Maluma und Takete

Tradition der zerteilten Körper

Die Kunstkolumne. Von Ulf Erdmann Ziegler
27.03.2015. Wie ein Flugzeugabsturz zum Bild wird, und warum ein "schlechtes Bild" durch ein "gutes Bild" überschrieben wird. Nachdenken über die Bildsprache von Katastrophen.
Eine Semesteraufgabe für Studenten der Visuellen Kommunikation bestand darin, ein Bild zu erstellen, das den Titel "Chaos" tragen sollte. Immerhin war uns, die wir um 1980 Fotografen werden wollten, sofort klar, dass wir das "Chaos" nicht finden würden, nicht auf der Straße, nicht im Supermarkt, nicht auf der Müllhalde. Alles würde immer die Zeichen des Gemachten, einer bestimmten oder unbestimmten, jedenfalls einer Bewegung oder Richtung aufzeigen, von links nach rechts, aus der Mitte heraus oder diagonal. Dennoch probierten wir es mit Schnipseln, Glasscherben, Schottersteinen, Dreck: Wir bauten Stillleben, aber alles nahm, gegen unseren Willen, die gewisse unvermeidliche Ordnung an. Bestand die Lösung der Aufgabe letztlich darin, "ein schlechtes Bild" zu produzieren, also eines, das keinerlei visuelle Ordnung hatte? Aber welches Bild hätte denn keine Ordnung - wirklich keine?

Diese merkwürdige Lektion fiel mir wieder ein, als ich die ersten Luftbilder eines grün-grauen Terrains sah, das zur Mitte hin mit weißen Sprengseln bedeckt war, ein Bild, in dem manche Redaktionen schlicht eine "Absturzstelle", andere bereits die "Trümmer" eines Flugzeugs ausmachten. Es war ein besonderes Bild insofern, als es nachrichtlich kaum etwas taugte. Jeder Bildredakteur hätte ein konkreteres Bild vom gleichen Schauplatz bevorzugt, wenn es zur Verfügung gestanden hätte.

In der Tat, betrachtet man die wenigen Bilder, die innerhalb von Stunden nach dem Germanwings-Unglück veröffentlicht wurden, sticht eine Personengruppe heraus, die im Abmarsch von hinten fotografiert wurde, mit einer etwas voluminösen Figur in einer gelb-grünen Jacke, die die Gruppe mit dem rechten Arm zu schieben scheint, oder auf den zweiten Blick abzuschirmen, zunächst nämlich vor dem Blick des Unglückspaparazzos selbst - am Düsseldorfer Flughafen, wo die Maschine hätte landen sollen. Dieses Bild sagt in der Tat etwas über den Moment, in dem das Schicksal Menschen trennt: In diese, die zurückbleiben (fast alle); während jene in die Höllenkammer der Gewissheit geführt werden, einen Konferenzraum, wahrscheinlich, in dem Psychologen mit sonoren Stimmen versuchen, die Weinenden zu trösten, auch wenn das nicht wirklich möglich sein wird.

Damit könnte man sich als Betrachter, Zuschauer oder Gaffer zurückziehen. Aber im Gegenteil, man sieht die ersten Bilder noch genauer an, weil sie bestätigen, dass dieser Flugzeugabsturz ein Rätsel bleibt, genau so ein Rätsel wie das Verschwinden der MH 370 aus Malaysia, nur dass es von der kein einziges Bild gibt, weder brennend, noch im Sturz oder in der Gestalt schwimmender Wrackteile, einfach gar nichts. Kompletter Laie in Flugtechnik, beginnt man, aus dem Bild in den französischen Alpen seine Schlüsse zu ziehen. Vielleicht musste niemand im Sterben auch noch leiden, denkt man. Stell" dir vor, sage ich, das Ding wäre derartig außer Kontrolle auf eine Ortschaft gestürzt. Das wird aber dann wirklich schrecklich für die Helfer, wenn sie Körper nur noch in Teilen finden, und die Angehörigen müssen sich mit DNA-analysierten Resten ihrer Liebsten abfinden. Und so weiter.

Googelt man den "Flugzeugabsturz" neutral, hat es das neue Foto von den Trümmern nicht in die Bilderleiste geschafft. Die Leiste zeigt vier Fotos unterschiedlicher verunglückter Flugzeuge.



Alle sind Querformate, bleiben also in der Bildtradition des Flugzeugs als legitimerweise ausschließlich horizontalem Objekt. Das erste zeigt ein Flugzeug am Boden mit ausgeklappter Notrutsche, mit vielen Menschen, ein dunkle Gruppe, auf dem Dach. Das zweite ist ein Blick in die ruhige Brandung eines Ozeans - fein gezeichneter Himmel -, in der ein Riesenspielzeug zu liegen scheint, in der Mitte angeknackst. Das dritte ist ein Wrack am Boden, nur in der umgekehrten Richtung des ersten, nämlich mit dem Cockpit nach links. Das vierte zeigt ein Flugzeug, das bei Bodenberührung in Flammen aufgeht. Alle vier sind übrigens Passagierflugzeuge.

