Efeu - Die Kulturrundschau

Innere Allgegenwart

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.02.2024. Die taz lernt im Berliner Ensemble, dass die Gehirne von Müttern weniger geachtet werden als ihre Brüste. In Andrew Haighs queerem Zeitreisefilm "All of Us Strangers" muss die Power of Love einiges aushalten, meint die FAZ. Außerdem trauert sie um die Fotografin Helga Paris, in deren Bildern die Enttäuschung über die gebrochenen Versprechen der DDR mitklingt. Der Guardian empfiehlt mit Tomatensoße um sich werfenden Klimaaktivisten einen Strategiewechsel. Die SZ erinnert an die goldenen Jahre des Ethiojazz.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.02.2024 finden Sie hier

Bühne

#Motherfuckinhood - Claude De Demo ©Matthias Horn

Dem Thema Mutterschaft widmen sich Theaterabende in Berlin und Potsdam, wie Katja Kollmann in der taz berichtet. Im Potsdamer Hans Otto Theater hat Anna-Elisabeth Frick für ihr Stück "Mütter!" unter einer drei Meter großen Stoffvagina einen weichen Fantasieraum errichtet. Bei Jorinde Dröses "Motherfuckinhood" am Berliner Ensemble wird es lauter: "Hier kommt zur Erschöpfung, die auch in Potsdam den Grundton vieler Aussagen bildet, die Wut dazu. Und zwar von Anfang an. Claude De Demo betritt in einem total verdreckten Pulli die Bühne und wird laut: 'Ich hätte gerne gewusst, dass die Strukturen meines Gehirns vermutlich für den Rest meines Lebens andere sein werden und dass dieser Umstand mein Denken beeinflusst. Und ich frage mich jetzt, woran es liegt, dass diese Information, die immerhin das komplexeste Organ des menschlichsten Körpers betrifft, gesellschaftlich und medial nicht genauso präsent ist wie Dehnungsstreifen oder Stillbrüste. Sind Gehirne von Menschen, die über einen Uterus verfügen, nicht so wichtig wie beispielsweise Brüste?'"

Orlando - Linn Reusse, Sachiko Hara ©Matthias Horn

In der FAZ ist Irene Bazinger sehr angetan davon, wie am Schauspielhaus Hamburg Virginia Woolfs "Orlando" für die Bühne adaptiert wird. Fünf Schauspielerinnen verkörpern die Titelfigur und die Prosa selbst bleibt weitgehend intakt. Keineswegs resultiert das in ungelenken Textblöcken: "In Jossi Wielers höchst musikalisch verdichteter Inszenierung wird mit der Eleganz des beseelten Minimalismus eine Welt so leicht und unbekümmert wie ein Kinderspiel entworfen. Nur dass es statt der Märchenformel 'Es war einmal' mit Virginia Woolf heißt: 'Orlando liebt von Natur aus einsame Orte, weite Ausblicke und das Gefühl, für alle Zeiten und alle Ewigkeit allein zu sein.' Munter fabulierend und ausschweifend amüsiert werfen sich die Schauspielerinnen die Assoziationen wie Bälle zu. Sie unterbrechen einander und ergänzen die Sätze."

Weitere Artikel: Georg Kasch überlegt sich auf nachtkritik, was das Theater zum Thema AfD und erstarkendem Rechtsextremismus noch zu sagen hätte. In der Welt setzt sich Jakob Hayner mit der in einem offenen Brief laut gewordenen Forderung auseinander, Richard III. solle in Shakespeare-Aufführungen nur noch von Menschen mit Behinderung gespielt werden (siehe auch hier).

Besprochen werden Kornél Mundruczós Inszenierung der Oper "Rusalka" Antonin Dvořáks an der Berliner Staatsoper (SZ), Molières "Tartuffe" im Berliner Renaissance-Theater (Tagesspiegel) und Péter Eötvös' Oper "Valuschka" am Theater Regensburg (Welt).
Archiv: Bühne

Film

Hanns-Georg Rodek hat in der Welt kein Verständnis dafür, dass die Berlinale R.P. Kahls "Die Ermittlung" nicht zeigen will, eine vierstündige, offenbar sehr essayistische Annäherung an die Auschwitz-Prozesse. Der prominent besetzte Film basiert auf dem gleichnamigen Dokumentar-Theaterstück von Peter Weiss, der die Auschwitz-Prozesse beobachtet hatte. Dass Berlinale-Leiter Carlo Chatrian den Film künstlerisch nicht anerkennen will, hält Rodek (der offenlegt, selbst als Statist an den Dreharbeiten beteiligt gewesen zu sein) für wenig nachvollziehbar, auch die Begründung, es gebe bereits Filme zum Holocaust im Programm findet er morsch: Dies lässt sich "auf Basis der bisher bekannten Inhaltsangaben der akzeptierten Filme überprüfen. Da ist Andreas Dresens 'In Liebe, Eure Hilde' (über den deutschen Widerstand, nicht den Holocaust), da ist 'Tage in Terezin' (ein fast 30 Jahre alter Film über das Getto-Kabarett in Theresienstadt), und da ist 'Im Land meiner Eltern' (ein vierzig Jahre alter Film über die Kinder exilierter Juden in Berlin). Das hört sich nicht gerade nach einem Überschuss an Holocaust-Filmen an. Man könnte auf die Idee kommen, die Anzahl der Holocaust-Filme auf der Berlinale mit der Anzahl von Filmen zum Feminismus (nach vorsichtiger Zählung mindestens zehn), zur Selbstermächtigung von Frauen (mindestens zehn), zum Rassismus (mindestens fünf), zum Kolonialismus (mindestens vier) und zu Geflüchteten (mindestens vier) zu vergleichen."

