Efeu - Die Kulturrundschau

Diese präzise kalkulierte Selbstqual

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12.10.2017. Die Feuilletons sind nach dem Buchmessenauftakt ganz verliebt in Emmanuel Macron: Die FAZ möchte gleich nach Frankreich auswandern, nur die NZZ ist auch ein bisschen verknallt in Merkel. Die Berliner Zeitung vermisst den Egon Schiele des 21. Jahrhunderts. In der Zeit erklärt Lars Eidinger, warum er lieber nicht zur Premiere von Alexej Utschitels Film "Mathilde" nach Russland reisen will. Und im Freitag erklärt die Regisseurin Anta Helena Recke, wie sie Whiteness sichtbar machen will.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.10.2017 finden Sie hier

Bühne

Bild: Szene aus L'Invisible. Bernd Uhlig.

Am Wochenende wurde in der Deutschen Oper Aribert Reimanns neue Oper "L'Invisible" uraufgeführt, die - basierend auf drei kurzen Dramen des belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck - den Tod eines Kindes zum Thema hat. In der Zeit ist Volker Hagedorn tief beeindruckt: "Aus der magischen Intimität der Maeterlinckschen Texte wird nicht zuletzt eine Anklage des Verschweigens, des Zögerns und ängstlichen Abwartens. 'Es ist vielleicht Zeit, sich zu wehren', sagt hilflos ein Verbündeter des Jungen. Auch jenes verheerende 'vielleicht' stellt Reimann in seiner Partitur zur Rede, und zwar nicht, indem er es verurteilt, sondern indem er es so genau wie nur irgend möglich zu fassen versucht. Und plötzlich hat dieses Gelähmtsein etwas ziemlich Aktuelles. Dies alles geht einem lange nach." In der NZZ erliegt Eleonore Büning der "suggestiven Kraft der reimannschen Musik".




Bild: Lovis Dengler. Rundfunk-Chor Berlin

Ratlos kehrt FAZ-Kritiker Clemens Haustein von Robert Wilsons "gruftschwarzem" Stück "Luther dancing with the gods" zurück, das sich jenseits "alberner" Mittelalter-Klischees aufreizend wenig für die Person des Reformators interessiere: "Wie sich der bleiche Luther über die ovale Bühne in der Mitte des Saales schleppt - finster ist es immer noch und immerdar - im weißen Totenhemd und von den 'Kindlein' spricht, erinnert er bei Wilson jedoch an einen alt gewordenen Kinderschänder. Bald liegt er offenen Mundes auf der Bahre, eine Design-Fackel brennt zu seinen Häupten, wir haben nicht mehr erfahren, als was jeder Abiturient über den Reformator weiß."

Heute hat Anta Helena Reckes Inszenierung von Josef Bierbichlers Roman "Mittelreich" an den Münchner Kammerspielen Premiere. Recke kopiert Anna-Sophie Mahlers Inszenierung, mit dem Unterschied, dass sie ausnahmslos schwarze Schauspieler und Musiker besetzt hat. Im Freitag-Gespräch mit Matthias Dell erklärt sie warum: "Wie kann ich im Theater die durchschlagende Desillusionierung erfahrbar machen, die man hat, wenn man zum ersten Mal versteht, dass man weiß ist? Wie kann ich etwas sichtbar machen, das so unsichtbar ist wie Whiteness? Wenn Du das, was ist, zeigen willst, musst Du es noch mal herstellen, aber dabei eine Sache verändern: die Abweichung in der Wiederholung. Damit man die Sache selbst sehen kann."

