrieben im idyllischen Sorrent im Jahre 1867!

Nachts um halb zwei war ich, als Peer Gynt nach Jahren seine Mutter besuchte und ihr nur noch eine Lügengeschichte erzählen konnte, um sie hinüber in den Tod zu geleiten, so ergriffen, dass ich weinte. Nicht eine Träne, nicht zwei, sondern so, dass ich nicht mehr aufhören konnte und erst nach zehn Minuten meinen Platz unter dem Moskitonetz verließ, um zu duschen. Ich machte mich lustig über mich, die Wahrheit aber war, dass ich in dieser Nacht nicht mehr weiterlesen konnte aus Angst, ich entkäme dem Stück überhaupt nicht mehr. Das liegt vielleicht nicht so sehr an Ibsen, sondern an dem Augenblick, in dem er mich erwischt hat. Ich habe meinen Arbeitsplatz gewechselt, um bei meiner 86-jährigen Mutter sein zu können, aber statt sofort zu ihr zu gehen, war ich erst einmal hierher an den indischen Ozean geflogen, um Urlaub zu machen.
Es ist eine Illusion, Literatur habe es vor allem mit der Kunst zu tun, die richtigen Wörter in der richtigen Reihenfolge zu setzen. Dann hätte Gimmler zwischen Ibsen und mich Galaxien gelegt. Es geht in Wahrheit vor allem um Gefühle, um die Bereitschaft, sich auf die Gefühle eines anderen einzulassen. Wozu wir ja selten Lust haben, wenn sonst ein Fremder uns zum Beispiel im Zugabteil mit seiner Geschichte behelligt. Noch seltener vielleicht, wenn es die lieben Nächsten tun. Literatur gelingt es, uns neugierig zu machen auf den anderen und das, was er denkt und fühlt. Es ist wichtig, dass es erfundene Figuren sind, dass wir in aller Ruhe zuschauen können, weil wir nicht gezwungen sind zu handeln. Es besteht keine moralische Verpflichtung zur humanitären Intervention wie bei dem die Hand ausstreckenden Obdachlosen, dem wir ein paar Euro zuwerfen, nur um ihn loszuwerden.

Gerade darum aber, weil wir uns in dieser Welt zwischen den Buchdeckeln so sicher fühlen vor der wirklichen, erwischt uns diese dort manchmal so besonders energisch. Plötzlich aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, aus einer verquasten Übersetzung heraus, werden wir angesprungen, und uns schlägt, was uns fremd und fern vorkam, als unser eigenes Bild entgegen. Es ist viel gegen die Naivität des identifikatorischen Lesens geschrieben worden. Natürlich hat es seine Komik, wenn zwölfjährige Jungen einen Waschlöffel - wer weiß heute noch, was das einmal war? - in die Hand nehmen und Uhlands "Schwäbische Kunde" deklamierend - "und tief noch in des Pferdes Rücken" - auf ein Sofakissen in der elterlichen Dreizimmerwohnung einschlagen, oder wenn sechzigjährige Männer sich bei ihrer Lieblosigkeit ertappt fühlen und statt aufzustehen und den Rückflug zu buchen, sich auch ein wenig wohlig dieser lang entbehrten Anbrandung eines Gefühls hingeben. Aber es sind diese Einschlaglöcher, an denen wir sehen, dass wir leben und wo und wie. Vielleicht gibt es Menschen, die können auf die Ersatzwelten verzichten und holen sich diese Eindrücke ausschließlich im wirklichen Leben. Ich glaube es nicht. Gegen das wirkliche Leben legen wir uns dicke Hornhäute zu, die uns vor ihm und seinen Kränkungen schützen. Literatur ist ein Experiment, bei dem uns winzige, energiegeladene Teilchen von Emotion, von Wahrheit mit solcher Intensität auf Leib, Hirn und Seele geschossen werden, dass sie unsere Panzerungen durchschlagen und wir uns klarer werden können über uns und die Welt.

Henrik Ibsens Stücke sind klassisch gewordene Modelle solcher Versuchsanordnungen. Das ist der Grund, warum wir sie manchmal als zu "durchsichtig" empfinden. Er scheint uns genau an den Stellen treffen zu wollen, an denen wir - nicht zuletzt durch seine Arbeit - uns inzwischen besonders gut verpanzert haben. Aber vielleicht täuschen wir uns. Vielleicht sollten wir ihn mal wieder lesen, statt ihn uns nur vorspielen zu lassen. Die fast 1.300 Seiten seiner im Verlag der Autoren erschienenen "Dramen in einem Band", alle in der Übersetzung von Heiner Gimmler, sind eine gute Gelegenheit dazu. Es gibt bei Ibsen immer wieder den Moment, da man nicht weiterlesen kann, weil man ahnt, jetzt kommt noch eine weitere, noch schlimmere Wendung. Gleichzeitig aber liest man die Stücke gerade darum so begeistert, weil sie noch wirklich Dramen sind. Sie sind dramatisch, auf jeder Seite passiert etwas Neues, noch Schrecklicheres, noch Gemeineres. Keine Misere, die nicht noch getoppt werden könnte.