Die Intimität im Pathos der Popkultur: "All of Us Strangers"

Mit seinem queeren Zeitreise-Liebesfilm "All of Us Strangers" ist dem Regisseur Andrew Haigh "vielleicht einer der bewegendsten Filme der jüngeren Zeit" gelungen, schreibt Bert Rebhandl in der FAZ. "Haigh schafft eine innere Allgegenwart, die stark im Zeichen von Trauerarbeit steht - Trauer über eine Sozialisation, die frühzeitig zum Stillstand kam. ... Adam (großartig: Andrew Scott, bekannt aus 'Fleabag') war mit seinem Schicksal eines jungen Homosexuellen in einer feindlichen Umgebung, aber auch in einer explodierenden Popkultur lange Zeit allein. Diese Einsamkeit schöpft 'All of Us Strangers' bis in die tiefsten Dimensionen aus, während sich zugleich schon Auswege eröffnen. ... Die 'Power of Love' muss einiges aushalten. Aber das ändert nichts daran, dass Haigh das Pathos der Popkultur hier auf eine Intimität hin öffnet, wie man sie im Kino nur selten so erleben kann."

Außerdem: Marian Wilhelm empfiehlt im Standard eine Reihe im Filmarchiv Austria zum populären mexikanischen Kino 1940-1970. Besprochen werden Blitz Basawules Neuverfilmung von Alice Walkers Roman "Die Farbe Lila" als Musical (Tsp), Tina Satters Whistleblower-Drama "Reality" (Zeit Online) und Kida Khodr Ramadans neue ARD-Serie "Testo" (NZZ).
Archiv: Film

Literatur

Besprochen werden unter anderem Michael Köhlmeiers "Das Philosophenschiff" (FR, SZ), Mely Kiyaks "Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an" (Standard), Slata Roschals "Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten" (online nachgereicht von der FAZ), Andreas Bährs Biografie über den Jesuiten Athanasius Kircher (Tsp), und Florian Kragls Übersetzung von Elia Levita Bachurs jiddischem Stanzenepos "Bovo d'Antona" aus dem Jahr 1507 (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Kunst

Helga Paris, ©SpreeTom GNU FDL

Die Fotografin Helga Paris ist tot. In der FAZ erinnert Freddy Langer an die Künstlerin, die es bereits in der DDR zu Ansehen gebracht hatte. Die Enttäuschung über die nicht eingelösten Versprechen des sozialistischen Staates hat ihre Arbeit zutiefst geprägt, so Langer: "Dass sie das nicht ungerührt hat lassen können, belegt eine ihrer eindrucksvollsten Fotoserien, die gleich mehrmals ins Zentrum ihrer Retrospektiven gerückt wurde: Selbstporträts aus den Jahren 1981 bis 1989, für die sie in konzentrierter Selbstbefragung jeweils mit starrem Blick in die Kamera schaute, seltsam leer und zugleich von beißender Schärfe. Es war nicht nur, als verbiete sie sich wie schon Jahre zuvor beim Schauen in den Spiegel jegliches Gefühl von Zufriedenheit - vielmehr schien sie sich störrisch jenem Lächeln oder gar Lachen regelrecht zu widersetzen, das besetzt war durch die offiziellen Medien."

Die Attacken der Letzten Generation und anderer Klimaaktivisten auf berühmte Kunstwerke haben sich totgelaufen, moniert Giovanni Aloi im Guardian. Selbst Tomatensoßeangriffe auf die Mona Lisa locken medial kaum noch jemand hinter dem Ofen hervor. Aloi empfielt der Gruppierung, sich an erfolgreicheren aktivistischen Aktionen im Kunstbereich ein Beispiel zu nehmen: "Heutzutage manipulieren aktivistische Gruppierungen die Aufmerksamkeit der Medien, anstatt sich von den Medien in die Ecke drängen zu lassen. Im Jahr 2016 beendeten Anti-Öl-Aktivisten das 26 Jahre währende Sponsoring von BP bei den Tate Gallerien, indem sie eine Reihe hochgradig einfallsreiche Performances, Veranstaltungen und Sit-ins in Tate Modern und Tate Britain organisierten. Nan Goldins Kampagne gegen die in die Pharmaindustrie involvierte Sackler-Familie war ebenfalls außergewöhnlich erfolgreich, mehrere Institutionen haben ihre Verbindungen zur Familie gekappt und den Namen der Sacklers von ihren Ausstellungswänden entfernt. Diese Demonstrationen waren erfolgreich, weil sie fokussiert und spezifisch waren; die Forderungen waren auf die Zielorganisationen abgestimmt und auch auf die jeweiligen ethischen Probleme."

