9punkt - Die Debattenrundschau

Die Schweiz ist kein Kreidestrich

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.06.2018. Die Grünen-Abgeordnete Claudia Roth erklärt in einem Blogpost, wie der Populismus die Demokratie außer Kraft setzen will und wie diese sich wehren sollte. In der NZZ bezweifelt die Philosophin Ursula Renz, dass man Gruppen so etwas wie Identität zuschreiben kann. Emma.de begrüßt einen Appell der "Frauen in Naturwissenschaft und Technik", die Frauen im Iran im Kampf gegen Kopftuch und Rechtlosigkeit zu unterstützen. Und in der Welt verrät Viktor Jerofejew  jetzt schon den Sieger in der Fußball-WM.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.06.2018 finden Sie hier

Europa

Diie AfD versuchte neulich in einer Art Coup eine Schweigeminute im Bundestag für ein ermordetes Mädchen durchzusetzen. Die Grünen-Abgeordnete Claudia Roth präsidierte bei der Sitzung und lehnte das Ansinnen ab, womit ihr durch die AfD die Rolle als böse Mainstream-Politikerin zugeschoben war. In einem persönlichen Papier erklärt Roth auf ihrer Website, das sehr sinnvolle Prozedere, mit dem sie ihre Entscheidung begründet: "Wer .. einen Tagesordnungspunkt, wer auch ein Gedenken anberaumen will, schlägt das den anderen Fraktionen zunächst einmal vor. Gemeinsam wird dann besprochen, ob es angemessen erscheint, des einen Anlasses zu gedenken, eines anderen aber nicht. Das ist eine extrem schwierige Abwägung, die fraktionsübergreifend erfolgen muss, nicht im Alleingang. Entscheiden sich die Fraktionen dafür, wird das Gedenken von der Sitzungsleitung eingeleitet, nicht von einzelnen Abgeordneten."

Der Historiker Gregor Schöllgen findet, dass die Populisten irgendwie recht haben mit ihrer Ablehnung der EU und des Westens und bekommt dafür den Aufmacher des in punkto Debatte heutzutage glücklos agierenden FAZ-Feuilletons: "In ihrer heutigen Verfassung ist die EU, wie die übrigen internationalen Gemeinschaften des Westens, aus der Zeit gefallen. Es sind Anachronismen. Kaum ein Argument, das für die Beibehaltung in ihrer überkommenen Façon mobilisiert wird, sticht heute mehr, auch nicht der Hinweis auf ihren Charakter als 'Wertegemeinschaft'. Das waren die Nato und die EU nur insofern, als sie bis zum Ende des Kalten Krieges eine Alternative zu den totalitären Regimen ihrer Zeit formuliert und diese garantiert haben. Für ihre Mitglieder war das ein Glücksfall. Für andere nicht." Laut Schöllgen müsste sich der Westen (den es seiner Ansicht nach eigentlich schon nicht mehr gibt) "von Grund auf reformieren". Genaueres erfahren wir nicht.

Italien hat eigentlich alles getan, um seine Wettbewerbsfähigkeit in der EU zu steigern. Dass die Italiener damit vorläufig gescheitert sind, hat vor allem mit den Rahmenbedingungen zu tun, meint in der SZ Thomas Steinfeld, der die Kritik an Italien zum Teil niederträchtig findet: "niederträchtig, weil sie sich dem schlichten Gedanken verweigert, dass es, wenn es Gewinner eines Wettbewerbs gibt, auch Verlierer geben muss - und stattdessen den Verlierer dafür schmäht, nicht zu den Gewinnern zu gehören." Auch "war den anderen prospektiven Euro-Staaten keineswegs entgangen, wie flexibel man in Italien mit den Beitrittskriterien umzugehen wusste, und war selber nicht weniger flexibel. Das Interesse, eine Gemeinschaft zu bilden, so groß und mächtig wie möglich, war stärker als der Wille, auf den Kriterien zu beharren - auf Kriterien zudem, die mit einer maximalen Staatsverschuldung von 60 Prozent des BIP und einer Neuverschuldung von höchstens drei Prozent pro Jahr vor allem die deutschen Verhältnisse spiegelten."

Der Sieger der Fußball-WM steht jetzt schon fest, meint der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew in der Welt: Putin. "Als Fan von Mega-Sportevents hat er die ganze Welt dazu gebracht, Fußball in einem Land zu schauen, das ganz und gar ihm gehört. Selbst im Vergleich zu Sowjetzeiten, als unsere Führer zumindest formal gemeinsam mit dem Politbüro regierten, ist Putin ein Alleinherrscher. Und wird es wohl bis zum Ende seiner Tage bleiben."
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Ideen