Das ist der Grund, warum Ibsen so viele Gebildete unter seinen Verächtern hat. Sie verachten die Knalleffekte, die Schauder, die er ihnen über die Rücken jagt. Sie lieben, um einen Namen zu nennen, ja sie lieben Tschechow. Bei ihm stehen die Damen und Herren - es sind Gutsbesitzer, Studenten, Rechtsanwälte, Ärzte wie bei Ibsen - scheinbar ruhig auf der Bühne, und das Schreckliche zeigt sich im Zurückhalten eines Nebensatzes, im Vibrieren einer Stimme, in einem beiläufig beginnenden, dann immer schwerer werdenden Schweigen. Das ist wunderschön und tief verstörend, aber es ist kein Argument gegen Ibsens Brutalität. Die Diskretion ist eine Kunst, die Agitation nicht weniger. Ein Autor wird sich für das eine oder das andere entscheiden müssen. Nein, er wird sich nicht entscheiden können. Es wird ihm nur das eine oder das andere zu tun bleiben. Wir glückliche Leser aber müssen uns nicht entscheiden.

Wenn Rosmer - in "Rosmersholm" aus dem Jahre 1886 -, am Ende gemeinsam mit Rebekkaa ins Meer geht, um so Rosmers darin ertrunkener Ehefrau zu folgen, dann ist das ganz sicher Melodram, also exakt das, wogegen eine über sich selbst unaufgeklärte Moderne Sturm läuft, aber wer richtig liest, der liest die Hysterie darin, die Entschlossenheit eines Autors, nicht nur an die Grenzen zu gehen, sondern darüber hinaus. Es ist eine Versuchsanordnung, die uns unser Verhalten in einer Schärfe vorführt, wie wir sie im Leben fast nie zu sehen bekommen. (Dieser Passus enthielt einige Irrtümer über die Handlung, die wir am 21.1.16 korrigiert, der Perlentaucher)

Der Übersetzer Heiner Gimmler hat die Stücke auch mit Anmerkungen versehen. Er hätte das nicht tun sollen. Rührend ist, wenn er zu "Die Frau vom Meer" schreibt: "Das Stück hängt eng zusammen mit Rosmersholm, bietet aber eine andere, womöglich 'positivere', optimistischere Lösung des Konflikts zwischen Vergangenheit und Gegenwart, indem das Ehepaar Wangel die Ehe fortsetzen will und nicht, wie Rosmer und Rebekka, in den Tod geht. Ob diese Lösung überzeugt, sei dahingestellt." Das melodramatische Ende der Rosmers ist sicher nicht überzeugender als das ja keineswegs in dummes Rosa getauchte Weitermachen der Wangels. Es geht überhaupt nicht um überzeugen. Weder hier noch da. Ibsen probiert aus. Wir sind die mehr oder weniger teilnehmenden Beobachter seiner Experimente. Ibsen ist kein Realist. Ibsen ist Physiker. Er jagt seine Figuren durch die Apparate seines Labors. Ehefrau, Kind, Kollege, Freund, Gesinnungsgenossen, Konkurrenten, Gegner - das sind Menschen, die den Helden deutlich machen, was sie tun, es sind aber auch Geräte, die registrieren, was mit Ideen geschieht, wenn die Massen sie ergreifen.

Ibsen stellt, das erfährt überwältigend, wer einfach ein Stück nach dem anderen liest, immer wieder dieselben Fragen. Wer bin Ich? Wie werde ich Ich? Was ist Freiheit? Was Verantwortung? Was Wahrheit? In allen hier gesammelten Stücken geht es darum. Manchmal scheint es so, als wären Wahrheit, Freiheit, Ich ein und dasselbe und als müssten sie sich nur durchsetzen gegen eine vermiefte, mafiös verklumpte Gesellschaft, dann wieder stellt er sie gegeneinander. Mal ist die Wahrheit auf der Seite des Volkes gegen die "Stützen der Gesellschaft", dann wieder entpuppt sich das Volk als gewalttätigster Feind der Wahrheit. Man wird beobachten, dass Ibsen in den späteren Stücken ganz ablässt von der Vorstellung, es gäbe eine natürliche Verbindung der freien Entfaltung des Einzelnen und der der Gesellschaft. Aber wer bei der Lektüre von "Wenn wir Toten erwachen" aus dem Jahre 1900 zurückblickt auf die 1.300 Seiten, der wird sich erinnern, dass schon Peer Gynt erst zum Volksheld wurde, als das Volk ihn für tot hielt.

Lassen wir uns nicht einreden, Ibsen wäre altmodisch. Keine der Fragen, die Ibsen durch immer neue Konstellationen jagte, ist überholt. Über keine von ihnen haben wir heute eine klarere Vorstellung, als Ibsen sie hatte. Es gibt keinen Grund, uns lustig zu machen über ihn. Wenn wir uns mokieren über die großen Fragen, so tun wir das, weil wir uns nicht trauen, sie zu stellen. Aber wir entkommen ihnen nicht. Wir entkommen Ibsen nicht.

Henrik Ibsen: "Dramen in einem Band". Peer Gynt, Stuetzen der Gesellschaft, Ein Puppenheim (Nora), Gespenster, Ein Volksfeind, Die Wildente, Rosmersholm, Die Frau vom Meer, Hedda Gabler, Baumeister Solness, Klein Eyolf, John Gabriel Borkman, Wenn wir Toten erwachen. Übersetzt und herausgegeben von Heiner Gimmler. Verlag der Autoren, Frankfurt/Main 2006. 1294 Seiten, 44 Euro. ISBN 3886612880.