Weiteres: Für die taz berichtet Esther Slevogt vom Berliner ID-Festival, das die Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Institutionen aus Israel und Deutschland fördern will. Besprochen werden der vierte und letzte Band der von Florian Malzacher herausgegebenen Reihe "Performing Urgency" mit dem Titel "Empty Stages, Crowded Flats. Performativity as Curatorial Strategy" (nachtkritik), Peter Kastenmüllers Inszenierung von Bulgagkows "Meister und Margarita" am Zürcher Theater Neumarkt (NZZ), Krzysztof Warlikowskis Inszenierung der Erstfassung von Giuseppe Verdis "Don Carlos" an der Pariser Oper mit Jonas Kaufmann in der Titelrolle und Elina Garanca als Eboli (SZ)
Archiv: Bühne

Literatur

"Was für eine Rede", staunt Jürgen Kaube in der FAZ nach dem Auftakt der Frankfurter Buchmesse mit Emmanuel Macron, in den Kaube sehr verliebt ist. Der Grund: Macrons Eingeständnis, sich erst über Walter Benjamin ein durchdringendes Verständnis von Charles Baudelaire erarbeitet zu haben. "Ist die Frage zulässig, welcher deutsche Politiker imstande wäre, auch nur zu sagen, was Macron damit meinte? ... Wenn ein Staatspräsident eine Buchmesse eröffnet, indem er kein Lippenbekenntnis zu Büchern ablegt, sondern indem er etwas darüber sagt, inwiefern Lesen eine Kulturtechnik ist und was an ihr hängt und warum er an ihr hängt, hat er (...) etwas Ungewöhnliches gemacht. Er hat nämlich zur Sache gesprochen und aus ihr heraus und nicht nur über sie."

So sieht das auch Thomas Steinfeld in der SZ: Es bestehe ein erheblicher Unterschied darin, ob man lediglich "das Buch" lobe oder tatsächlich "über Bücher" spreche. "Das Lob fällt unter die Gesetze der Reklame, insofern es auch schlechte Reklame gibt - Werbung also, die dem Werbenden schadet. Eine Rede über Bücher aber ist ohne Kritik, und das heißt: ohne Bildung nicht zu haben. Emmanuel Macron kennt diesen Unterschied." Sehr angetan von Macrons Aufritt war auch Andreas Fanizadeh in der taz.

Und, ach so, stimmt ja: Bundeskanzlerin Merkel war bei der Eröffnung auch noch da. Roman Bucheli holt die Kanzlerin in der NZZ wieder zurück ins Bild. Gut möglich nämlich, schreibt er, dass sich in Frankfurt "das zukünftige Dream-Team der europäischen Politik" gefunden hat.

Weiteres: Mirna Funk unterhält sich in der Welt mit der israelischen Schriftstellerin Julia Fermentto. Die Schriftstellerin Gila Lustiger erinnert sich im Tagesspiegel daran, wie sie zur französischen Sprache und Literatur fand. Der französische Übersetzer Alain Lance wiederum erinnert sich ebenfalls im Tagesspiegel daran, wie er zur deutschen Sprache gefunden hat. Ijoma Mangold porträtiert in der Zeit den Philosoph und Schriftsteller Tristan Garcia. Marlen Hobrack spricht im Freitag mit Britta Jürgs, die sich mit ihrem AvivA-Verlag auf Bücher von Frauen aus den 20er und 30ern spezialisiert hat. Volker Breidecker von der SZ lässt sich von den Kostbarkeiten der Antiquariatsmesse in Frankfurt verzaubern. In der Zeit versucht Thomas E. Schmidt den Wandel in der Buchkultur an Hanser Verleger Jo Lendle festzumachen.

Besprochen werden Orhan Pamuks "Die rothaarige Frau" (Tagesspiegel), Doron Rabinovicis "Die Außerirdischen" (Berliner Zeitung), Leïla Slimanis mit dem Prix Goncourt ausgezeichneter Roman "Dann schlaf auch du" (Tagesspiegel), Michel Houellebecqs "Schopenhauers Gegenwart" (FR), Édouard Louis' "Im Herzen der Gewalt" (Zeit) und Joseph Andras' Debüt "Die Wunden unserer Brüder" (Tagesspiegel).
Archiv: Literatur