Die Klagenfurter Philosophie-Professorin Ursula Renz erhebt in der NZZ Einspruch dagegen, das Konzept der Identität auf Gruppen auszudehnen. Schon bei Individuen sei es schwierig, kategorisch festzulegen, wer wie lange mit sich identisch ist. Aber bei Kulturen? "Je komplexer ein Ding, umso mehr gehören auch Prozesse, die Wandel voraussetzen, zu seinen wesentlichen Eigenschaften. Während es zur Identität eines Kreidestrichs mit sich selber gehört, dass er gleich lang bleibt, müssen Bäume wachsen, um sich am Leben zu erhalten und mit sich identisch zu bleiben. Das gilt für Gruppen in erhöhtem Ausmaß, zumal wenn sie heterogen zusammengesetzt sind. Dass vor 150 Jahren der christliche Glaube die Schweiz geprägt hat, mag sein. Doch wer daraus ableitet, dass sie nur weiterexistieren kann, wenn sie christlich bleibt, begeht einen Kategorienfehler. Die Schweiz ist kein Kreidestrich, der keine Veränderungen erträgt."

Michael Butter forscht seit langem über Verschwörungstheorien. Thomas Gesterkamp führt mit ihm in der taz ein instruktives Gespräch über das Phänomen, das Linke wie Rechte betrifft. Interessant ist auch, was Butter übers Internet sagt: "Das Internet hat Verschwörungstheorien nur wieder sichtbarer gemacht und dadurch auch zu einer Zunahme der 'Gläubigen' geführt. Die ist aber nicht so rapide, wie es uns manchmal vorkommt. Verglichen mit der Zeit vor hundert oder zweihundert Jahren, glauben heute sogar eher weniger Menschen an Verschwörungstheorien. Deren Verbreitung reicht allerdings bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein."

Außerdem: In der Literarischen Welt würdigt Hans Ulrich Gumbrecht das "erstaunlich intensive" Ehepaar Assmann, das gerade mit dem Friedenspreis bedacht wurde.
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Politik

Manal al-Sharif wurde bekannt, weil sie in Saudi-Arabien für das Recht der Frauen kämpfte, Auto zu fahren. Heute lebt sie in Australien. Fahren dürfen Frauen in Saudi-Arabien inzwischen - aber gleichzeitig wurden viele Frauenrechtlerinnen festgenommen, klagt sie in der taz: "Diese Frauen wegen Hochverrat anzuklagen ist empörend. Ihr einziges 'Verbrechen' besteht darin, gegen das unmenschliche System der männlichen Vorherrschaft in Saudi-Arabien gekämpft zu haben, gegen die institutionalisierte Diskriminierung, die wir an jedem Tag unseres Lebens erfahren haben. Ihr eigentlicher 'Verrat' besteht darin, ihr Heimatland zu sehr zu lieben. Ich kenne diese Frauen sehr gut. Sie haben die Reformen der vergangenen Monate unterstützt und viel darüber getweetet."

Wenige Frauen, schon gar nicht der Genderfeminismus, solidarisieren sich mit den Frauen im Iran, die nicht nur gegen das Kopftuch, sondern auch für mehr Chancen im Arbeitsleben kämpfen, schreibt Alexandra Eul in emma.de. Nun haben die "Frauen in Naturwissenschaft und Technik" einen Solidaritätsaufruf lanciert: "Die deutsch-iranische Ingenieurin Afsar Soheila Sattari aus dem Vorstand der NUT-Frauen hat die Resolution initiiert. 'Ich bin seit 32 Jahren in Deutschland und erlebe immer wieder, wie oberflächlich das Thema Iran behandelt wird, gerade unter Intellektuellen', sagt sie. Mit der Resolution will Sattari nicht nur auf den Jahrzehnte währenden Protest der Iranerinnen hinweisen - sondern auch ein Umdenken bei westlichen Politikerinnen erwirken. 'Damit sie nicht länger verschleiert in den Iran reisen. Und damit sie endlich die Situation der Frauen zum Thema machen bei ihren Besuchen und einen Wandel fordern', sagt Sattari. Eine der Adressatinnen der FiNuT-Erklärung ist Kanzlerin Merkel." Hier der ganze Appell als pdf-Dokument.

Der Wiener Osteuropa-Historiker Oliver Jens Schmitt warnt in der NZZ davor, Russlands Einfluss zu unterschätzen, der sich nicht mehr auf die rechtsextremen und antieuropäischen Parteien in Europa beschränkt, sonder auch in sozialdemokratische, liberale und konservative Parteien hineinwirkt: "Russland hat, so steht oft zu lesen, außer Gas und militärischer Einschüchterung wenig zu bieten. Diese Feststellung mag bis 2015 zugetroffen haben. Mittlerweile ist sie falsch. Russland besitzt sehr wohl 'soft power': Seine antiwestliche Propaganda verfängt. Hier der moralisch dekadente Westen, entfernt von seinen kulturellen Wurzeln, beherrscht von Genderideologie, überrannt von Migranten aus der islamischen Welt - da Russland als Verteidiger einer christlichen Kultur und traditioneller Familienwerte."
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