Eine souveräne Journalistin

Margret Boveri (1900 - 1975) war eine der bekanntesten deutschen Journalistinnen ihrer Zeit. Es ist gut, dass ihre "Amerikafibel" wieder herausgebracht wurde, jenes 1946 erschienene Buch, in dem sie den Deutschen Amerika, die amerikanische Demokratie und die Amerikaner erklärte. Sie war in Deutschland aufgewachsen, kannte aber die andere Seite gut. Sie war nicht nur Tochter einer Amerikanerin, sondern zuletzt auch von 1940 bis 1942 als Korrespondentin der Frankfurter Zeitung in den USA gewesen. Nach Pearl Harbour (7. Dezember 1941) war sie interniert worden und danach ins Reich zurückgekehrt. Ihr Buch ist souverän nicht nur gegenüber den Deutschen, sondern auch gegenüber der Besatzungsmacht.

Die Aufregung, die es bei dieser hervorrief, wäre schwer nachzuvollziehen, böte nicht das Buch selbst schon einige Erklärungen für das ungebrochene Sendungsbewusstsein der USA. Jede Seite dieses Buches macht klüger. Dass eine Nation, die sich als Nation Eingewanderter versteht, als eine Nation also von Menschen, die Zustände, die sie als unerträglich empfanden, verlassen hatten, Deutschen, die dageblieben waren, schon dieses bloße Dableiben als Bejahung des Dritten Reiches auslegte, hat einige Plausibilität. Es geht bei solchen Dingen ja nie um so etwas wie Gründe, sondern stets nur um Emotionen. Man erinnert sich vielleicht daran, wie man mit sechzehn den eigenen Eltern tränenerstickt erklärte: "Ich glaube Euch nicht, dass Ihr dagegen wart. Warum seid Ihr denn geblieben, wenn Ihr nicht dafür wart?" Man hatte sich - noch bevor der Verstand die USA entdeckt hatte - deren Emotion angeeignet. Wie fremd die den Deutschen war, daran erinnert Margret Boveris Buch.

Es erinnert an vielen Stellen an eine längst untergegangene Welt. "Sie haben festgestellt, dass in einer amerikanischen Textilfabrik auf 800 Webstühle nur 14 verschiedene Muster gewebt wurden, während eine Textilfabrik in Lyon auf nur 200 Webstühlen 81 Muster webte, dass also auf 100 amerikanische Webstühle weniger als zwei, auf 100 französische 45 Muster kamen, obwohl Frankreich nur ein Drittel soviel Menschen besitzt, die individuelle Muster fordern können." Inzwischen werden Textilien weder in den USA noch in Europa produziert und hüben wie drüben werden vor allem Jeans getragen. Der bei Margret Boveri als typisch amerikanisch dargestellte Prozess der Standardisierung ist längst um ein Vielfaches gesteigert worden, und er wäre vielleicht ohne anti-aristokratischen Impuls der Amerikaner nicht so erfolgreich in den USA durchgesetzt worden. Inzwischen aber ist deutlich geworden, dass seine finanziellen Vorteile überall auf der Welt durchschlagen.

Am interessantesten sind vielleicht die Stellen, an denen Margret Boveri überzeichnet und uns so dazu treibt, ihr zu widersprechen. Über den Amerikaner sagt sie: "Es fehlt ihm das, was des anderen Fluch ist und wofür wir im Deutschen kein Wort haben: er ist nicht self-conscious. Wörtlich übersetzt heißt self-conscious selbstbewusst, das ist aber bei uns eine Eigenschaft der Überheblichkeit, während self-consciousness im englischen Sinne einem Minderwertigkeitsgefühl entspringt. Das Seiner-selbst-bewusst des self-consious ist das Sich-selbst-im-Weg-stehen, sich aller seiner Fehler und Mängel bewusst sein und im Übermaß dieses 'Selbstbewusstseins' nicht über sich hinweg zum anderen kommen."

Margret Boveri entwickelt diese Gedanken, um sich und uns klarzumachen, woher es kommt, dass Amerikaner so leicht Kontakt zu Fremden pflegen, dass sie auf Unbekannte ohne Scheu zugehen, sich ihnen vorstellen, sie nach ihrem Wohlergehen befragen können. Wer jemals durch die USA gereist ist, kennt das. Er hat es freudig erlebt und die deutsche, ja die europäische Schüchternheit kommt ihm danach völlig verklemmt und ganz und gar überflüssig vor. Dass self-conscious einmal nichts als gehemmt bedeutete, liest man heute freilich einigermaßen verwundert. Man fragt sich auch, ob Margret Boveri wirklich die Realität der psychischen Verfassung der Amerikaner trifft, eines Menschenschlages schließlich, der wie kein anderer - auch schon zu Lebzeiten der Boveri - bereit war, seine Psyche als reparaturbedürftig anzusehen. Es sind ja nicht nur die religiösen Andachten und Exerzitien, von deren Notwendigkeit wohl noch heute die meisten Amerikaner überzeugt sind, sondern auch die Psychoanalyse hat in den USA eine Breitenwirkung entfaltet wie nirgendwo sonst auf der Welt. Von einem Mangel an Minderwertigkeitsgefühl wird man im Ernst wohl doch nicht reden können.

Margret Boveris Buch ist in jeder Zeile anregend. Es ist es, nicht nur, weil Margret Boveri eine kluge Autorin war. Es ist es vor allem, weil sie neugierig war, genau hinsah und es verstand, gerade das Offensichtliche zu befragen. Das wäre von ihr zu lernen.