Weitere Artikel: Ingeborg Ruthe schreibt in der FR über das neu eröffnete Otto-Dix-Archiv in der Berliner Akademie der Künste. In Gmunden sorgen Plakate mit kontroversen Motiven, die der Künstler Gottfried Helnwein seit letzter Woche im Rahmen der Salzkammergut-Festwochen im öffentlichen Raum plakatiert, für Aufregung, berichtet Olga Kronsteiger im Standard. Eine weitere Meldung aus Österreich (via Standard): Mann will Marmortisch umwerfen - und scheitert. Besprochen wird Zhao Gangs Ausstellung "China Stories" in der Galerie Nagel Draxler in Berlin (taz).
Archiv: Kunst

Musik

Jonathan Fischer berichtet in der SZ von seiner Reise nach Äthiopien, wo er sich auf Spurensuche nach der Geschichte des (auch dank Erfolgsserien wie "The Bear") wieder populär gewordenen Ethiojazz gemacht hat. Es ist eine Geschichte des Austauschs, der in den Sechzigern begann: "In den Nachtclubs tanzten Jugendliche in Schlaghosen und Miniröcken zu neuartigen Grooves, zahlreiche Bars und Hotels beschäftigten ihre eigenen Bands." Der Militärcoup 1974 trieb die junge Generation ins Ausland. "Mulatu Astatke war während seines Musikstudiums in London jungen Ghanaern und Nigerianern begegnet, die stolz eigene Traditionen in ihre Kompositionen einbrachten. Warum sollte das nicht auch mit äthiopischem Folk funktionieren? Nach Begegnungen mit John Coltrane, Duke Ellington und anderen afroamerikanischen Jazzmusikern in New York reifte seine Idee, die beiden Welten zusammenzubringen. 'New York', erzählte Astatke einmal im Interview, 'war Mitte der 60er-Jahre ein magischer Ort. Ich spielte dort mit Hugh Masekela aus Südafrika und Fela Kuti aus Nigeria. Wir alle hatten ein gemeinsames Anliegen: Afrika in das moderne Konzept von Jazzmusik einzubringen.' Jahrelang pendelte Astatke zwischen Addis und New York. Es ist die Musik dieser goldenen Jahre, die "den heutigen Nachwuchs in Äthiopien prägt." Letzten Sommer erzählte bereits Navid Kermani in der NZZ von seiner Begegnung mit Astatke (unser Resümee), hier außerdem ein Konzert von Astatke von 2021:



Bis zum Sommer 2025 möchte das in Frankfurt ansässige Eliot Quartett alle fünfzehn Streichquartette von Dmitri Schostakowitsch aufführen. Jan Brachmann hat für die FAZ nachgefragt, was es mit dem Projekt auf sich hat. "Es wird für uns wie für die Hörer sicher eine intensive Erfahrung werden, ein ganzes Leben zu durchschreiten", verspricht Maryana Osipova. Und Dmitry Hahalin ergänzt: "Das erste Quartett klingt noch sehr klassizistisch. Einige Stellen wirken auf mich sogar wie Sozialistischer Realismus." Schostakowitsch "schreibt sein Quartett 1938, auf dem Höhepunkt des Großen Terrors unter Stalin. Viele seiner Freunde sind verhaftet oder hingerichtet worden. Er selbst hatte den Vorfall mit dem Prawda-Artikel gegen ihn, 'Chaos statt Musik', gerade zwei Jahre hinter sich. Die Angst, selbst verhaftet zu werden, steckte ihm in den Knochen. Und dann schreibt er so etwas - wie er selbst sagt - 'Frühlingshaftes'. Immer, wenn er wusste, dass die Musik nicht veröffentlicht würde, schreibt er sehr ehrlich."

Außerdem: Jakob Thaler spricht für den Standard mit dem österreichischen Musiker Markus Illko, der mit der tollen Coverversion seiner Band The String Ensemble von Johnny Cashs "Folsom Prison Blues" mit dem Grammy ausgezeichnet wurde. Judith von Sternburg hat für die FR den Geiger Daniel Hope interviewt, der eben sein Album "Dance!" veröffentlicht hat, aber selber gar kein guter Tänzer ist, wie er einräumt. Christian Schachinger freut sich im Standard auf ein Konzert von Charles Hayward. Claudius Seidl (FAZ) und Ueli Bernays (NZZ) gratulieren Dieter Bohlen zum 70. Geburtstag. Andrian Kreye schreibt in der SZ einen Nachruf auf den in Europa eher unbekannten Countrymusiker Toby Keith, dem in den USA insbesondere aus dem trump-nahen Milieu die Herzen zuflogen.

Besprochen werden die aktuelle Ausgabe des Buchmagazins Testcard, die sich dem Phänomen des Rechtspop widmet (taz, mehr dazu bereits hier), Thylacines neues, mit 74 Orchestermusikern aufgenommenes Album (Tsp) und "Golden Days", das neue Album des österreichischen Songwriters Bernhard Eder (Standard).

Archiv: Musik