Film

Alexej Utschitels Film "Mathilde" über die Liebschaft zwischen dem letzten russischen Zaren Nikolaus dem Zweiten und der Primaballerina Matilda Kschessinskaja hat in Russland den Unmut der Religiöskonservativen erregt, erzählt Alice Bota im Aufmacher des Zeit-Feuilletons. Die Empörung hat Folgen: In Utschitels Filmstudio "flogen Molotowcocktails; in Jekaterinburg bretterte jemand mit einem mit Gasbehältern beladenen Transporter in das Kino, das 'Mathilde' zeigen wollte; zwei Autos vor der Kanzlei seines Anwalts brannten aus, versehen mit dem Schreiben: 'Brennt für Matilda'." Zahlreiche Kinos nehmen den Film deshalb aus dem Programm. Daneben versichert Hauptdarsteller Lars Eidinger, dass er nicht zur Premiere nach Moskau kommen kann, nachdem er im Netz denunziert wurde: "Ich kämpfe nicht. Das ist mir viel zu gefährlich."

In ihrer Dokumentation "Pre-Crime" befassen sich Matthias Heeder und Monika Hielsche mit der Wirkmacht von Algorithmen, die die Wahrscheinlichkeit von Verbrechen in bestimmten Gegenden vorab errechnen sollen. Für die SZ hat Juliane Liebert mit Heeder über den Film gesprochen. Insbesondere ein junger Schwarzer in Chicago steht im Vordergrund des Films, der "nie ein wirkliches Verbrechen begangen hat", aber dennoch in den Datenbanken als als potenzieller Täter geführt wird. Und das in allererster Linie, weil "sein Freund ermordet wurde, ein halbes Jahr, bevor wir da waren. Das hat ihn in diesem Punktesystem nach oben katapultiert. Und zwar ausschließlich vor dem Hintergrund, dass er mit jemandem befreundet war, der Opfer eines Mordes wurde." Patrick Beuth findet den Film auf ZeitOnline unterdessen zu "einseitig".

Weiteres: Die Feuilletons leisten brav ihren Anteil, um Tom Tykwers, Achim von Borries' und Hendrik Handloegtens Serie "Babylon Berlin", die auf Volker Kutschers im Berlin der 20er spielender Krimireihe basiert, zum Großereignis hochzujazzen. In der FAZ ist heute Andreas Kilb an der Reihe: Nichts weniger als "triumphal" sei die Serie, danach sehe "die Ikonografie des 20. Jahrhunderts im filmischen Medium anders aus". Für die NZZ plaudert René Scheu mit Moritz Bleibtreu. Unter anderem geht es um den Wandel in der Filmförderung: "Die öffentliche Hand will heutzutage Kultur fördern und trotzdem Bares sehen."

Besprochen werden Michael Hanekes Bourgeoisie-Satire "Happy End" (NZZ, taz, Welt), Noah Baumbachs auf Netflix veröffentlichte Komödie "The Meyerowitz Stories" (Tagesspiegel), Ronny Trockers Südtiroler Gebirgshoffilm "Die Einsiedler" (taz), Janus Metz Pedersens Sportlerfilm "Borg/McEnroe" (NZZ), Na Hong-jins Horrorfilm "The Wailing" (taz) und der vom Ersten online gestellte Fernsehfilm "Zuckersand" über eine Kindheit in der DDR (ZeitOnline).
Archiv: Film

Kunst

In der Berliner Zeitung erliegt Ingeborg Ruthe dem von dem Kunsthistoriker Tobias G. Natter herausgegebenen Prachtband mit Sämtlichen Gemälden von Egon Schiele: "Schieles Art, Menschen in ihrer Zeit darzustellen, drängt heute hinein in die Bilder- und Gefühlswelt unseres jungen 21. Jahrhunderts. Dieses hat noch nichts nennenswert Stärkeres entgegenzusetzen, wenn es darum geht, den eigenen Körper als Spielfeld - oder Tatort, je nachdem - zu inszenieren. Diese präzise kalkulierte Selbstqual. Jede Gefühlsregung, von heftiger Verzweiflung bis zur apathischen Melancholie wurde bei ihm Farbe, gebrochene Form oder Linie, Verfall ausströmender Fleck auf der Fläche."