Margret Boveri: "Amerikafibel für erwachsene Deutsche"
. Ein Versuch, Unverstandes zu erklären. Mit einer Einleitung von Heike B. Görtemaker (2006), einer Rezension von Theodor Heuss (1946) und Fotografien von Margret Boveri. Landtverlag, Berlin 2006. 268 Seiten, 24,90 Euro. ISBN 3938844035.


Religiöser Wahn und Geschäftssinn

Vom islamischen Fundamentalismus ist inzwischen so viel die Rede, dass ein Blick auf den christlichen gut tut. Der schwedische Autor Per Olov Enquist, geboren 1934, hat in seinem Roman "Lewis Reise" die Geschichte einer der erfolgreichsten christlichen Erweckungsbewegungen des vergangenen Jahrhunderts, der Pfingstbewegung, geschildert. Es ist die Geschichte zweier Männer, die religiösen Wahn und Geschäftssinn so glücklich mit einander verbinden, dass die von ihnen gegründete Sekte zu einer Kirche und die zu einem international agierenden Multi wird. Enquist hat die wirkliche Geschichte einer wirklichen geistigen Macht unserer Zeit geschrieben.

Die Namen sind alles Namen wirklicher Personen. Kenner werden wissen, wo Enquists Roman von der Wirklichkeit abweicht. Wir, die ahnungslosen Leser, mussten erst nachschlagen, um zu erfahren, wie wirklichkeitsgetreu dieser Roman ist. Enquist ist in einem kleinen schwedischen Dorf als Kind von Pfingstlern aufgewachsen. Er kennt die Logik der Sektenexistenz. Er kennt den verzweifelten Kampf, die nimmermüde Auseinandersetzung um die wahre Lehre, die wahre Empfindung. Er weiß aber auch, wie Macht- und Gewinnlust sich einmischen in die Schlacht um die Nachfolge Christi. Der Tod wird verachtet. Er ist nichts als der Eintritt ins Reich des Erlösers. Dieses Bewusstsein stärkt die Erwählten. Sie wissen, wie sie einander stärken. Noch als sie längst zu Verfolgern geworden sind, wähnen sie sich verfolgt. Ihre Schwäche ist ihre Stärke. Sie nutzen sie erbarmungslos aus.

Der lange Prozess, Lewis Reise, in dem der Gründer sich wieder entfernt von dem Glauben, der Firma, die er selbst geschaffen hat, ist Enquists Roman. Er nimmt den Leser mit in eine Welt, die er allenfalls aus frühen Bergman-Filmen kennt. Je weiter er aber kommt in dem aufregenden Buch, desto klarer wird ihm, wie nahe dieser christliche Erweckungswahn dem islamischen Radikalismus ist, von dem uns jetzt gesagt wird, er sei uns total fremd. Die Pfingstbewegung hat nicht zu den Waffen gegriffen, sie hat keine Kriege geführt. Aber sie hat mit ähnlicher Rigorisität wie manche islamistischen Gruppen heute auf die Wiedererweckung des rechten Glaubens gesetzt. Sie hat Kleidung und Lebensweise ihrer Mitglieder nicht weniger streng reguliert als radikale Islamisten es machen. Sie war ebenso überzeugt davon, den einzig richtigen Weg zur Seligkeit gefunden zu haben.

Wer Per Olov Enquists Roman "Lewis Reise" liest, wird nicht nur die Geschichte des westlichen 20. Jahrhunderts besser verstehen, sondern auch den islamischen Radikalismus. Der ist nicht mehr nur das ganz Andere, uns völlig Fremde, das Unabendländische. Er rückt uns bedrohlich nahe. Wir begreifen, dass wir solange nicht begreifen können, solange wir nur wegstoßen.

Per Olov Enquist: "Lewis Reise". Roman. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2004. 576 Seiten, 9,90 Euro. ISBN 3596159970.


Schlaukopf für Dumme

Peter Hacks (1928-2003) war gerne virtuos. Er genoss sein Können. Offensichtlich mit geschlossenen Augen. Wer seine Briefe an Schriftstellerkollegen aus den Jahren 1948 bis 2003, also von Thomas Mann bis Horst Tomayer, liest, dem wird schnell klar, dass hier einer schreibt, der alles so genau zu wissen glaubt, dass er sich das Hinsehen sparen kann. Bei der 1959er Kontroverse mit Hans Magnus Enzensberger über dessen Essay-Sammlung "Einzelheiten" war Hacks so ungehalten über dessen Mangel an marxistischem Durchblick, dass er sich zu einer Verteidigungsrede für Stalin aufschwingt und die Blindheit so weit treibt, von einer militärischen Überlegenheit des sozialistischen Lagers zu sprechen.

Der zweite Brief der Sammlung stammt vom 30.10.1951 und richtet sich an Bertolt Brecht. Hacks fragt Brecht, ob er in München bleiben oder besser in die "Ostzone" kommen solle. Brecht antwortet ihm: "Gute Leute sind überall gut." Hacks deutet diesen Rat dahingehend um, dass Peter Hacks so begabt sei, dass selbst die DDR seinem Genie nicht zu schaden imstande sei. So siedeln die Hacks 1955 um in die DDR. Es macht die Schönheit dieses Briefwechsels aus, dass auch Hacks' Antwort an einen jungen Autor überliefert wird, der ihn fragt, ob er in die DDR umziehen solle. Hacks' etwas ausführlicher geratene Antwort vom 30. April 1987 ist ein deutliches Echo der Antwort, die Brecht ihm fast 36 Jahre zuvor gegeben hatte: "Ihre Frage, ob die DDR zu Vaterland zu wählen, ist bis zu einem gewissen Grad beantwortbar. Falls Sie vorhaben, ein großer Dichter zu werden, müssen Sie in die DDR; sie allein stellt Ihnen - auf ihre entsetzliche Weise - die Fragen des Jahrhunderts. Sollte hingegen Ihr Talent darin liegen, Erfolg zu haben und Menschen zu erfreuen - in dem Fall freilich würde ich mir einen solchen Entschluß noch überlegen."

