Vom Nachttisch geräumt
Das unrettbare Ich und sein Erlöser
Von Arno Widmann
18.12.2017. Die Frau ist provokant, aber die Auferstehung des Mannes hat noch nicht stattgefunden: Egon Schieles Gemälde.![](https://www.perlentaucher.de/cdata/K2/T13/A10215/schielex.jpg)
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/K2/T13/A10215/s1.jpg)
Egon Schiele, Liegender Frauenakt mit gespreizten Beinen, 1914, Albertina Wien
Aber zurück zu Schiele. Gemma Blackshaw, Professorin für Kunstgeschichte an der Universität Plymouth, eine Spezialistin für Schiele und die Kunst der Wiener Moderne, sieht Schiele nicht ganz so unschuldig. Sie schreibt in ihrem Beitrag "Egon Schieles Passion: Geistigkeit und Sexualität 1912-1915": "In der Gewissheit, dass das Strafgesetz unter anstößigen Bildern nur solche verstand, die öffentlich kursierten, produzierte Schiele für seine Kunden auch weiterhin 'private' Arbeiten auf Papier, die Männer und Frauen beim Geschlechtsverkehr zeigten, aber auch Frauen, die sich selbst oder sich gegenseitig befriedigten. Weit davon entfernt, ihm die Produktion solchen Materials zu verleiden, wirkte Schieles Erfahrung in Neulengbach als ein zusätzlicher Anreiz, provokante Zeichnungen herzustellen, die dem staatlich sanktionierten Gegensatz von Pornografie und Kunst, von Öffentlichem und Privatem, von Erlaubtem und Verbotenem die Stirn boten." In Neulengbach hatte Schiele im April und Mai 1912 vierundzwanzig Tage wegen öffentlicher Verbreitung unsittlicher Bilder in Arrest gesessen. Es handelte sich um die Darstellung eines ganz jungen, nur am Oberkörper bekleideten Mädchens, die er an einer Wand seines Ateliers - also öffentlich zugänglich - aufgehängt hatte. Gemma Blackshaw vertritt die Auffassung, dass es gerade die Grenzüberschreitung war, die seine Bilder für eine bestimmte Käuferschicht interessant machten. Sie war die "Quelle des Nervenkitzels und machte seine Bilder prinzipiell sammelwürdig".
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Egon Schiele, Selbstbildnis, 1916. Albertina Wien
Das ist das eine. Das andere ist Blackshaws neuer Blick auf Schieles ausgemergelte Selbstporträts mit den verdrehten Gliedern, diese Märtyrergestalten. Es sind Schmerzensmänner einer Krise der Männlichkeit. Sie war im Aufruhr des Geschlechterkampfes im Wien jener Jahre eines der zentralen Themen. Der Mann ist der Leidende, seine Glieder werden verrenkt und zerdehnt. Er ist das Opfer. Schieles Selbstbildnisse sind Bilder des "Schmerzensmannes", Christus-Darstellungen. Sie erinnern daran, dass auf die Kreuzigung die Auferstehung folgt. Blackshaw sieht sie darum als Bilder eines Triumphes, den sich der sich mit Schiele identifizierende männliche Betrachter dazu denkt, also als eigene Leistung erfährt. Das wirft ein Licht auf die Begeisterung unter den Intellektuellen angesichts des Ersten Weltkriegs: Viele der selbsternannten Opfer des Jahres 1912, der Taugenichtse der Jahrhundertwende jubelten 1914, als sie Täter werden durften und für kriegstauglich befunden wurden.
Ich darf den Band nicht verlassen, ohne auf "Das unrettbare Ich" - so auch der Titel einer Schiele-Ausstellung im Münchner Lenbach-Haus - hinzuweisen. "Das unrettbare Ich" war ein Aufsatz von Hermann Bahr, der Bezug nahm auf einen Passus in Ernst Machs "Analyse der Empfindungen", in dem der Physiker und Philosoph erklärte, es gebe kein Ich, das sei nur ein Name für ein immer wieder neu sich bildendes Knäuel von Empfindungen. Die Krise der Männlichkeit ist eine Krise des männlichen Ichs. Wir diskutieren das viel zu konzentriert auf Freud. Sie ist Thema bei wohl allen Autoren der Wiener, ja der Moderne überhaupt. Schiele ist nur einer von ihnen. Man sehe sich aber jetzt noch einmal seine Männer- und seine Frauenbilder an. Opfer sind beide. Aber den Frauen winkt nicht die Identifikation mit dem Erlösergott in ihr Schicksal hinein. Die Krise des männlichen Ichs und die Frage nach der Neudefinition der Geschlechterverhältnisse hingen und hängen zusammen mit der Frauenbewegung. Egon Schiele, darin besteht sein Reiz bis heute, ist ein sich windendes Symptom dieses Prozesses. Kein freier, kühler Beobachter. Eine Auferstehung des Mannes hat nicht stattgefunden. Das Ich wurde noch immer nicht gerettet, sondern wird weiter zerlegt.
Egon Schiele: Sämtliche Gemälde 1909-1918, Taschen Verlag, hrsg. Von Tobias G. Natter, mit sechs Aufsätzen, einem reich bebilderten Lebenslauf, 608 Seiten, von mir ungezählten Abbildungen, 150 Euro
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