Fasziniert hat sich FAZ-Kritiker Milos Vec die New Yorker Ausstellung "Law's Pictures Books" angesehen, die sich der Bildersprache in der Rechtsliteratur widmet: "Sachlich ist die Auswahl riesig, man findet frühneuzeitliches deutsches Eid- und niederländisches Wasserrecht, ein Genueser Einblattdruck von 1646 belehrt potentielle Messerstecher, welche Waffen genau verboten sind. Die Moderne fügt Luftrecht, Arbeitsrecht und Straßenverkehrsrecht hinzu. Die witzigsten Exponate liefert die Gegenwart. Rechtsliteratur überblendet sich mit Popkultur. Im Osten wie im Westen zeigen Graphic Novels, was Recht ist, der französische Vater wird des Trinkens verwiesen, die Absurdität der iTunes-Klauseln mit SpongeBob (Schwammkopf) ins Lächerliche gezogen."

Besprochen wird außerdem der Bildband "Guy Bourdin - Untouched" (Tagesspiegel)
Archiv: Kunst

Architektur

Neben London, New York und Berlin hat es sogar Herford in den, wie sie findet, "fantastischen" vom Taschen-Verlag herausgebenen Architekturband mit hundert zeitgenössischen Backsteingebäuden geschafft, staunt Barbara Möller in der Welt. Dass Hamburg, trotz seiner Selbststilisierung zum "Lordsiegelbewahrer der Backsteinarchitektur" nicht mal erwähnt wird, freut die Kritikerin mit Blick auf die Hafen City oder den bevorstehenden Abriss der unter Denkmalschutz stehenden 50er-Jahre-Hochhäuser nahe dem Hauptbahnhof besonders: "Das wird die Hamburger nicht davon abhalten, das Areal mit dem bieder-monströsen Backsteinmonster vollzustellen, das man im Modell bereits besichtigen kann."
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Musik

Der Musikwissenschaftler Jakob Knaus stöbert für die NZZ in Schostakowitschs Werken nach eingeschmuggelten Botschaften: Zum zehnten Jahrestag der russischen Revolution versteckte der Komponist in seiner zweiten Sinfonie etwa die "Happy Birthday"-Notenfolge: "Das war ein starkes Stück, in einem Auftragswerk der Propaganda-Abteilung des staatlichen Musikverlags ausgerechnet mit dem 'Markenzeichen' des Klassenfeindes zu gratulieren!"

Aufs Neue sehr ergriffen ist SZ-Kritiker Andrian Kreye von Kamasi Washington, dessen Spiritual Jazz  vor allem auch ein junges Pop-Publikum erreicht. Gerade hat er eine neue EP  veröffentlicht: "Harmony of Difference" ziehe den Hörer erneut in einen "Strudel aus Überwältigung und Euphorie. ... Emotional greift Kamasi Washington einfach schamlos ins Glückszentrum des Musikhörerhirns, das so bereitwillig darauf reagiert, wenn die Reflexe des Kehlkopfes eine menschliche Stimme oder ein stimmähnliches Instrument wie das Saxofon imitieren." Hier ein episches Video aus der neuen EP:



Weiteres: Im Tagesspiegel spricht Frederik Hanssen mit Andrea Zietzschmann, der neuen Intendantin der Berliner Philharmoniker, über ihre Pläne für das Orchester. Besprochen werden das Debüt der R'n'B-Musikerin Kelela (taz), eine Box mit dem Gesamtwerk von Novaks Kapelle (Standard), das neue Wanda-Album "Niente" (Spex) und das Album "Donde estás Maria?" der Meridian Brothers (Standard).
Archiv: Musik