Die Lektüre dieser Briefe ist ein Schnellkurs in deutscher Geschichte der letzten 50 Jahre. Ein sehr ergänzungsbedürftiger, aber außerdem noch ein nur schwer verdaulicher. Was der Herausgeber Rainer Kirsch an den Briefen lobt, dass nämlich jeder von ihnen als ein "wohl geformtes Gebilde" dasteht, erfährt ein weniger positiv voreingenommener Leser als ein entsetzlich selbstgefälliges Posieren. Er liest die Briefe und sieht deren Autor dabei sich wohl- und selbstgefällig im blank geputzten Spiegel seiner Sätze betrachten. Dabei stößt man selten auf etwas Eigenes. Nur der Tonfall, und der wird ganz wesentlich von Häme oder einem Augurengrinsen bestimmt. Wo man einverstanden ist mit dem Autor, da applaudiert man ihm, man bewundert den Scharfsinn, die Formulierungslust, wo man es nicht ist, hat man den Eindruck neben einem durchdrehenden Motor zu stehen.

Hacks ist auf Speed. Er begreift das nicht. Er glaubt, er sei klüger, jedenfalls gewiefter als die anderen. Das Ende der DDR nimmt er sehr persönlich. Da ist nicht mehr von "ihrer entsetzlichen Weise", da ist nur noch von Verrat die Rede. Er ist tief gekränkt. Die Weltgeschichte hat seinem so schnurrig laufenden Triebwerk den Garaus gemacht. Er sieht aber keinen Grund, seinen Motor zu überholen. Er rast weiter mit ihm durch die völlig veränderte Landschaft. Wer störrische alte Esel mag, der wird sich für Hacks erwärmen. Wer allerdings Spaß an einem Verstand hat, der die Wirklichkeit analysiert und verspottet, statt ihr fünfzig Jahre lang nur sein monotones Iah entgegenzuschmettern, den wird Hacks nicht lange langweilen können. Der Briefwechsel macht deutlich: Hacks ist ein Schlaukopf für Besserwisser, also für Dumme.

Peter Hacks: "Verehrter Kollege". Briefe an Schriftsteller. Herausgegeben von Rainer Kirsch, Eulenspiegel Verlag, Berlin 2006. 367 Seiten, 19,90 Euro. ISBN: 3359016394.


Oh Herr, lass' Bryson regnen!

Wenn wir die Arme auf beiden Seiten so weit wie möglich ausstrecken und uns vorstellen, sie stellten die 4,5 Milliarden Jahre da, die unsere Erde existiert, dann nimmt das Präkambrium die Entfernung von den Fingerspitzen einer Hand bis zum Handgelenk der anderen ein. Die gesamte Geschichte der komplexen Lebensformen spielt sich in der zweiten Hand ab, "und die gesamte Menschheitsgeschichte könnte man mit einem einzigen Strich einer Nagelfeile auslöschen".

So plastisch ist man selten über die Nachteile der samstäglichen Kosmetik und über die Randständigkeit der menschlichen Existenz aufgeklärt worden, wie das hier Bill Bryson John McPhee zitierend tut. Oder das: "Ein durchschnittlich großer Erwachsener enthält selbst dann, wenn er sich nicht besonders kräftig fühlt, in seinem bescheidenen Körper eine potenzielle Energie von 7x 10 (hoch 18) Joule, genug, um mit der Gewalt von 30 großen Wasserstoffbomben zu explodieren - vorausgesetzt, man weiß, wie man die Energie freisetzt. In jeder Materie ist in dem gleichen Umfang Energie gefangen. Es gelingt uns nur nicht, sehr gut, sie nutzbar zu machen. Selbst eine Uranbombe - das Energiereichste, das wir bisher hergestellt haben - erzeugt noch nicht einmal ein Prozent der Energie, die wir freisetzen könnten, wenn wir schlauer wären."

So schreibt Bill Bryson in "Eine kurze Geschichte von fast allem". Es gibt das Buch in mehreren Ausgaben. Kaufen Sie die bebilderte! Wenn Sie sich die nicht leisten können, kaufen sie die billigste, zerfledderteste Ausgabe, wenn Sie sich auch die nicht leisten können, gehen Sie in die Stadtbücherei, leihen Sie sich das Buch, denn lesen müssen Sie es! Sie müssen es lesen, nicht weil Sie, wenn Sie es gelesen haben, "fast alles" wissen. Nein, natürlich nicht. Aber während Sie das Buch lesen, spüren Sie, wie ein wenig frei wird von jener Wasserstoffbombenenergie, die in Ihnen gefangen sitzt. Sie verlieren dieses nölige Desinteresse an den meisten Dingen der Welt, das wir von früh an als wesentlichen Indikator für Intelligenz beigebracht bekommen. Brysons Neugierde ist ansteckend wie gute Laune, ja sie macht gute Laune.