Vor zehn Jahren, in der Kunsthalle Bremen, blieb ich wie angewurzelt vor einem Bild stehen, das den Rumpf eines Flugzeugs im Dschungel zeigte. Ganz im Prinzip war ich bereit, mich auf den Maler einzulassen, der nicht mehr jung und vielleicht übersehen worden war, weil sich zwischen den "andeutenden" Malern Gerhard Richter und Luc Tuymans noch keine Rezeptionsnische aufgetan hatte. Jetzt war das Werk des bis dahin übersehenen Malers, Norbert Schwontkowski, in einem großen Überblick zu sehen. Seine Leinwände waren nicht seriell angelegt. Die Motive sprangen von kritzeligen Figuren zu semitransparenten Körpern, je nach Bildidee; man musste also jedes Gemälde einzeln entschlüsseln. Das Flugzeugwrack war eine offene Röhre, wie man sie selten sieht; es sei denn, man guckt in Straßenbaustellen oder dem Klempner über die Schulter. Gewiss war der Maler nicht in den Dschungel gereist, um es nach Modell zu zeichnen. Er hatte wohl eine Fotografie gefunden und diese malerisch in ein memento mori übersetzt. Das Grausen, das einen dabei befiel, war auf befremdliche Weise unpersönlich.

Die Bildleiste von Google ist dem Motiv von Schwontkowski durchaus verwandt. Es geht um Stereotypien von Katastrophen, paradox gesprochen um das, was bleibt. "Öffnet" man das erste der vier Bilder in der Google-Leiste, erweitert sich plötzlich das Format und man sieht jetzt nicht mehr ein halbes, sondern ein ganzes Flugzeug. Es steht auf dem Dach auch keine Menschentraube, sondern die Schwärze hat einen anderen Grund: Es ist ausgebrannt. Auch kommen mit dem Blow-up der Motive Titel dazu: Das Flugzeug in der Brandung stellt "das Wunder von Bali" dar; das vierte Bild, die beim Absturz in Flammen aufgehende Boeing ist ferngesteuert: Sie stürzt tatsächlich ab, aber es handelt sich um ein Experiment des Flugzeugbauers.

Gehe ich also zurück zu dem Bild des Berghangs im französischen Hohe-Alpen-Departement, ahne ich, dass der Crash der German-Wings-Maschine kein memento mori hinterlassen wird; wahrscheinlich nicht. Dies ist eben Chaos. Die bereits tradierte Ikonologie der Flugzeugwracks arbeitet nämlich mit der Vorstellung, dass das Flugzeug einmal ein Ganzes gewesen ist. Etwas davon muss man noch erkennen. Das Narrativ kreist um den Grad der Beschädigung und den Einsatz im Laufe der Katastrophe: Ob und wie viele "ihr Leben lassen mussten" oder "durch ein Wunder gerettet wurden". Die Bilder der Flugzeugwracks geben darüber nicht schlüssig Auskunft, aber das ist auch in der Geschichte der Malerei nicht anders. Wer die zugrunde liegende Erzählung nicht kennt, ist von einem Bild vielleicht fasziniert, mehr aber auch nicht. Das meiste, was mit kollektiven Gefühlen zu tun hat, kommt danach.

Über viele Jahrhunderte war das populäre Motiv der Malerei und der Skulptur die Passion Jesu. Mal schien er zutiefst gepeinigt; ein anderes Mal wie im Tod ermüdet. Er war allein, nackt und ausgesetzt, von grinsenden Folterern umgeben; dann lag er da, Leichnam per Prophezeihung, von seinen Nächsten betrauert. Während die Lehre dazu sagte, dass er für "unsere Sünden gestorben ist", wäre es doch ganz falsch zu behaupten, Passionsbilder würden einen nicht berühren, wenn man mit dem Evangelium nichts oder nichts mehr zu tun habe. Die Intensität des Leidens - also malerisch gesprochen die Stärke der Darstellung - bringt immer die Frage auf, ob das auszuhalten war und ob man das hätte vermeiden können.

Mir scheint, dass das Flugzeugwrack in dieser Tradition steht, in der Tradition der zerteilten Körper, in die man wider Willen blickt. Es ist schwer, nicht zu denken, dass die, die da drin waren, für "uns" gestorben sind. Das aber kann das chaotische Bild nicht ausdrücken, weshalb es sogleich ersetzt wird: die Schüler in Haltern mit ihren Kerzen. Das "schlechte Bild" wird durch ein "gutes Bild" überschrieben.

Ulf Erdmann Ziegler