Bryson ist kein Wissenschaftler, sondern Journalist. Einer, der wie wohl die meisten von uns, sich bei einem Flug Gedanken darüber machte, dass er so gar nichts weiß, über das, was er da sieht. Nichts über die Sterne, nichts über die Wolken, nichts über die Erde, über das Wasser nichts und nichts über Tiere und Pflanzen. Nichts also über das Universum und nichts übers Atom. Er wollte das ändern. Und so schrieb er dieses Buch, um sich - so weit er kann - klar zu werden über die Welt.

Jeder wird sich an etwas anderes aus dem Buche erinnern. Ich habe zum Beispiel habe noch im Ohr: "Würde man eine Zelle so weit vergrößern, dass Atome ungefähr die Abmessungen von Erbsen haben, wäre die Zelle eine Kugel von rund 800 Metern Durchmesser, die durch ein Gerüst von Tragbalken, Cytoskelett genannt, in Form gehalten wird. In ihrem Inneren würden Millionen und Abermillionen von Gegenständen - manche so groß wie ein Basketball, andere mit den Ausmaßen von Autos - hin und her flitzen wie Gewehrkugeln. Wir könnten nirgendwo stehen, ohne dass wir in jeder Sekunde aus allen Richtungen Tausende von Stößen und Stichen erhielten. Jeder DNA-Strang wird durchschnittlich alle 8,4 Sekunden - 10.000 mal am Tag - angegriffen oder geschädigt."

Wer sich erinnert, mit welcher Faszination die Moderne sich dem Thema Geschwindigkeit widmete und welcher intellektuelle Aufwand nötig war, auch nur die kleine Beschleunigung von einem auf sechzig PS etwa im Roman zu verarbeiten, dem dämmert, wie wenig unsere Anschauung geeignet ist, den Prozessen im Mikrobereich auf die Spur zu kommen.

Genau hier allerdings liegt die zentrale Schwäche des wunderbaren Buches von Bryson: die Ausklammerung der Mathematik. Keine der von ihm beschriebenen wissenschaftlichen Revolutionen der Neuzeit wäre ohne die Entwicklung neuer mathematischer Verfahren möglich gewesen. Die Welt, die er uns zeigt, ist wesentlich eine Welt, die man nicht mehr zeigen, sondern nur noch errechnen kann. Brysons Buch markiert eine Grenze. Ich glaube nicht, dass man ohne Mathematik auch nur einen Millimeter weiter kommen kann, als Bryson uns führt. Das nächste Buch - es wird lange dauern bis es das geben wird -, dass uns das Universum der größten und der kleinsten Dinge aufschließen wird, wird es verstehen müssen, uns ebenso gierig auf die Mathematik zu machen, wie Bryson uns auf die Welt und das Leben gemacht hat.

An noch einer Stelle steht Bryson als ein letzter da. Es wird nach ihm - hoffentlich - nie wieder eine so eurozentrische Wissenschaftsgeschichte geschrieben werden. Am auffälligsten wird es, wo Bryson von den großen botanischen Sammlungen des 19. Jahrhunderts berichtet. Da werden fortwährend Tiere und Pflanzen "entdeckt". An keiner Stelle blickt Bryson hinüber in die chinesischen oder indischen Enzyklopädien, um darauf hin zu weisen, dass die eine oder andere dieser "Entdeckungen" allenfalls eine für Europa war.

Aber dennoch drängt sich bei der Lektüre des Buches ein Gedanke immer wieder auf: Wie wäre es, wir würden unsere Schulbücher in Physik, Chemie und Biologie abschaffen und stattdessen Bryson lesen? Wenn ein Zehntausendstel von dem hängen bliebe, was er schreibt, so wäre der Bryson-Schüler - ich bin versucht, nur wenig übertreibend zu sagen: um Lichtjahre - schlauer als ich es war, als ich nach dreizehn Jahren die Schule verließ. Er wäre es auch deshalb, weil Bryson zeigt, wie Wissen erzeugt und wie Wissen verhindert wurde. Wie viele der umstürzenden Entdeckungen wurden von Außenseitern gemacht! Bryson mag diese den Konsens aufmischenden Exoten. Aber er schreibt auch voller Achtung und Verehrung über Männer wie Edward Crampton, "der 50 Jahre lang, von 1906 bis zu seinem Tode im Jahr 1956, in aller Stille eine polynesische Landschneckengattung namens Partula erforschte. Immer und immer wieder, Jahr für Jahr, vermaß Crampton mit äußerster Genauigkeit - bis auf die achte Stelle nach dem Komma - die Spiralen, Bögen und sanften Biegungen unzähliger Partula-Gehäuse und trug die Ergebnisse in komplizierte, detaillierte Tabellen ein. Hinter einer einzigen Zeile in einem Text von Crampton standen unter Umständen wochenlange Messungen und Berechnungen."

Bryson begeistert, aber er begeistert einen nicht durch Heldenverehrung für Newton, Darwin, Einstein. Er hat Spaß daran, die Schwierigkeiten zu zeigen, ja die Irrtümer, denen auch die Großen erlagen. Das wirkt am Anfang etwas penetrant, aber dann begreift man, wie wichtig es ist, sich klar zu machen, dass Erkenntnis nur so funktioniert: durch die Fehler hindurch. Auch durch die Intrigen und den Machtkampf hindurch, durch Diebstahl und - wenigstens was die Existenz in der scientific community angeht - Mord.

An keiner Stelle lässt Bryson den Eindruck aufkommen, irgend etwas sei ein für alle mal klar. Nein, nein, er löst nicht die wissenschaftliche Erkenntnis in Geschichtchen auf. Er zitiert aber zum Beispiel den Physiker Michio Kaku, der die Auffassung vertritt, Gravitation gebe es als eigenständige Kraft nicht, sie ergebe sich aus der Krümmung der Raumzeit unter dem Gewicht der Massen. Nicht, dass wir das verstehen. Bryson versteht es auch nicht. Aber wir verstehen, dass die Sache so zu sehen - ein sehr atavistischer, ja völlig verkehrter Ausdruck - die Blickrichtung umdreht, das Muster der Erklärung revolutioniert.

Bill Bryson lehrt uns eine begeisterte Skepsis. Nein, nein. Er ist kein Skeptiker, keiner, der prinzipiell zweifelt. Er lehrt uns Begeisterung, und er lehrt uns offen zu sein in und mit dieser, aber auch gegen diese Begeisterung. Bill Bryson begeistert den Leser, weil er ihm klar macht, dass nichts langweilig ist. Langweilig ist allein die Blasiertheit, mit der wir uns viel zu oft, viel zu gerne den Dingen nähern. Eine Haltung, zu der pubertäre Jünglinge besonders neigen. Vielleicht würde an ihnen sogar Bryson scheitern. Aber zu wünschen ist es ihnen nicht.

Wir brauchen kein Manna, wir brauchen Bryson. Das Schönste wäre, es gäbe eine Bryson-Society, wie es eine Bible-Society gibt, die dafür sorgt, dass in fast jedem Hotel-Nachttisch sich ein Neues Testament befindet. Eine Welt, in der "Eine kurze Geschichte von fast allem" von fast allen gelesen würde, wäre - soweit das überhaupt möglich ist - eine bessere Welt. Sie wüsste zum Beispiel nicht nur, sondern sie hätte sich auch klargemacht: "Die Erde wird in jeder Sekunde von 10.000 Billionen Billionen winzigen, fast masselosen Neutrinos heimgesucht (die in ihrer Mehrzahl aus dem nuklearen Schmelztiegel der Sonne stammen). Praktisch alle gehen durch den Planeten und alles, was sich auf ihm befindet, ungehindert hindurch, als würde es nicht existieren, auch durch dich und mich." Oder: "Wir können heute ein Bruchstück aus der genetischen Information eines Menschen in eine defekte Hefezelle hineinflicken, und auf einmal arbeitet die Hefezelle, als wär's ein Stück von ihr. Und in einem sehr realen Sinn ist es das auch."

Bill Bryson: "Eine kurze Geschichte von fast allem". Illustrierte Ausgabe. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Goldmann Verlag, München 2006, 600 Seiten, 39,95 Euro. ISBN: 3442311217. ()


Eine kurze Lektion

Im auf Reprints spezialisierten Marixverlag ist die Benediktus Regel erschienen. Es ist der 1914 erschienene Band aus der "Bibliothek der Kirchenväter", der die für die abendländische Geschichte wichtigsten Ordensregeln enthält. Sie werden dem heiligen Benedikt zugeschrieben. Ich möchte jetzt gar nicht auf diese Regeln - "Der Abt denke immer daran, dass beim furchtbaren Gerichte Gottes sowohl seine Unterweisung als auch der Gehorsam seiner Jünger in Untersuchung gezogen wird" oder "Das Leben eines Mönches sollte eigentlich jeder Zeit den Stempel der Fastenzeit tragen" - eingehen, sondern auf etwas Anderes aufmerksam machen. Man lese zunächst die Einleitung aus dem Jahre 1914. Sie beginnt mit dem Satz "Der heilige Benedikt wurde um 480 in Nursia (heute Norcia) in Umbrien als Sproß einer vornehmen Familie geboren." Wer das vom Verlag der Neuausgabe dankenswerterweise vorangestellte Vorwort von Katharina Greschat gelesen hat, weiß, dass das nicht stimmt, ja dass es mehr als zweifelhaft ist, dass es jemals einen heiligen Benedikt gegeben hat.

Alle Angaben basieren auf einem Text, der 50 Jahre später entstanden sein soll und als dessen Autor die Überlieferung Gregor den Großen nennt. Diese Überlieferung ist zweifelhaft, aber auch der angebliche Gregor selbst schreibt, dass er kaum etwas über den Benedikt wisse, den er als Modell eines wundertätigen heiligen Mannes und großen Ordensgründer vorstellt. Katharina Greschat zeigt, wie sehr die angeblich vom heiligen Benedikt erfundenen Klosterregeln auf früheren beruhen. Wer dieses Vorwort gelesen hat und anschließend in der Einleitung aus dem Jahre 1914 auf den Satz stößt "Was gegen die Echtheit dieser Regel vorgebracht wurde, ist ohne Belang", der erfährt wieder einmal, wie vernünftig es ist, dem Brustton der Überzeugung zu misstrauen.

Nichts von dem, das 1914 noch sicher schien oder doch in der Bibliothek der Kirchenväter als sicheres Wissen vorgetragen wurde, hat, blickt man einigermaßen kritisch in die Überlieferung, Bestand. Der heilige Benedikt hat keine Ordensregel erfunden. Schon darum nicht, weil es ihn nicht gab. Angesichts dieser Lage ist die Akribie sehr erheiternd, mit der die Einleitung die Geschichte einer Originalhandschrift, von der es keine Spur gibt, zwischen 530 und ihrer Vernichtung im Jahre 896 schildert. Die Lektüre ruft einem freilich auch die heftigen Vorwürfe in Erinnerung, die die islamischen Gelehrten seit ein paar Jahren bekommen, weil sie nicht bereit seien, die islamische Überlieferung kritisch zu untersuchen.

Diese Vorwürfe sind berechtigt und es hat viel zu lange gedauert, bis sie erhoben wurden. Noch vor ein paar Jahren fehlte es nicht an westlichen Gelehrten, die diese Art der Traditionspflege zur einzig richtigen erklärten. Eine von ihnen, Annemarie Schimmel, erhielt exakt wegen dieser Haltung der vorbehaltlosen Verbeugung - unter Applaus der führenden Feuilletons der Bundesrepublik - den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Es ist gut, dass man heute vom gelehrten Leser nicht vor allem Respekt, sondern den kritischen Blick verlangt. Man sollte aber nicht so tun, als wäre das christlich-abendländische Tradition. Es ist eine sehr junge Errungenschaft, die gerade gegen diese Tradition erkämpft wurde. Daran erinnert, das lehrt die neue Ausgabe der Benediktusregel.

"Die Benediktusregel". Herausgegeben von Katharina Greschat und Michael Tilly. Marixverlag, Wiesbaden 2006, 208 Seiten, 10 Euro. ISBN 386539065X.


Dicke Schmerzensmänner

Der 1932 im kolumbianischen Medellin geborene Maler Fernando Botero ist berühmt für seine dicken Menschen. Seine Frauen, seine Männer wiegen alle über einhundert Kilo. Sie sind feist. Niemand von ihnen ist fett. Ihr Fleisch schwabbelt an keiner Stelle. Noch die dicksten Brüste recken sich in die Höhe. An keiner Stelle des Fleisches bilden sich weiche Mulden. Alles ist drall und prall. Alles ist rund und kugelt sich. Jeder Schenkel ist fest. Selbst die dick aufgeblasenen Wangen trotzen den Gesetzen der Gravitation. Das gibt den Bildern eine Fröhlichkeit, die Botero zu einem der beliebtesten Maler des ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert machten. Kaum ein Bahnhofskiosk, an dem sich nicht Ansichtskarten mit den Bildern seiner fröhlichen Dicken finden.

Am 28. April 2004 brachte der amerikanische Fernsehsender CBS eine sechzigminütige Sendung über Abu Ghraib. Die Bilder der Videoaufnahmen von US-Soldaten, die irakische Gefangene folterten, sind uns seitdem nicht mehr aus den Köpfen gegangen. Sie sind inzwischen Teil des imaginären Museums des 21. Jahrhunderts.

Fernando Botero hat in den Jahren 2004 und 2005 aus diesen Bildern Gemälde gemacht. Manche von ihnen sind 2 Meter breit. Eines von ihnen zeigt einen Mann mit dem Bauch auf dem Boden liegend, der von einem Hund besprungen wird. Dem Mann sind die Augen verbunden. Der ihn bespringende Hund ist fast so lang wie er, dabei aber deutlich massiger als der ohnehin schon sehr kräftige, am Boden liegende Mann. Der gewaltige Hund ist knallgrün. Das verwandelt ihn vollends in einen Albtraum. Ein Albtraum freilich, der stets als solcher kenntlich bleibt. Kunst macht die Wirklichkeit erträglicher. Boteros mythologisches Urvieh jagt niemandem Angst ein. Es steht uns gegenüber. Wir können der Angst ins Gesicht sehen, sie beobachten. So ist sie keine Angst mehr, die uns ja von Innen sich unterwirft, sondern ein Gegenstand, den wir analysieren können.

Boteros Abu-Ghraib-Bilder aber helfen uns nicht, Abu Ghraib oder gar unsere Angst zu verstehen. Sie sind zu sehr Bilder von Fernando Botero. Er hat seine Figuren nicht geändert. Botero hat seine uns vertrauten fröhlichen Fetten in die Folterkeller geführt. Wir nehmen den dicken Schenkeln den Schmerz nicht ab. Die Striemen auf Rücken und Pos wirken wie Schönheitslinien.

Aber vielleicht liegt das an uns. Schließlich fühlen Dünne den Schmerz nicht weniger als Dicke. Die Tatsache, dass der gotische Schmerzensmann jede Sehne, jeden Muskel zeigt, ist schließlich auch nur eine ästhetische Konvention. Vielleicht bezeugt in Wahrheit Boteros Haltung, seine Figuren, die also, die er seit Jahrzehnten liebt, die wir lieben, in die Folterkammer zu stecken, mehr Empathie mit den Opfern als der Versuch der Idealisierung, dieser hilflose Versuch, den adäquaten Ausdruck zu finden.

Vielleicht zeigen diese Bilder auch nur, dass Botero, selbst wenn es um ihm etwas ganz Anderes geht, nicht ablassen kann von seiner Fixierung auf schwellende, lebenspralle Körper. Es ist diese Ambivalenz, diese von uns Besitz ergreifende Unsicherheit, die Boteros Abu Ghraib-Bilder so interessant macht.

Botero: "Abu Ghraib". Mit einem Aufsatz von David Ebony. Prestel Verlag, München 2006. 109 Seiten, vierfarbige und s/w Abbildungen, 29,95 Euro. ISBN 3791337416. ()